Samstag, 31. Oktober 2015

Feinsliebchen, du sollst mir nicht barfuß gehn

Gestern und vorgestern hatte ich keine Zeit zum Mittagessen. Nach dem Ende meines Unterrichts um ein Uhr kamen ununterbrochen Studenten in mein Büro, um sich von mir ihre Bewerbungsunterlagen durchsehen zu lassen. Am Montag endet die Frist für das Abschicken der Bewerbung für den Besuch eines zweiwöchigen Sommerkurses an einer deutschen Uni im nächsten Jahr. Die Studenten müssen die Papiere nach Moskau schicken, wo ausgewählt wird. Und natürlich möchte ich, dass möglichst viele Studenten aus Ulan-Ude dabei sind.
Also kaufte ich mir im Foyer des Institutes nur ein paar süße Gebäckstücke, die ich notgedrungen und ganz russisch-untypisch nebenbei kaute, während ich mir Lebensläufe und Motivationsschreiben zeigen ließ. „supermegastar@mail.ru“, Sie sollten sich für offizielle Anliegen eine andere Mailadresse zulegen. Ein charmantes Foto mit halbnacktem Oberkörper, sieht gut aus, aber geht es auch etwas neutraler? Ich möchte gern den Sommerkurs an der Uni Leipzig machen, weil auch Angela Merkel dort studiert hat – das klingt gut, etwas Originalität schadet nicht. Ich habe mich für Berlin entscheiden um damit die Erfahrung zu sammeln bekommen hatte große Aufdrang in Geschichte zu machen – das versteht kein Mensch, den Satz bitte neu schreiben. Ich möchte die Sommerschule SansSouci 2016 in Potsdam besuchen, denn ich interessiere mich für preußische Geschichte und finde die Nähe zur deutschen Hauptstadt sehr attraktiv – genau die gleiche Formulierung habe ich heute schon einmal gelesen, könnten Sie sich bitte etwas Eigenes ausdenken? Das könnte auffallen. In Deutschland ist es üblich, rechts und links nicht nur ein Drittelzentimeter Rand zu lassen, sondern zwei oder drei Zentimeter, bitte neu formatieren. Und auf dem Foto sehen Sie aus wie soeben verhaftet, ein bisschen lächeln könnten Sie schon. Ob es noch Fehler in Ihrem Motivationsschreiben gibt? Ja, gibt es, aber wenn Sie die nicht selber finden, dann lassen wir sie stehen – wenn der Text zu perfekt ist, sieht man sofort, dass nicht Sie ihn geschrieben haben. 

Und so weiter – drei Stunden lang.

Die Studentinnen kommen selten einzeln, sondern meist in Kleingruppen von zwei bis vier Personen. Man kann deutlich spüren, wie sie im Kollektiv denken und handeln. Bei vielen irritiert mich ihre unterwürfige Bravheit, ihr fast eingeschüchtertes Auftreten, ganz anders als deutsche Studierende. Ich bin eine Autorität, und Autoritäten gegenüber verhält man sich so, „hierarchisches Denken“ nennt man das. Im Unterricht nervt mich mitunter die daraus resultierende Passivität. Die Damen tuscheln sich unglaublich leise und schnell untereinander etwas zu, aber jeden lauten deutschen Satz sollte ich ihnen förmlich aus der Nase ziehen. Es fehlt an Selbständigkeit und Selbstvertrauen, und weil niemand ihnen Selbständigkeit zutraut und man sie behandelt wie Kinder, werden sie auch nicht selbständig. Ein Aufenthalt an einer deutschen Uni könnte eine heilsame Schocktherapie sein. Sich selbst zurechtfinden müssen, die richtigen Ansprechpartner suchen, den Mund aufmachen, nicht darauf warten, dass einem jemand hinterherrennt – wer das durchsteht, kommt (hoffentlich) als anderer Mensch zurück.
Etwas weiter sind da schon meine Masterstudenten, mit denen ich im Kurs deutsch-russische Kulturunterschiede und Stereotypen der gegenseitigen Wahrnehmung bespreche. Was hat – aus Sicht der Deutschen – die russische Kultur geprägt? Zum einen der Einfluss Asiens mit dem daraus resultierenden Hang zum Totalitarismus, der Abwesenheit demokratischer Traditionen, der Verehrung von Autoritäten, der großen Geduld. Zum anderen die gigantische Größe und die Ressourcen des Landes und daraus folgend der nachlässige Umgang mit Energie (Regulierung der Zimmertemperatur durch Öffnen des Fensters) und – ein interessanter Zusammenhang – der sich daraus ergebenden Gastfreundschaft: wenn Besuch kommt, dann ist er in vielen Fällen weit gereist, durchfroren und ausgehungert, also muss man sich gut um ihn kümmern. Und – nicht zuletzt – die Prägung durch die russisch-orthodoxe Kirche: Unterwürfigkeit unter das Schicksal, Erdulden von Ungerechtigkeiten, Zweitrangigkeit materieller Werte. Während im Westen die „protestantische Arbeitsmoral“ das Anpacken im Diesseits postuliert, ist in der russischen Tradition Arbeit weniger ein „Wert an sich“: letztlich ist ohnehin alles vergänglich, auf den Seelenzustand kommt es an. Viele weitere spannende Punkte wären zu besprechen – die Gefühlsbetontheit, die Neigung zu Extremen (angespanntes Arbeiten vs. ausgiebige Pausen, passives Erdulden vs. emotionales Explodieren), das Zusammenfließen von persönlicher und beruflicher Sphäre: für Russen ist es merkwürdig, dass „sachlich sein“ (wie übersetzt man das eigentlich?), die Trennung von Kollegium und Freundeskreis in Deutschland eine Tugend ist. Wie kann eine Sache wichtiger sein als ein Mensch? Kollegen sind oft Freunde und umgekehrt, wichtig ist nicht Expertentum, sondern Loyalität und Vertrauen.
Der Lehrstuhl, an dem ich arbeite, heißt „Lehrstuhl für deutsche und französische Sprache“. Die Studenten, die Französisch studieren, sind nicht zu beneiden: ihr Land ist noch weiter weg als Deutschland, dorthin zu kommen ist noch teurer, und es gibt viel weniger Kontakte und Austauschprogramme mit Frankreich als mit Deutschland. Französisch-Muttersprachler tauchen nur selten hier auf. Als ich vor einer Weile eine französische Couchsurferin ans Institut mitbrachte, war das ein großes Ereignis.

Anfang der Woche habe ich mir in einem Musikgeschäft unweit des Opernhauses eine Stimmgabel gekauft, das einzige vorhandene Modell made in Germany. Am Dienstag kam die Stimmgabel erstmalig zum Einsatz bei der ersten Probe des Deutschen Chores, den ich am Institut gegründet habe und mit wöchentlichen Proben leiten möchte.
Ich bin kein Chorprofi, aber ich kann einen Takt schlagen, Einsätze geben und sauber singen, das genügt. Wir sangen im Kanon „Heut kommt der Hans nachhaus“, „Feinsliebchen, du sollst mir nicht barfuß gehen“ und „Hejo, spann den Wagen an“, den 15 Studenten (und zwei Lehrerinnen) hat es wohl genauso viel Spaß gemacht wie mir und ich hoffe, dass nächste Woche zur zweiten Probe alle wiederkommen. Das Projekt „Chor“ liegt mir besonders am Herzen. Ein klein wenig verwirklicht sich für mich auf diese Weise mein Jugendtraum, Dirigent zu werden. 

Montag, 26. Oktober 2015

Gorjátschinsk



Gelegentlich wird darüber geschrieben, dass in Russland Müll in der Natur herumläge. Sicher ist das nicht ganz unwahr, doch warum das Böse erwähnen, wenn es Gutes in Hülle und Fülle gibt? Es überwiegt die reine, grandiose, von Menschen unberührte Natur – gerade auch hier in Sibirien.
Am Wochenende habe ich einen Ausflug nach Gorjatschinsk gemacht. Das Dorf liegt 150 Kilometer nördlich von Ulan-Ude an einer schönen Stelle des Baikalsee-Ufers mit breiten sandigen Stränden, die sich dünenartig aufwerfen und an die sich ein romantisch-wildes Hinterland anschließt mit knorrigen Kiefern, jungen Birken und gelb leuchtenden Lärchen. Hauptattraktion von Gorjatschinsk ist ein Heilbad mit einer über 50 Grad heißen stickstoff-, kieselsäure- und schwefelhaltigen  Quelle. Schon zu Zarenzeiten war das Dorf als Kurort berühmt, vor fast 200 Jahren ließen sich hier einige Dekabristen heilen. Nach zweieinhalb Stunden Marschrutka-Fahrt begab ich mich zuerst zum Herzstück des Heilbades, der Quelle, die in dem klaren, kalten Herbsttag aufgrund des großen Temperaturunterschiedes zur Luft einen geheimnisvollen Nebel verströmte. Ich setzte mich auf einen Stein und steckte meine Füße und Hände in das flache Wasser und den heißen Heilschlamm – herrlich.
Am Ufer des Baikalsees spazierend, baten mich drei vergnügte ältere Damen, sie zu fotografieren. Als sie erfuhren, dass ich noch keine Übernachtung gebucht hatte, nahmen sie mich gleich mit zur diensthabenden Krankenschwester des Heilbades, bei der ich für sehr günstige 250 Rubel ein spartanisches Zimmer in einem der Sanatoriums-Gebäude buchte mit drei Betten - aber ich war dort zum Glück der einzige Gast.
Auf dem Rückweg trampte ich und erlebte eine echte Überraschung: in der Nacht von Samstag auf Sonntag hatte es einen Wettersturz gegeben, und neben der sich bergauf windenden Straße war die Landschaft auf einmal von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Wir fuhren durch einige halb verfallene, heruntergekommene Dörfer. „Dort gibt es nur noch ein paar Rentner, die Jugend ist weggezogen“, erklärte mir die nette junge Frau am Steuer, „es gibt nicht mal einen Bankautomaten. Die Postfrau geht von Tür zu Tür, zahlt die Renten aus und kassiert die Stromgebühren. Sonst passiert nichts.“ In Turuntajewo gerieten wir in eine Polizeikontrolle. Der Polizist warf einen kurzen Blick auf unsere Sommerreifen und bedeutete uns mit seinem Stab, umzukehren, „so kommt ihr hier nicht weiter.“ Es stellte sich heraus, dass der vor uns liegende Pass wegen Glatteis gesperrt ist und wir einen Umweg fahren mussten, verbunden mit einer Fährüberfahrt über den Fluss Selenga. Während der halbstündigen Überfahrt blieb ich trotz Kälte an Deck stehen, bewunderte die nicht hohen, weißen Berge links und rechts und ließ mir den sibirischen Wind in die Knochen blasen: jetzt hat die kalte Jahreszeit begonnen, der Mantel kann weg, Zeit für Daunenjacke, Schal, Mütze und Thermoskanne.
Die dampfende Heilquelle in Gorjatschinsk
Meine Füße im Heilschlamm
Eingang zum "Kurort" (deutsch: Heilbad)
Buddistische Tradition: Fähnchengeschmückter Baum
Dünenartige Uferlandschaft
Der Schal als Symbol burjatischer Gastfreundschaft
...und plötzlich begann das Wintermärchen: Rückfahrt mit der Fähre durch eine Schneelandschaft

Freitag, 23. Oktober 2015

Alltag, Amerikaner und Adolf

7 Uhr – Ich verlasse meine Wohnung und begebe mich zum Institut. Es ist angenehm frisch draußen, keineswegs so kalt, wie es für die Jahreszeit hier üblich ist – so erzählen es mir meine Kollegen am Lehrstuhl. Beschwingten Schrittes lege ich eine knappe Viertelstunde durch die sich langsam lichtende Dämmerung zurück. Im Zentrum, kurz vor dem riesenhaften Leninkopf, komme ich an der „BaikalBank“ vorbei und lese ein neues Plakat, mit dem die Bank um Kunden wirbt: „Die Kraft westlicher Technologien, der Schutz des russischen Helden, die Weisheit des östlichen Volkes“ – aufschlussreich, welche Werte es sind, auf die gebaut wird. Ich bin der erste, der das Institutsgebäude betritt. Der Wachmann ist soeben gerade aufgestanden und kocht sich einen Tee. Ich lasse mir den Schlüssel für meinen Unterrichtsraum geben und steige in den zweiten Stock des vorrevolutionären, ehrwürdigen alten Gebäudes.
8 Uhr – Von 9 Studenten, die auf der Liste stehen, sind zum Unterrichtsbeginn nur Sascha und Katja anwesend. Fünf Minuten später kommt Svetlana hinzu. Ich beginne den Unterricht, ohne enttäuscht zu sein: Gearbeitet wird mit den Leuten, die da sind. Die russische Wirklichkeit hält tausend mir nicht bekannte Gründe bereit, warum ein Student nicht zum Kurs erscheinen kann. Um 8:20 Uhr kommen Natalja und Dascha dazu. Der Kurs macht mir Spaß, die Studentinnen stellen interessierte Fragen. Ich gebe ihnen den Ausdruck eines Bahnfahrplanes von Leipzig nach München und lasse sie herausfinden: Wie oft muss man umsteigen? Wie lange dauert die Fahrt? Sie sehen so etwas zu ersten Mal, es geht mühsam voran.
9:40 Uhr – Zehn Minuten Pause zwischen zwei Doppelstunden sind viel zu wenig, wer sich nur diese Unterrichtszeiten ausgedacht hat? Zu Beginn des nächsten Kurses sitzen auch wieder nur zwei von acht Studentinnen da. Um 9:50 Uhr fange ich mit drei Leuten an. Ksenia, Waleria und die Chinesin Dulugma haben immerhin tatsächlich die Hausaufgabe gemacht, nämlich Stefan Zweigs Novelle „Die unsichtbare Sammlung“ gelesen, in der von mir ausgewählten vereinfachten Fassung. Ich stelle ein paar Fragen dazu, lasse sie ein Stück aus dem Deutschen ins Russische übersetzen. In zwei Wochen sehen wir uns wieder, bis dahin soll die nächste Erzählung gelesen werden.
12 Uhr – Diesmal esse ich nicht wie sonst in der Mensa oder dem Mensa-Café „Masleniza“, sondern zuhause (Buchweizen und Ei), spiele eine Runde Cello und überlege mir, was ich heute Abend mit meinen Masterstudenten mache, mit denen ich zwei Doppelstunden habe. Ich entscheide mich dafür, am Anfang der ersten Doppelstunde kurz das Thema „Flüchtlinge in Deutschland“ anzusprechen.
16:40 Uhr – Die Masterstudentinnen sind überwiegend anwesend, sie sprechen gut Deutsch und man kann sich über interessante Themen mit ihnen unterhalten. Auf das Thema „Flüchtlinge“ springen sie sofort an, wir sprechen über das Thema nicht fünf Minuten, sondern fast neunzig. An der Tafel entwerfe ich eine Tabelle: Soll Europa seine Grenzen öffnen, pro und contra. Ich sammle die Argumente der Studentinnen. „Kulturelle Vielfalt bereichert“, steht auf der Pro-Seite. „Aber die reinrassigen Deutschen sterben doch aus“, soll ich auf die Contra-Seite schreiben. Ich erkläre, dass man von „reinen Deutschen“ eigentlich nicht spricht. Ihr Burjaten mischt euch doch auch mit den Russen, was ist daran so schlimm? „Kulturelle Eigenheiten Deutschlands gehen verloren“, das klingt schon akzeptabler, ich schreibe es an. Arbeitslosigkeit, Fachkräftemangel, Kriminalität, Toleranz, historische Schuld, ich staune über die Diskussionsfreudigkeit der Damen, die Stunde ist schnell herum.
18:00 Uhr – Geplant war das Thema „Dialekte in Deutschland“: Ich wollte Hörbeispiele aus verschiedenen Regionen Deutschlands vorspielen, die Studenten überlegen lassen, woher die Sprecher kommen und Eigenheiten der Dialekte besprechen: viertel vor Sieben oder dreiviertel Sieben, Grüß Gott oder Moin Moin, Semmel, Schrippe oder Brötchen. Leider funktioniert mein Player auf dem Notebook nicht. Deshalb verschiebe ich das Thema auf nächste Woche, greife auf den „Reservestoff“ zurück und diktiere bestimmte, typische deutsche Phrasen, die sich nicht wörtlich übersetzen lassen. Wie umschreibt man auf Russisch „sich einer Herausforderung stellen“, „eigene Vorstellungen hinterfragen“, „ein nachhaltiges Netzwerk aufbauen“, „sich fortbilden“, „studienbegleitend“, „Schlüsselqualifikation“, „Kultur vermitteln“? Es fängt ja schon damit an, dass es im Russischen eigentlich kein wörtliches Äquivalent gibt zu „Termin“ und „sich bewerben“. Wir vergleichen die Übersetzungsvorschläge der Studentinnen mit den Sätzen, die in einer zweisprachigen Broschüre des Goethe-Instituts abgedruckt sind und in denen genau solche Formulierungen vorkommen. – Am Ende des Kurses laden mich die Damen für nächste Woche zum Bowling ein, ich freue mich und sage zu.
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
An meinem "Institut für Philologie und Massenkommunikation" bin ich nicht der einzige Ausländer. Eine US-Amerikanerin arbeitet auch noch bei uns. Sie heißt Carloyn Kremers, kommt aus Alaska und unterrichtet Literatur. Am letzten Wochenende war ich bei ihr zu Gast: eine interessante, kultivierte, sensible ältere Dame, mit der gemeinsam ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Alaska-Karte aus der Nähe studierte, wo sie mir ihren Wohnort Fairbanks zeigte und das Inuit-Dorf, in dem sie lebte und über das sie ein Buch schrieb. Ihr nächstes Buch plant sie über Burjatien. Wir gingen eine Runde in der frischen Abendluft spazieren bis zum Gedenkstein an die Gründung der russischen Kosakenfestung 1666, aus der später die Stadt Ulan-Ude erwuchs. Wenn Carolyn über die anderen Staaten der USA spricht, dann sagt sie, wie es in Alaska üblich ist, the lower fortyeight, „die unteren 48“.
Noch anderen Amerikanern bin ich kürzlich begegnet: zwei Mormonen, höfliche, angenehme junge Leute, wie üblich schick gekleidet mit Krawatte, schwarzem Anzug und dem Buch Mormon unter dem Arm. Der eine von beiden konnte richtig gut Russisch, wie ich es noch nie von einem Ami gehört hatte. Sie luden mich zur Versammlung ihrer Gemeinde ein. Es ist bestimmt ein schwieriges Arbeitsumfeld hier für sie, die russisch-orthodoxe Kirche betreibt eine sehr unversöhnliche Politik in Glaubensfragen und klassifiziert fast alle anderen christlichen Richtungen kompromisslos als gefährliche Sekten.
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Heute war Maxim bei mir zum Tee zu Gast. Genauso, wie ich die Melancholie und Wärme russischer Volkslieder mag, „Abende um Moskau“ und „Schwarze Augen“, begeistert sich Maxim für deutsche Märsche. Er spielte mir auf seinem Handy Schnulzen von Max Rabe und Heino vor, dann „Sieg Heil, Viktoria“ und „Es schlägt Generalmarsch die Trommel, vorwärts mit unserem Rommel, wir sind das deutsche Afrikakorps…“ Mir wurde etwas mulmig zumute. Dann plötzlich ein Stück aus einer Wagner-Oper: „Das hier, Thomas, war die Lieblingsmelodie von Adolf Hitler!“ Ich reagierte etwas verstört. „Naja, ich verehre ihn natürlich nicht, aber es ist doch interessant, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen!“ Finde ich auch, trotzdem bin ich bisher noch nicht auf die Idee gekommen, mir Nazilieder anzuhören. Jeder hat so seine eigenen Zugänge zur Geschichte.

Bankwerbung: "Die Kraft westlicher Technologien, der Schutz des russischen Helden, die Weisheit des östlichen Volkes"
Gedenkstein an die Stadtgründung 1666
 Opernsänger und Freund deutscher Märsche: Maxim zu Gast bei mir zuhause

Mittwoch, 21. Oktober 2015

Müll



An meinem Haus gibt es nicht nur keine Mülltrennung, sondern auch keine Mülltonnen. Um den Abfall wegzubringen, gehe ich zwei Häuserzeilen weiter und werfe ihn in einen der Metallcontainer, die einem Spielplatz gegenüber aufgestellt sind. Manchmal sieht es dort ganz ordentlich aus, und manchmal furchtbar: der Müll liegt nicht in, sondern neben den Containern und wird von Hunden, Krähen und heruntergekommenen Gestalten durchsucht, die sich dort anscheinend noch etwas Brauchbares erhoffen.
Das Zentrum von Ulan-Ude macht insgesamt einen recht sauberen Eindruck. Auf meinem morgendlichen Arbeitsweg sehe ich Reinigungskräfte in orangenen Westen, die mit Reisigbesen die Straße oder den Bordstein fegen. Jogge ich allerdings eine Runde stadtauswärts, dorthin, wo die fünfgeschossigen steinernen Chruschtschovkas kleineren Holzhäusern weichen, komme ich an regelrechten wilden Müllhalden vorbei. Auch nach 10 Jahren Russlandgewöhnung kann ich nicht verstehen: Warum zum Teufel stört die Leute das nicht? Wie kann man nur neben einem ekelhaften Berg von Metallschrott und Plastikabfällen wohnen, vom Wind breitgeweht und von lausigen Kötern zerwühlt? Es muss zu tun haben mit der strikten Trennung von privatem und öffentlichem Raum. Der Privatraum beginnt hinter dem hohen Holzzaun. Der öffentliche Raum davor ist Niemandsland, er interessiert nicht. Im Zentrum nimmt sich die Stadtverwaltung seiner an und macht ihn schick, damit er repräsentativ und vorzeigbar aussieht. Etwas weiter außerhalb hört das Bewusstsein für öffentliche Sauberkeit auf.
Manchmal allerdings sind auch die Zustände hinter dem hohen Holzzaun gruselig. Am letzten Wochenende bin ich mit Maxim zur Datsche gejoggt, die ihm und seiner Mutter gehört, in der Datschensiedlung „Frühling“ auf der anderen Flussseite. In den Holzhäusern mit Gartengrundstück darum wohnt man in der Regel im Sommer, manche Leute auch ganzjährig. Auf dem Hinweg kamen wir an einigen toten Hunden vorbei, die am Rande des staubigen Weges lagen. „So etwas gab es nicht mal im Krieg“, schimpfte ein altes Mütterchen vor sich hin. „Unter der Sowjetmacht war so etwas nicht möglich!“ – „Wahrscheinlich vergiftet“, meinte Maxim und zuckte die Achseln. Er hatte mich schon darauf vorbereitet, dass der Garten seiner Datsche sehr verwildert sei, in den letzten Jahren hatten weder er noch die Mutter Zeit, dort etwas zu tun. Ich freute mich darauf, einen Ort zu finden, um etwas Gartenarbeit machen zu können. Maxim griff durch ein Loch in der Tür, zog einen sich auf der anderen Seite befindlichen Nagel heraus, und wir betraten das Grundstück: ziemlich zugewuchert, zwei Glas-Gewächshäuser, außer der Datsche noch ein Banja-Häuschen, in der Mitte ein Brunnenloch mit mechanischer Pumpe. „Du kannst hier im Garten arbeiten und wohnen, wenn Du willst“, sagte Maxim, „Strom können wir dir noch legen.“ – „Mal sehen“, erwiderte ich, „vorher muss erstmal das alles hier weg“, und wies auf einen verrottenden Sessel, einen schrottigen Kühlschrank, Glasscherben, undefinierbare Metall- und stinkende Polsterteile und weitere nicht beschreibbare gammelige Relikte wahrscheinlich noch aus Vorkriegszeiten, die sich neben dem Eingang auftürmten. „Vielleicht fangen wir gleich mal an?“ Mein Freund fand die Idee nicht schlecht, und so stellten wir einen Teil an den Weg, wo es die angeblich tatsächlich existierende Müllabfuhr mitnehmen sollte. Ich schaute mich weiter um, öffnete die Tür zur Garage und schloss sie gleich wieder, hochgradig angewidert. Maxim verstand meinen Gesichtsausdruck. „Ja, da drin sind auch paar alte Dinge, das machen wir dann das nächste Mal…“
Die russische Bevölkerung hat die regelmäßige Heimsuchung durch Wirtschaftskrisen so im Blut, dass Dinge oft nicht weggeworfen werden - man könnte sie ja noch einmal gebrauchen. Das sehe ich auch bei mir am Institut. Hinter seit Jahren nicht geöffneten Schranktüren türmen sich verstaubte Zeitschriftenjahrgänge aus den 90er Jahren, zehn Jahre alte deutsche Verlagsprospekte und aktuelle Adressverzeichnisse deutscher Unis von 2007. Schlimmer noch finde ich altes landeskundliches Material und Uralt-Wörterbücher, die einem Studenten zuzumuten einfach verboten ist. Manchmal, wenn gerade keiner hinschaut, nehme ich einen Stapel und lasse ihn in der Mülltonne hinter dem Haus verschwinden.
Wenn ich Russen auf das Müllproblem anspreche, schütteln sie in der Regel den Kopf und stimmen mir zu: jaja, das ist schlimm bei uns. Vielleicht ist das Land einfach zu groß, als dass Umweltbewusstsein entstehen konnte. Leider sieht es auch am Baikalsee in der Nähe der Dörfer oft nicht so schön aus. Wenn ein Ort vermüllt ist, dann geht die nächste Feriengruppe 100 Meter weiter, da ist es dann sauber – bevor die Gruppe da war.