Mittwoch, 12. Juni 2019

Die unerreichbare Wand

Eindrücke von einer Reise nach Tadschikistan, Teil 1


Vor mir befindet sich eine Wand. Wenn ich meinen Kopf in den Nacken lege, sehe ich oben den blauen, von weißen Wolken durchzogenen Himmel. Schaue ich nach unten, fällt mein Blick auf einen schmalen, braunen, schnell dahinschäumenden Fluss, der mich von der Wand trennt und dessen manchmal von Vogelgezwitscher übertöntes Rauschen bis zu mir heraufdringt. Oberhalb von mir ist die Wand schwarzbraun und nur gelegentlich von gelbgrünen Tupfern bedeckt, auf Augenhöhe erstreckt sich ein sattgrüner, horizontaler Streifen, darunter lehmiges Gelbbraun, dann das gleich Schwarzbraun wie oben, ganz unten – der Fluss.
Die Wand ist eigentlich keine Wand, sondern ein Hang. Der Hang ist in seiner wechselhaften Steilheit kaum abzuschätzen, irgendwo in Wolkennähe läuft er in kilometerhohen Berggipfeln aus. Das Leben spielt sich in dem schmalen grünen Streifen ab, zwischen schroffem Bergschwarz und reißendem Flussbraun. Bewachsen ist der Streifen mit Granatapfelbäumen, Pistazien und Maulbeeren, zwischen denen sich kleine Lehmhütten erspähen lassen und Zäune aus sorgfältig aufeinandergeschichteten, unregelmäßig geformten Steinen, die kleine Felder unterschiedlicher Gelb- und Grüntöne umschließen. Auf einer Schotterpiste fährt gelegentlich ein Motorrad und spazieren Esel in Begleitung junger Bauern oder in lange, farbige Kleider gehüllte Frauen mit Kopftuch.
Jetzt gerade werden Flussrauschen und Vogelgezwitscher vom durchdringenden Röhren eines Esels übertönt. Neben mir taucht ein junger Mann einen schwarzen Gummischlauch in ein Benzinfass, bückt sich und saugt mit dem Mund an, um das Benzin in ein kleineres Plastikgefäß umzufüllen. Er verzieht kurz das Gesicht, spuckt aus und kippt die Flüssigkeit dann aus dem Gefäß durch einen Trichter in die Einfüllöffnung eines mit großen weißen Säcken schwer beladenen russischen KAMAS-Lastwagens.
„Nimm sie doch mit, die haben viel Geld“, sagt der Benzinansauger zum Fahrer des Lastwagens mit einem Kopfnicken zur Seite in unsere Richtung, nicht ahnend, dass Niso seine Sprache versteht.
„Ich habe auch ohne die schon Übergewicht“, kommt die Antwort, und nach einer Weile sehen wir den KAMAS auf der unbefestigten Piste ohne uns davonrumpeln, sorgfältig entlang des Abgrunds manövrierend, der unsere Seite vom Hang am jenseitigen Flussufer trennt.
Wir betrachten die Wand schon seit drei Stunden. Es ist angenehm kühl, gelegentlich kommt die Sonne hervor, bis Wolken wieder wohltuenden Schatten spenden. Leichter Benzin- und Gummigeruch liegt in der Luft, die kleine Bude neben uns würde wohl eine Art Imbiss sein, wenn nicht gerade Ramadan wäre und tagsüber niemand etwas zu sich nähme. Uns ist zumute, als schauen wir in ein riesiges Schaufenster in eine fremde Welt, in die hier keine Brücke, keine Fähre und kein Boot führen, eine Welt, die wir nur staunend aus der Ferne betrachten können. Manchmal winkt jemand, dann winken wir zurück.
Alle halbe Stunde war bisher ein Auto hinter uns vorbeigekommen, nur leider immer in der falschen Richtung unterwegs. Nun endlich hält ein schwerer Truck, der das gleiche Ziel wie wir zu haben scheint. Der Fahrer springt heraus, erfrischt sich kurz am Wasserschlauch mit klarem Bergwasser und bedeutet uns mit einer knappen Geste, einzusteigen.
Auf in den Pamir! Wir reißen uns los vom Anblick Afghanistans und der Berge des Hindukush, greifen nach unseren Rucksäcken und klettern in die Fahrerkabine.

Eine Viehherde klettert den Hang auf der afghanischen Seite des Grenzflusses Pandzh herauf