Agudsera
Ich bin ein
Liebhaber von Landkarten. In unserem Wohnzimmer hängen gleich vier: russische
Karten vom Baikalsee, von Burjatien und von der Welt, sowie eine
deutschsprachige Europakarte. In Anpassung an den hiesigen Kulturraum habe ich
die Europakarte russifiziert: das ukrainische Hellgrün der Halbinsel Krim mit
russischem Dunkelrot übermalt und den westlichen Zipfel Georgiens umgefärbt, so
dass ein neues Land hinzugekommen ist. Ein Land, sich selbst als unabhängig
betrachtet und von Russland und einer Handvoll kleinerer Länder auch als
eigenständiger Staat anerkannt wird, im Verständnis der übrigen Welt allerdings
zu Georgien gehört.
Dieses auf
meiner Karte kleine Dreieck, nicht größer als Schleswig-Holstein, eingeklemmt
zwischen Russland und dem Schwarzen Meer, bin ich nun gerade dabei zu betreten,
es fehlen noch ein paar Schritte, vor mir in Sichtweite ist schon die Brücke
über den Grenzfluss Psou – aber es gibt eine Verzögerung. Der russische
Grenzbeamte hinter der Glasscheibe meint, zunächst müsse ich noch ein paar
Fragen beantworten und verweist mich an seinen Kollegen, der mich darum bittet,
ihm in ein separates Zimmer zu folgen. Was soll ich ihm sagen, warum ich hier
bin? Weil ich auf den Spuren der Schwarzmeerreise meiner Großeltern von vor
fast 60 Jahren wandle? Weil mich der postsowjetische Raum interessiert, wenig
bereiste Regionen der ehemaligen Sowjetunion auch ohne deutsche Botschaft, zu
denen das Auswärtige Amt deshalb Reisewarnungen ausspricht, weil kein
„konsularischer Schutz“ gewährt werden kann und die von meinen Landsleuten
üblicherweise gemieden werden? Zu kompliziert.
„Warum ausgerechnet
Abchasien?“, fragt mich der russische Beamte und blättert in meinem Pass herum,
skeptisch auf meine armenischen, tadschikischen und kirgisischen Stempel
schielend.
„Meer und Berge,
soll wunderschön sein“, sage ich.
Ein paar Minuten
später bin ich auf der anderen Seite des Flusses. Dort bekomme ich ein
abchasisches Visum als A6-formatiges Zettelchen, das freundlicherweise nicht in
den Pass geklebt wird, wie ansonsten bei Visa üblich: sollte ich künftig noch
nach Georgien reisen wollen, würde mir die Einreise verweigert werden mit der
Begründung, ich sei ohne Genehmigung auf „okkupiertem Gebiet“ gewesen. Statt weiß-blau-roter Flagge nun eine grün-weiß gestreifte mit einer weißen Hand auf
rotem Grund in der oberen rechten Ecke. Der russische Rubel gilt weiterhin,
überall russischsprachige Aushänge und Schilder, und auch die abchasischen
Wörter sind in vertrauten kyrillischen Buchstaben, allerdings mit verschiedenen
Schwänzen und Häkchen. Nur in Googlemaps
stehen die Ortsnamen auf Georgisch, in der Realität gibt es von dieser Sprache
keine Spur. Auch dass die Uhr meines Handys automatisch auf georgische Zeit
umspringt, eine Stunde nach vorn, ist falsch. In der Praxis gilt die Moskauer
Zeitzone.
Nach anderthalb
Stunden Busfahrt bin ich in der Hauptstadt Suchum, wo ich mich per Couchsurfing mit Walerij im Vorort
Agudsera verabredet habe. Walerij ist Russe, fünfundsechzig Jahre alt und
schreibt in seinem Profil, dass er sich mit Fragen der gesunden Lebensführung
beschäftigt. Klingt sehr sympathisch, ein Gastgeber, der nicht raucht und nicht
trinkt, bestimmt geht er auch früh ins Bett und steht früh auf, so wie ich.
Unser vereinbarter Treffpunkt, das Clubhaus, erweist sich als Ruine mit
vernagelten Eingängen. Auch die danebenliegenden Gebäude haben keine Türen und
Fenster und stehen bestimmt schon seit einigen Jahrzehnten leer.
„Ich kann dir
Übungen zeigen, damit du ohne Brille wieder scharf sehen kannst“, begrüßt mich
mein Gastgeber. So ähnlich hatte ich ihn mir auch vorgestellt: hager, muskulös
und kerzengerade. Zu Fuß gehen wir vorbei an dutzenden vom Walde halb
überwucherten Betonruinen, davon solche gigantischen Ausmaßes, die die Bäume
weit überragen, über eine unkrautbewachsene Eisenbahnstrecke und weiter entlang
einzelnstehender Häuser auf sympathischen Gartengrundstücken. Zwei von dreien
stehen leer, die üppige Vegetation ist dabei, sie zurückzuerobern. „Hier
wohnten mal Georgier“, erklärt Walerij. „Als 1992 der Krieg ausbrach, mussten
sie fliehen, sonst hätten die Abchasen sie erschlagen.“ Wir gelangen an den von
Geröllkieseln bedeckten Schwarzmeerstrand und springen kurz in das kühle
Salzwasser, bis wir wieder ins Gestrüpp abbiegen und an einem Grundstück
ankommen, wo sich mein Gastgeber in einem bis vor kurzem noch leerstehenden
Haus provisorisch eingerichtet hat.
Zum Abendessen
gibt es Rote-Beete-Salat und auf meinen Wunsch hin noch warme Linsensuppe.
„Erhitzte Speisen sind eigentlich schädlich für den Organismus“, sagt Walerij,
stellt sich neben den Tisch, nimmt seinen Teller und isst mit einem kleinen
Löffel Salat. Ob es nicht einen Stuhl gäbe?
„Es ist viel
besser, im Stehen zu essen“, sagt Walerij, gibt mir aber doch einen Hocker. Ich
nehme Platz und frage ihn, wie lange er schon in Abchasien lebt und was er hier
macht.
„Wenn ich esse,
bin ich taub und stumm“, kommt die Antwort mit einem russischen Sprichwort,
„während des Essens soll man nicht reden, sondern sich auf die Nahrung
konzentrieren.“
Schweigend essen
wir auf. Ich spüle meinen Teller und Löffel ab. „Wenn du einen großen Löffel
benutzt, verschluckst du Luft, das ist nicht gut für die Verdauung. Man soll
mit einem kleinen Löffel essen“, werde ich belehrt.
Woher er das
alles so genau wisse, frage ich ihn, ob er das von dem Esoteriker Nikolai Roerich
habe, dessen Portrait an seiner Wand hängt?
„Ich habe die
physiologischen und kosmischen Gesetze genau studiert. Du hast sie nicht
studiert. Ich weiß, was gut und richtig ist. Du weißt es nicht. Meine Aufgabe
ist es, die Menschen, denen ich begegne, auf ein höheres Niveau des Wissens zu
heben.“
Die ganze Nacht
gibt es ein nicht verstummendes Konzert aus Froschgequake und Vogelstimmen; um
sechs Uhr morgens ist es schon hell bei zwanzig Grad. Zum Frühstück löffle ich
die Reste der kalten Linsensuppe vom Vortag, wieder sitzend und mit großem
Löffel, während mein Lehrer im Garten arbeitet. Versehentlich verschwende ich
einen Gedanken an verderbliche Zivilisationsdrogen wie Tee oder Kaffee.
Gemütlichkeit will sich nicht einstellen, und ich möchte das Angebot, doch noch
länger zu bleiben, nicht annehmen. Ob er mir empfehlen könne, auf welcher
Straße ich am besten in die Berge gelange von hier aus?
„Du hast einen
Buckel, und dein Körper riecht säuerlich. Schon von sauer und basisch wirkenden
Lebensmitteln gehört? Du ernährst dich falsch. Du könntest so viel von mir
erfahren, was du für dein Leben brauchst. Hast du eine Garantie, nicht krank zu
werden? Nein. Ich habe sie, denn ich kenne die physiologischen und kosmischen
Gesetze. Du gehst den Weg des Leidens. Ich gehe den Weg des Wissens. Auf
Wiedersehen!“
Amtkjal
Der Weg des
Leidens, ob Walerij vielleicht Recht hat? Als nächstes führt mich der Weg des
Leidens in ein kleines Bergdorf namens Amtkjal zwei Fahrtstunden durch das
Kodori-Tal auf einer holprigen, schmalen Straße nach Norden. Wo ich karge,
spartanisch bewachsene Felsen erwarte, erstreckt sich auf den Bergen rundum
üppiger, sattgrüner Wald mit duftenden, weiß blühenden Akazien. Auf einem
schmalen Pfad gelange ich durch einen verwunschenen Wald aus über und über mit
trockenem Moos bedeckten, abgestorbenen Buchsbäumen zu einem Flüsschen vor
einer hunderte Meter hohen Wand, von welcher der schmale Schakuranski-Wasserfall
hinabrieselt. Dort, wo das Wasser unten auftrifft, hat sich ein schwarzer,
baumhoher Kegel aus mineralischen Ablagerungen gebildet, auf dessen oberster
Spitze die Tropfen zerstieben. Wieder ein Froschkonzert und Vogelstimmen, welch
ein Kontrast zum Schweigen der sibirischen Taiga. Unweit daneben eine
horizontal in den Felsen hineinführende Höhle, in der auch nach mehreren
Dutzend Metern kein Ende abzusehen ist. In Abchasien gibt es die weltweit
tiefsten Höhlen überhaupt, über zwei Kilometer sind Speleologen ins Innere der
Erde gestiegen.
In einem der
etwa zwanzig intakten Häuser von Amtkjal quartiere ich mich zur Übernachtung
ein. Hausherr Arschak ist Armenier, seine Vorfahren sind 1915 aus der Türkei
hierher geflohen, um dem, wie es sein Volk heute nennt, vom Osmanischen Reich
organisierten Völkermord zu entkommen. Heute sind die Armenier neben den
Abchasen die größte Volksgruppe im Land. Arschak macht auf mich einen gebildeten
und kultivierten Eindruck, das Grundstück ist sauber und müllfrei, sogar den
Rasen hat er gemäht. Laute Touristen mag er nicht, sagt Arschak, an die
stillen, die er aufnimmt, verkauft er Chatschapur
genannte gefüllte Fladenbrote, selbstgemachte Pfefferminzlimonade mit
Kohlensäure und echten Berghonig. Mir weist er ein Zimmer im weiß getünchten
Steinhaus seines – längst verstorbenen – Großvaters zu. Strom gibt es, aber die
Glühbirne ist kaputt; solange es hell ist, sammle ich dutzende Wanzen von der Gardine
ab in der Hoffnung auf eine ruhige, insektenfreie Nacht.
Spät senkt sich
die Dunkelheit über Amtkjal. Das Grün der Berge verwandelt sich in eine
schwarze Silhouette. „Früher wohnten hier über tausend Leute“, sagt Arschak,
„überall an den Hängen war Licht aus den Häusern, es gab eine Schule, eine
Post. Dann kam der Krieg, die Georgier schossen von der einen Seite der Schlucht,
die Abchasen von der anderen, ich versteckte mich im Haus und fuhr nicht mehr
in die Stadt. Inzwischen hat der Wald das Gelände zurückgeholt. Orthodoxe
Mönche wohnen nebenan, und übrigens haben kürzlich zwei Deutsche ein Haus
bezogen, eine Mutter mit ihrem Sohn. Soll ich dich mit ihnen bekanntmachen?“
Zwei Deutsche in
den abchasischen Bergen? Ungläubig folge ich Arschak zu einem hinter einer
Wegbiegung versteckten Haus. Tatsächlich! Sebastian, ein hagerer, großer Mann
Ende zwanzig, mit hippigen langen Haaren, und seine Mutter Silvana haben über
einen abchasischen Mittelsmann – Ausländer dürfen keine Immobilien kaufen – ein
verfallenes Haus mit Grundstück erworben und möchten hier ein neues Leben
beginnen. Und das ohne Russischkenntnisse, es scheint mir ein mutiger, nun,
auch etwas exzentrischer Entschluss. Die Natur gibt alles her, was man braucht,
Sebastian kann als Programmierer nebenbei Geld per Internet verdienen – vorher
will er noch ein Mobilfunk-Relais auf einen der benachbarten Berge setzen,
damit die Netzqualität ordentlich wird –, und Silvana, gelernte Psychologin,
träumt von einem Kulturzentrum und möchte ihr Klavier aus Deutschland
hierherholen. Sie ist Anhängerin des russischen Wunderheilers Gribovoj und wird
sich mithilfe seiner Methode die ihr fehlenden Schneidezähne materialisieren
lassen.
Es riecht ein
wenig schimmlig in Arschaks großväterlichem Haus; die vertriebenen Wanzen
gelangen über unbekannte Ritzen wieder ins Zimmer und hindern mich, über meine
Hand krabbelnd, am Einschlafen. Ich lege mich in meinem dünnen Sommerschlafsack
draußen auf die Terrasse, zum Glück ist es nicht kalt. Unter dem Dach rascheln
nistende Schwalben oder heraufgekletterte Ratten, eine Hornisse summt mich in
den Schlaf.
Am nächsten
Morgen holpere ich im russischen UASik-Geländewagen
mit dem Hausherren nach unten in die Stadt. „Diese Straße ist das Gesicht der
Regierung“, sagt Arschak wütend. „Zu Sowjetzeiten war hier glatter Asphalt.
Seitdem zerfällt alles. Für die Landbevölkerung wird nichts gemacht, man hat
uns auf den Dörfern vergessen.“ Während die nächtliche Kühle der Vormittagshitze
weicht, schwärmt er von der alten, untergegangenen arischen Zivilisation und
erläutert mir die heutige geheime Weltherrschaft der Juden. Unten angekommen,
bedanke ich mich – vor allem auch für den leckeren Honig – und werde
eingeladen, im Spätsommer zur Haselnussernte wiederzukommen. Wer mithilft,
dürfe auch kostenlos im großväterlichen Haus wohnen. Ob mit oder ohne Wanzen,
wird sich dann sicherlich zeigen.
Suchum
Auf westlichen
Karten heißt die abchasische Hauptstadt Suchumi. Die Endung -i ist die
georgische Aussprachevariante. Seit dem bis September 1993 währenden, ein Jahr
dauernden Krieg, im Zuge dessen die Hälfte der damals eine halbe Million
Einwohner das Land verlassen haben (unter anderem fast alle Georgier), wurde
das öffentliche Leben gründlich ent-georgisiert. Wenn man genau hinschaut, kann
man an der Ruine des einst stolzen Bahnhofs mit Sowjet-Stern auf der
Turmspitze, auf dessen erster Etage inzwischen Bäume wachsen und wo jeden Tag
ein Direktzug nach Moskau ankommt und abfährt, die übertünchten und kyrillisch
übermalten georgischen Schriftzeichen des Stadtnamens erkennen. Im Jahre 2008,
nachdem der damalige georgische Präsident Saakaschwili einen vergeblichen
Versuch unternahm, das aus seiner Sicht russisch okkupierte Süd-Ossetien zu
erobern, hat Russland neben Süd-Ossetien auch Abchasien als unabhängigen Staat
anerkannt und unterstützt ihn seitdem maßgeblich. Trotzdem ist es ein Staat,
der bis heute überwiegend aus Ruinen besteht, wohl auch deshalb, weil niemand
den Wiederaufbau leisten kann: Fremde Investoren lassen die Abchasen nicht ins
Land, aus Furcht, wieder zur Minderheit zu werden, wie es Anfang des 20.
Jahrhunderts schon einmal geschah, als sich massenhaft Georgier ansiedelten.
Die Mischung aus Zerfall und üppigster subtropischer Küstenvegetation, die sich
innerhalb weniger Jahre der Ruinen bemächtigt, die bestimmt zwei Drittel aller Gebäude ausmachen, erzeugt eine merkwürdig
verwunschene Atmosphäre. Als sei das beliebte sowjetische Urlaubsgebiet –
Stalin hatte allein hier fünf Datschen – nach gewonnenem Krieg und Auferstehung
als eigener, unabhängiger Staat in Vergessenheit geraten und warte darauf, dass
es jemand wachküsst.
Für meine dritte
Nacht bin ich wieder mit einem Couchsurfer verabredet. Meine Hoffnung auf
jemanden, der nicht schweigend neben mir stehend Rote-Beete-Salat löffelt,
sollte sich erfüllen. Artur lädt mich an der Uferpromenade zu Kaffee und Chatschapur ein und erklärt mir
Vegetation und Geschichte. Dattelpalmen, Bananenstauden – deren Früchte
allerdings nicht ganz reifen –, Japanische Wollmispel, Brasilianische Guave,
Oleander, Lorbeer, Scharonfrucht, was es nicht alles gibt. Wir kommen am Hotel „Riza“
vorbei, von dessen Balkon Trotzki zur Fortsetzung der kommunistischen
Revolution aufrief, nachdem der Tod Lenins bekannt wurde. „Meine Großeltern
sind früher schon hier gewesen“, erkläre ich.
Artur schaut
mich fragend an.
„Als Touristen“,
sage ich.
„Ach so. Die
Uferpromenade hier wurde nämlich von deutschen Kriegsgefangenen gebaut.“
Auch Artur ist
Armenier, mit einer Moskauerin verheiratet; im Sommer arbeitet er als
Bergführer für die in der Regel russischen Touristen. Wie die meisten Einwohner
hat er zwei Pässe, einen abchasischen und einen russischen, den man leicht
bekommt und der auch nötig ist, da man mit dem Pass eines nicht anerkannten
Landes kaum verreisen kann. „Bis 2008 lebten wir in der ständigen Angst, dass
die Georgier uns irgendwann überfallen. Das wirkt sich natürlich auf die Psyche
aus, man hat gar keine Lust, sich irgendwas aufzubauen. Als der Krieg in
Südossetien begann, habe ich mich freiwillig zum Panzerregiment gemeldet, um
die Georgier, die sich damals noch bei uns in den Bergen eingenistet hatten, zu
vertreiben. Sie sind allerdings dann freiwillig abgezogen. Damals fand ich es
fast schade, dass es keine Gelegenheit gab zu schießen. Jaja, ich war eben noch
jung. Inzwischen, mit zwei kleinen Kindern, denkt man natürlich anders…“
Unterwegs zeigt er mir Einschusslöcher in Wohnhäusern und Gedenktafeln „für die
Helden Abchasiens“ an einer Brücke über eine Schlucht nördlich von Suchum,
entlang der die Front verlief; links und rechts war alles vermint, aber die
Brücke – eine fragil wirkende Betonkonstruktion – wurde nicht gesprengt, da sie
beiden Seiten nützlich schien.
Die Sprache, die
ich in der Öffentlichkeit am meisten vernehme, ist Russisch. Auch der Armenier Artur
spricht kein Abchasisch. „Es gibt überhaupt keine vernünftigen Lehrbücher für
Nicht-Muttersprachler“, sagt er, „und die Sprache ist sehr schwer, eine
Anhäufung unaussprechbarer Konsonanten.“ Fremdwörter werden über das Russische
ins Abchasische integriert, indem ihnen ein A vorangestellt wird; auf diese
Weise entstehen abilet, amusej, ateatr und aburger.
Geschichte ist
eine vielschichtige Angelegenheit. Ein bronzener Soldat an der Uferpromenade
ehrt die russischen „Friedensstifter“ in den Jahren nach dem Unabhängigkeitskrieg.
Ein paar hundert Meter weiter sieht man einen vom Pferd stürzenden Reiter mit
Gedenktafel „an die Abchasen, die im 19. Jahrhundert das Land zwangsweise
verlassen mussten“. Warum, steht aus Rücksicht auf den heutigen Verbündeten nicht
geschrieben. Damals war es das russische Imperium, das im Kaukasus Krieg
geführt und sich die Bergvölker unterworfen hat.
Ausreise am
Grenzübergang nach Adler, noch ein paar Schritte fehlen, dann bin ich wieder in
Russland – aber es gibt eine Verzögerung: die Zollbeamten finden die Flasche
mit dem Berghonig aus Amtkjal in meinem Rucksack. Ich werde zu einer – von mir
übersehenen – Schautafel geführt, auf der groß und deutlich die Einfuhr von
Lebensmitteln und unter anderem ausdrücklich auch Honig untersagt wird. Aus
Angst vor der Schweinepest, erklärt mir der russische Zöllner. Dann öffnet er
die Honigflasche, riecht daran und lacht. „Da haben Sie Zuckersirup gekauft, den
können Sie mitnehmen. Gute Weiterreise!“
Diesen Bericht
schreibe ich auf dem Flughafen Sotschi, in einem Café der Kette Schokoladnitsa. Interessanterweise kann
ich bei dem menschlichen Hintergrundrauschen der großen Flughafenhalle besser
am Laptop arbeiten als wie am Vortag allein im stillen Zimmer eines der
monotonen, fünfetagigen Gebäude der Hotelstadt
im zu Sotschi gehörenden Ortsteil Adler, nach eigenen Angaben der weltweit
größte Hotelkomplex weltweit mit 8247 Räumen: einer der gigantomanischen
Anlagen, die zur Winterolympiade 2014 fertiggestellt worden waren, wenige
hundert Meter von der abchasischen Grenze entfernt. Bald bin ich zuhause, und
meine Frau wird genüsslich am Honig riechen und sagen, dass er sehr wohl echt
ist - nachzuweisen durch einen einfachen Test in warmem Wasser, bei dem sich
die goldgelbe Flüssigkeit in Wabenform strukturiert. Der Zöllner hatte entweder
keine Ahnung oder Mitleid.
Einschusslöcher in einer Hauswand (oben). Der Bahnhof von Suchum ist heute eine Ruine. Täglich kommt und fährt ein Zug von und nach Moskau (unten) |
Der Weg zum Schakuranskij-Wasserfall |
Aus Rücksicht auf Reisende, die künftig noch nach Georgien wollen, wird das abchasische Visum nicht in den Pass geklebt |