Samstag, 22. Juni 2019

Die fröhliche Rückfahrt

Eindrücke von einer Reise nach Tadschikistan, Teil 10


Die Menschen in den tadschikischen Dörfern haben Zeit. Es scheint, als sind die Grauen Herren aus Michael Endes „Momo“ – das Buch in der russischen Übersetzung wird nach der Reise mit Niso und Maja unsere nächste gemeinsame Lektüre – in den zentralasiatischen Provinzen noch nicht angekommen, noch gibt es keine Zeitdiebe, von denen die Leute in hektische, seelen- und rücksichtslose Wesen verwandelt werden. Wir haben auch Zeit, zwei ganze Tage sind für die Rückreise nach  Duschanbe eingeplant; wieder einmal sitzen wir am Straßenrand auf unseren Rucksäcken: der meinige ist nach zwanzig Reisejahren völlig verschlissen und graugeschabt mit zerbrochenen Plastikschnallen, fehlenden Spanngummis und sich weitenden Löchern.
Der gestrige Tag in Bunaj markierte den geografischen Endpunkt unserer Reise in das Pamirgebirge. Um jeweils eine halbe Stunde versetzt wurden wir von unserem Gastgeber Orsu und seiner Mutter bewirtet: zuerst stellte uns die alte Frau eine Mahlzeit auf den Tisch unserer Sommerlaube, dann rief uns zur selben Mahlzeit Orsu in sein Haus. Der gemütliche junge Mann sprach ein umgangssprachliches, zu einem Drittel aus Füllwörtern bestehendes Russisch, die Mutter  einen melodischen tadschikischen Dialekt, den Niso vorgab nicht zu verstehen, um nicht ein weiteres Mal ihre ganze Geschichte ausbreiten zu müssen und im Schweigen Kräfte zu sammeln für das bevorstehende zweite Treffen mit ihrer Verwandtenschar in Furkat. Tagsüber erklommen wir den untersten Rand eines der beiden das Dorf eingrenzenden Hänge, etwa dreihundert Höhenmeter eine karg bewachsene Schräge hinauf, vorbei an Kühen und einer noch von weit lesbaren, die tadschikische Verfassung preisenden Losung aus weiß getünchten Steinen, bis wir uns zeichnend an einem Felsbrocken niederließen. Nur ein kleines Missverständnis hatte diesen unseren sonnigen Pamirtag getrübt: nachdem ich Niso am Felsbrocken zurückgelassen, allein weiter aufgestiegen und nach etwa einer halben Stunde wieder zurückgekehrt war, fand ich sie zusammengesunken und weinend vor; in der großen Gebirgseinsamkeit hatte sich die Dauer meiner Abwesenheit zu einer gefühlten Ewigkeit ausgedehnt und in der Vorstellung meiner Frau lag ich längst von Wölfen zerrissen oder von Aasgeiern verschleppt vor einer der schwarzgrauen Steilwände über uns. Am Abend waren wir durch das üppige Grün des Dorfes geschlendert und hatten zwei oder drei Einladungen zum Tee abgelehnt, da uns noch das doppelte Abendbrot bei Orsu und seiner Mutter bevorstand. Tadschikistan ist ein Land der unverfälschten Gastfreundschaft: dem Fremden öffnen sich Türen auch ohne touristische Infrastruktur oder Couchsurfing-Verabredung per Internet.
Nun sitzen wir also wieder an der Straße und richten uns gemütlich auf ein längeres Sitzen ein mit Tagebuch und Aquarellzeug, Trinkwasser, frischem Fladenbrot von Orsus Mutter und frischem Fladenbrot von Orsu. Heute ist der erste Festtag nach dem Ende des Fastenmonats und niemand unterwegs. Wer zu Verwandten fahren möchte, ist bereits dort, und wer zuhause sein will, ist schon zuhause. Umso mehr sind wir erstaunt, als nach zehn Minuten, das Tagebuch ist noch nicht geöffnet, der Pinsel noch nicht ins Wasser getaucht – als uns nach zehn Minuten vier fröhliche Gestalten aus einem zerschundenen Honda-Van zuwinken und zum Platznehmen auf der zweiten, hinteren Rückbank auffordern. Duschanbe? – Duschanbe! Die rissige Frontscheibe erinnert an ein Spinnennetz; der Beifahrer nutzt den kurzen Halt, um mit einem Schraubenzieher die abfallende Seitenleiste festzuschrauben. Unsere Reisegefährten sind keine Tadschiken, sondern vom Volk der Pamiri, und kommen gerade aus Chorugh, dem unerreichten Ziel unserer anfänglichen Pläne. Munter holpert der Honda über die kurvige Schotterpiste, die uns diesmal nicht ganz so ungeheuerlich wie auf der Hinfahrt erscheint, da der Abbruch zum Fluss hin auf der linken Seite vom Weg liegt und wir uns eher rechts an den Felswänden halten. Die Pamiri sind locker und gesprächig, weniger traditionell als die Tadschiken, mit den muslimischen Festen nimmt es keiner so genau, und sie gebrauchen ganz selbstverständlich eine Handvoll verschiedener Sprachen: unter ihresgleichen mindestens einen ihrer lokalen Pamir-Dialekte, für Außenstehende gänzlich unverständlich und ohne Schrifttradition; beim mittäglichen Imbiss mit dem Wirt die offizielle Staatssprache Tadschikisch; mit uns als Gästen aus Sibirien – Russisch, das kulturübergreifende Verständigungsmittel des Sowjet-Imperiums; und Englisch für westliche Touristen, die das Pamir-Plateau gern mit Fahrrädern durchqueren, hätten sie auch noch auf Lager.
Von der Mittagspause und kurzen Stopps zum Festschrauben der Seitenleiste abgesehen fahren wir zwölf Stunden bis in die Hauptstadt durch. Auch bei geschlossenen Fenstern sitzen wir wieder und wieder in periodisch durch Ritzen in das Fahrzeug hereinwallenden Staubwolken.  An einer Stelle lenkt der Fahrer das Fahrzeug absichtlich unter einen auf die halbe Straßenbreite von oben lotrecht herabstürzenden Wasserfall, um das Auto zu entstauben, hat aber dabei die Lücke an der Kofferraumklappe nicht bedacht, so dass der darunterstehende Koffer einen Schwall Wasser abbekommt. Die Pamiri finden es lustig. Da es nicht unsere Rucksäcke betrifft, finden wir es auch lustig.
Irgendwann am späten Nachmittag, inzwischen hat auch der Asphalt wieder eingesetzt, kommen wir an Anjirob vorbei. Sollte ich den Namen eines Ortes auf Erden sagen, der dem vorgestellten himmlischen Paradiese am nächsten kommt, so würde ich Anjirob nennen, das in vornehmer Stille am Hang über dem Fluss Pandzh gelegene Grenzdorf mit seinen Granatapfel-, Maulbeer- und Walnussbäumen, seinen Pistazien und Zitronensträuchern mit den würdig im Schatten der Mauern und Gewächse ruhenden oder mit ihren Eseln wasserholenden Bewohnern und dem Ausblick auf die in unerreichbarer Nähe am anderen Ufer majestätisch emporthronenden Berge des Hindukush. Vor einigen Tagen waren wir hier bei Radzabali und seiner Familie zu Gast gewesen, die mich vor zwei Jahren entkräftet und appetitlos ins Krankenhaus gebracht, vor einem Jahr kräftig und mit Appetit begrüßt und dieses Mal mit Niso empfangen hatten, erstaunt und erfreut darüber, dass meine Frau eine halbe Tadschikin ist und ihre Sprache spricht. Seltsam nur, dass ich das im Vorjahr aus – unberechtigter – Sorge  über muslimische, interreligiöse Partnerschaften verbietende Glaubensgrundsätze unerwähnt gelassen und erzählt hatte, meine Frau hieße Anja. Das Problem, wohin nun mit Anja, lösten wir dann auf elegante Weise: um russische Kindergartenkinder nicht mit fremdkulturigen Namen zu überfordern, hätten Pädagogen mit Migrationshintergrund wie meine Frau am Arbeitsplatz einen Zweitnamen. Anja und Niso sind also ein und dieselbe Person.
Anjirob bleibt links unter uns zurück. Der Tag neigt sich dem Ende, die fröhlichen Pamiri verstummen und dösen vor sich hin, nur der Mann am Steuer behält eisern die Konzentration bis zum Eintreffen in der Hauptstadt. Statt in zwei Tagen haben wir die Strecke an einem geschafft. Mein Lob über sein Meistern des schwierigen Weges quittiert der Fahrer mit einem Lachen. Erschöpft begeben wir uns ins Hostel.

Bei der Herstellung von Kurut, eine Art salzige, harte Quarkbällchen
Vor den Bergen des Hindukush in Anjirob. Abschied von unseren Gastgebern (unten)