Eindrücke von einer Reise nach Tadschikistan, Teil 10
Die Menschen in den tadschikischen Dörfern haben
Zeit. Es scheint, als sind die Grauen
Herren aus Michael Endes „Momo“ – das
Buch in der russischen Übersetzung wird nach der Reise mit Niso und Maja unsere
nächste gemeinsame Lektüre – in den zentralasiatischen Provinzen noch nicht angekommen,
noch gibt es keine Zeitdiebe, von denen die Leute in hektische, seelen- und
rücksichtslose Wesen verwandelt werden. Wir haben auch Zeit, zwei ganze Tage
sind für die Rückreise nach Duschanbe
eingeplant; wieder einmal sitzen wir am Straßenrand auf unseren Rucksäcken: der
meinige ist nach zwanzig Reisejahren völlig verschlissen und graugeschabt mit
zerbrochenen Plastikschnallen, fehlenden Spanngummis und sich weitenden
Löchern.
Der gestrige Tag in Bunaj markierte den
geografischen Endpunkt unserer Reise in das Pamirgebirge. Um jeweils eine halbe
Stunde versetzt wurden wir von unserem Gastgeber Orsu und seiner Mutter
bewirtet: zuerst stellte uns die alte Frau eine Mahlzeit auf den Tisch unserer
Sommerlaube, dann rief uns zur selben Mahlzeit Orsu in sein Haus. Der
gemütliche junge Mann sprach ein umgangssprachliches, zu einem Drittel aus
Füllwörtern bestehendes Russisch, die Mutter
einen melodischen tadschikischen Dialekt, den Niso vorgab nicht zu
verstehen, um nicht ein weiteres Mal ihre ganze Geschichte ausbreiten zu müssen
und im Schweigen Kräfte zu sammeln für das bevorstehende zweite Treffen mit
ihrer Verwandtenschar in Furkat. Tagsüber erklommen wir den untersten Rand
eines der beiden das Dorf eingrenzenden Hänge, etwa dreihundert Höhenmeter eine
karg bewachsene Schräge hinauf, vorbei an Kühen und einer noch von weit
lesbaren, die tadschikische Verfassung preisenden Losung aus weiß getünchten
Steinen, bis wir uns zeichnend an einem Felsbrocken niederließen. Nur ein
kleines Missverständnis hatte diesen unseren sonnigen Pamirtag getrübt: nachdem
ich Niso am Felsbrocken zurückgelassen, allein weiter aufgestiegen und nach
etwa einer halben Stunde wieder zurückgekehrt war, fand ich sie
zusammengesunken und weinend vor; in der großen Gebirgseinsamkeit hatte sich
die Dauer meiner Abwesenheit zu einer gefühlten Ewigkeit ausgedehnt und in der
Vorstellung meiner Frau lag ich längst von Wölfen zerrissen oder von Aasgeiern
verschleppt vor einer der schwarzgrauen Steilwände über uns. Am Abend waren wir
durch das üppige Grün des Dorfes geschlendert und hatten zwei oder drei
Einladungen zum Tee abgelehnt, da uns noch das doppelte Abendbrot bei Orsu und
seiner Mutter bevorstand. Tadschikistan ist ein Land der unverfälschten
Gastfreundschaft: dem Fremden öffnen sich Türen auch ohne touristische
Infrastruktur oder Couchsurfing-Verabredung
per Internet.
Nun sitzen wir also wieder an der Straße und
richten uns gemütlich auf ein längeres Sitzen ein mit Tagebuch und
Aquarellzeug, Trinkwasser, frischem Fladenbrot von Orsus Mutter und frischem Fladenbrot
von Orsu. Heute ist der erste Festtag nach dem Ende des Fastenmonats und
niemand unterwegs. Wer zu Verwandten fahren möchte, ist bereits dort, und wer
zuhause sein will, ist schon zuhause. Umso mehr sind wir erstaunt, als nach
zehn Minuten, das Tagebuch ist noch nicht geöffnet, der Pinsel noch nicht ins
Wasser getaucht – als uns nach zehn Minuten vier fröhliche Gestalten aus einem
zerschundenen Honda-Van zuwinken und zum Platznehmen auf der zweiten, hinteren
Rückbank auffordern. Duschanbe? – Duschanbe! Die rissige Frontscheibe erinnert
an ein Spinnennetz; der Beifahrer nutzt den kurzen Halt, um mit einem
Schraubenzieher die abfallende Seitenleiste festzuschrauben. Unsere
Reisegefährten sind keine Tadschiken, sondern vom Volk der Pamiri, und kommen
gerade aus Chorugh, dem unerreichten Ziel unserer anfänglichen Pläne. Munter
holpert der Honda über die kurvige Schotterpiste, die uns diesmal nicht ganz so
ungeheuerlich wie auf der Hinfahrt erscheint, da der Abbruch zum Fluss hin auf
der linken Seite vom Weg liegt und wir uns eher rechts an den Felswänden
halten. Die Pamiri sind locker und gesprächig, weniger traditionell als die
Tadschiken, mit den muslimischen Festen nimmt es keiner so genau, und sie
gebrauchen ganz selbstverständlich eine Handvoll verschiedener Sprachen: unter
ihresgleichen mindestens einen ihrer lokalen Pamir-Dialekte, für Außenstehende
gänzlich unverständlich und ohne Schrifttradition; beim mittäglichen Imbiss mit
dem Wirt die offizielle Staatssprache Tadschikisch; mit uns als Gästen aus
Sibirien – Russisch, das kulturübergreifende Verständigungsmittel des
Sowjet-Imperiums; und Englisch für westliche Touristen, die das Pamir-Plateau gern
mit Fahrrädern durchqueren, hätten sie auch noch auf Lager.
Von der Mittagspause und kurzen Stopps zum
Festschrauben der Seitenleiste abgesehen fahren wir zwölf Stunden bis in die
Hauptstadt durch. Auch bei geschlossenen Fenstern sitzen wir wieder und wieder
in periodisch durch Ritzen in das Fahrzeug hereinwallenden Staubwolken. An einer Stelle lenkt der Fahrer das Fahrzeug
absichtlich unter einen auf die halbe Straßenbreite von oben lotrecht
herabstürzenden Wasserfall, um das Auto zu entstauben, hat aber dabei die Lücke
an der Kofferraumklappe nicht bedacht, so dass der darunterstehende Koffer
einen Schwall Wasser abbekommt. Die Pamiri finden es lustig. Da es nicht unsere
Rucksäcke betrifft, finden wir es auch lustig.
Irgendwann am späten Nachmittag, inzwischen hat
auch der Asphalt wieder eingesetzt, kommen wir an Anjirob vorbei. Sollte ich
den Namen eines Ortes auf Erden sagen, der dem vorgestellten himmlischen
Paradiese am nächsten kommt, so würde ich Anjirob nennen, das in vornehmer
Stille am Hang über dem Fluss Pandzh gelegene Grenzdorf mit seinen
Granatapfel-, Maulbeer- und Walnussbäumen, seinen Pistazien und
Zitronensträuchern mit den würdig im Schatten der Mauern und Gewächse ruhenden
oder mit ihren Eseln wasserholenden Bewohnern und dem Ausblick auf die in
unerreichbarer Nähe am anderen Ufer majestätisch emporthronenden Berge des
Hindukush. Vor einigen Tagen waren wir hier bei Radzabali und seiner Familie zu
Gast gewesen, die mich vor zwei Jahren entkräftet und appetitlos ins
Krankenhaus gebracht, vor einem Jahr kräftig und mit Appetit begrüßt und dieses
Mal mit Niso empfangen hatten, erstaunt und erfreut darüber, dass meine Frau
eine halbe Tadschikin ist und ihre Sprache spricht. Seltsam nur, dass ich das
im Vorjahr aus – unberechtigter – Sorge über muslimische, interreligiöse
Partnerschaften verbietende Glaubensgrundsätze unerwähnt gelassen und erzählt
hatte, meine Frau hieße Anja. Das Problem, wohin nun mit Anja, lösten wir dann auf
elegante Weise: um russische Kindergartenkinder nicht mit fremdkulturigen Namen
zu überfordern, hätten Pädagogen mit Migrationshintergrund wie meine Frau am
Arbeitsplatz einen Zweitnamen. Anja und Niso sind also ein und dieselbe Person.
Anjirob bleibt links unter uns zurück. Der Tag
neigt sich dem Ende, die fröhlichen Pamiri verstummen und dösen vor sich hin,
nur der Mann am Steuer behält eisern die Konzentration bis zum Eintreffen in der
Hauptstadt. Statt in zwei Tagen haben wir die Strecke an einem geschafft. Mein
Lob über sein Meistern des schwierigen Weges quittiert der Fahrer mit einem
Lachen. Erschöpft begeben wir uns ins Hostel.
Bei der Herstellung von Kurut, eine Art salzige, harte Quarkbällchen |
Vor den Bergen des Hindukush in Anjirob. Abschied von unseren Gastgebern (unten) |