Montag, 17. Juni 2019

Der liebevolle Klassenlehrer

Eindrücke von einer Reise nach Tadschikistan, Teil 6


An der Dorfschule in Furkat herrscht reges Leben. Neun parallele erste Klassen zu je fünfundzwanzig bis dreißig Schülern gibt es, im neuen Schuljahr werden elf erste Klassen erwartet. Schon die Kleinsten sind schick angezogen mit schwarzer Hose, weißem Hemd und Weste oder Rock und Bluse, bei den Größeren kommen Krawatten und Halstücher in den rot-weiß-grünen Farben der tadschikischen Flagge hinzu. Ich bin bei drei Unterrichtsstunden zu Gast: im Russischunterricht der elften Klasse, im Englischunterricht der Dritten und bei Nisos Cousin Nasrullo, der in seiner ersten Klasse gerade „Muttersprache“ lehrt, also Tadschikisch.
Der junge Russischlehrer scheint zeigen zu wollen, was seine Schüler können, und veranstaltet mit ihnen eine wüste Fragerunde. „Wann wurde Puschkin geboren?“, „Wie viele Wortarten gibt es im Russischen?“ oder „Womit enden Tag und Nacht?“, wobei letzteres eine Scherzfrage ist, deren Antwort „mit Weichheitszeichen“ diejenigen kennen, die wissen, wie die entsprechenden russischen Wörter djen‘ und notsh‘ geschrieben werden. Wer etwas sagen will, hebt den Arm, vor jeder Antwort wird aufgestanden und sich erst nach Aufforderung wieder hingesetzt. Sein Kollege, der Englischlehrer, lässt einige seiner Schüler vor die Klasse treten und Vokabelpaare aufsagen: „padar – father, modar – mother, barodar – brother“, dann notiert er einen Text an die Tafel zum Abschreiben und setzt sich nach hinten, um sich mit mir zu unterhalten, sichtlich erfreut über den Besuch; oft hatte er noch keine Gelegenheit, mit einem Ausländer zu sprechen.
Am besten gefällt mir die Stunde bei Nasrullo, der mich seinen Schülern als „Vetreter einer Kommission aus Deutschland“ vorstellt. Zuerst singen die Kleinen im Stehen die tadschikische Nationalhymne, dann treten sie nach und nach vor und tragen kleine Gedichte und Lieder vor, artig auswendig gelernt, einige schüchtern, andere mit durchdringender, fast schreiender Stimme. Nisos Cousin unterrichtet gern und mit Hingabe, vormittags führt er eine erste Klasse, nachmittags eine zweite. Später schreibt er mit Kreide eine kleine Geschichte von der Reise eines Häschens an die Tafel und klärt an ihrem Beispiel die Kinder über Gefahren auf, die auf einem Weg lauern können. An der Wand hängen die Buchstaben des kyrillischen Alphabetes, wie es im Tadschikischen benutzt wird: vier der im Russischen verwendeten Buchstaben fehlen, dafür gibt es fünf zusätzliche Schriftzeichen. Wenn die Kinder zuhören, sitzen sie mit übereinandergeschlagenen Armen, wer sich zu Wort meldet, hebt den rechten Unterarm, wobei der Ellbogen auf dem Tisch verbleibt. „Ohne Disziplin hast du keine Chance“, erklärt mir der liebevolle Klassenlehrer, „die Kinder müssen den Lehrer fürchten!“ Nasrullo, der nicht wirkt, als ob er jemals einen Schüler angeschrien hat, meint das ganz im positiven Sinne. In Furkat, sagt er weiter, gibt es keinen Kindergarten – was mir auch logisch erscheint, da die Mütter ohnehin den ganzen Tag zuhause sind –, deshalb vergehen die ersten Schulmonate damit, die wilden Erstklässler, die noch nie länger konzentriert in einem Raum gesessen haben, zu zähmen. Er selbst habe damit guten Erfolg, manche Eltern gäben ihm zusätzlich Geld, und wenn ein offizieller Kontrollbesuch von außerhalb käme, schicke der Direktor deren Vertreter gleich zu ihm in die Klasse. Geschrieben wird mit Kuli in dünne grüne A5-Heftchen aus russischer Produktion, und wie in Russland beginnt das Schuljahr am ersten September, dem „Tag des Wissens“.
Je einfacher die häuslichen Umstände, desto sichtbarer muss die von der Schule gebotene Form sein, damit sich ein Inhalt entwickeln kann, geht es mir beim Anblick der gedichteaufsagenden, artigen kleinen Menschen in den schicken Uniformen durch den Kopf. Kein Vergleich mit einer deutschen Grundschule – aber die Welt ist hier auch eine völlig andere. Ich glaube nicht, dass auch nur ein einziger zuhause einen Schreibtisch hat.
Am Ende bittet mich der liebevolle Klassenlehrer darum, vor den Schülern ein Abschlusswort zu sprechen. Ich lobe sie für ihren Fleiß und betone die Wichtigkeit der Schule für das Leben. Nachdem Nasrullo übersetzt hat, klatschen fünfundzwanzig Händchenpaare freudig Applaus.

Erstklässler beim Gedichteaufsagen an einer tadschikischen Dorfschule