Sonntag, 16. Juni 2019

Der unübersehbare Präsident


 Eindrücke von einer Reise nach Tadschikistan, Teil 5

Viele Menschen in Tadschikistan haben goldglänzende Schneidezähne. Meine Vermutung, dass damit kaputte Zähne ersetzt worden sind, erweist sich als Irrtum: natürliche, gesunde Zähne werden abgeschliffen und bekommen eine Metallhaube. Zum Beispiel kauft der Bräutigam seiner Braut einen Goldzahn als Mitgift vor der Hochzeit. Oder, in einem späteren Stadium der Biografie, kauft er seiner Frau einen Goldzahn als Dankeschön dafür, dass sie ihm einen Sohn geboren hat.
Tadschikische Frauen tragen lange, farbenfrohe Kleider mit schönen Ornamenten und Blumenmustern. Ihr buntes Kopftuch ist entweder locker im Nacken oder streng unter dem Kinn zusammengebunden; mitunter, so scheint mir, wird ihre weibliche Schönheit auf diese Weise eher akzentuiert als verborgen. Manchmal verbergen sich unter dem Kopftuch lange, hochgesteckte Haare, so dass sich ein hoher Aufbau von der Größe eines kleinen Eimers über dem Nacken ergibt.
Tadschikistan ist ein über und über mit Bergen bedeckter Staat, auf dessen Territorium die höchsten Gipfel der ehemaligen Sowjetunion liegen. Das verbleibende flache Land ist dicht bevölkert. Überall, wo ein Mensch ist, ist nicht nur einer, sondern gleich drei. Wo drei Menschen mit einer Arbeit beschäftigt sind, stehen drei weitere daneben, beraten die Arbeitenden vielleicht oder warten auf eine Aufgabe. Hat der Tourist die Aufmerksamkeit von sechs Kindern auf sich gezogen, kann er sicher sein, dass in Kürze sechs weitere dazukommen. Die Menschen scheinen keiner Privatsphäre zu bedürfen, vor manchen Bankautomaten herrscht ein Gedränge wie in der Berliner U-Bahn zu Stoßzeiten.
In Tadschikistan wird kaum geraucht und offensichtlich wenig getrunken. Besonders auffällig ist das für jemanden, der aus Russland kommt. Verbreitet ist ein moosgrünes, Nos genanntes tabakhaltiges Pulver, dass man sich unter die Zunge schiebt. Sicherlich gibt es wie überall auch Alkoholmissbrauch. Ich habe auf meinen drei Reisen in das Land aber noch keinen einzigen Betrunkenen gesehen.
Wer Tadschikistan besucht, lernt unweigerlich den Präsidenten kennen. Von allen Universitäten, Instituten, Schulen, Verwaltungsgebäuden, von vielen Straßenecken oder Bauzäunen schaut er auf das Volk herab: Emomali Rahmon von Kopf bis Fuß oder als Porträt, Emomali Rahmon mit Schlips und Krawatte im Mohnfeld, Emomali Rahmon mit Stahlhelm in einer Fabrik, Emomali Rahmon im Gebirge, mit lässig herabhängenden Armen, mit zum Winken erhobener Rechter oder mit steil erhobener Hand, ganz knapp am Hitlergruß vorbei, natürlich unbeabsichtigt. Allgegenwärtig wie sein Bild sind seine Sprüche. „All unser Bestreben und Bemühen ist für das künftige Wohl der Kinder“, sagt er, „Einheit ist unser Glück“ oder „Die Handwerkskunst des Volkes ist ein integraler Bestandteil der tadschikischen Kultur“. In diesem Jahr neu sind mir Parolen aufgefallen, die den Bau des Rogun-Staudammes preisen, der mit 335 Metern höchsten Talsperre der Erde, die Flutung dessen Stausees bereits begonnen hat, nachdem 7000 Familien umgesiedelt wurden. Die erste Turbine des Wasserkraftwerks wurde bereits in Betrieb genommen. Auf Schautafeln werden sieben „Helden Tadschikistans“ gezeigt, einer davon – Emomali Rahmon. Ihm wird das Verdienst zugeschrieben, im Jahre 1997 ein Ende des Bürgerkrieges erreicht zu haben, seitdem ist er im Amt; für den Fall des Ablebens steht wohl der Sohn schon bereit, der im Moment das Amt des Bürgermeisters der Hauptstadt Duschanbe innehat.

"Unser Präsident ist unser Führer!" vor dem 1980 fertiggestellten Nurek-Staudamm, einer der größten Talsperren der Welt, die nun vom Rogun-Staudamm noch übertroffen werden soll