Mittwoch, 19. Juni 2019

Der bedauernswerte Früchtezöllner

Eindrücke von einer Reise nach Tadschikistan, Teil 8


„Kommen Sie doch einmal bitte kurz zu mir, junger Mann.“ Der schlanke junge Herr im hellblauen Hemd grüßt mich höflich und blättert kurz in meinem Pass. „Was haben Sie denn in Tadschikistan gemacht?“
Ich werde kurz von oben bis unten gemustert und spüre dann einen abwartenden Blick in dem meinigen ruhen, bestimmt und durchdringend, die feingeschnittenen Gesichtszüge verraten keine Emotionen. Nein, Dummköpfe und Grobiane werden für diese Aufgabe nicht ausgewählt, neulich erst hat sich einer von Nisos Brüdern an uns gewendet, der feingeistigste und intelligenteste von ihnen, mit der Bitte um Kopien unserer Pässe: er möchte sich beim FSB bewerben und muss dafür Informationen über alle seine Verwandten vorlegen. Ob er die Stelle bekommt, mit einem deutschen Schwager?
Die eigentliche Passkontrolle mit Stempel und Gesicht-mit-dem-Foto-Vergleich habe ich gerade schon durchlaufen, aber da nicht jeden Tag ein Deutscher von Tadschikistan nach Russland fliegt, wurde ich einer kurzen Nachkontrolle für würdig erachtet. Hinter uns drängen die anderen Passagiere an den Schalter, fast ausschließlich tadschikische Gastarbeiter, die ohne Visum nach Russland einreisen können, sich aber dann um eine Patent genannte, kostenpflichtige Arbeitsgenehmigung bemühen müssen. Versäumen sie das, werden sie zur Ausreise aufgefordert und bekommen eine Wiedereinreisesperre für mehrere Jahre. Da viele nicht warten können – schließlich muss die Familie ernährt werden –, legen sie sich einen neuen Reisepass mit neuem Namen zu, der noch nicht auf der Sperrliste steht.
Einen Raum weiter dann der Zoll. Wir bejahen ehrlich die Frage des gleich hinter dem Eingang stehenden Zollbeamten, ob wir Lebensmittel dabei hätten – drei Bananen, ein halbes Kilo Äpfel und ein viertel Kilo getrocknete Aprikosen, unsere Reiseverpflegung – und werden gebeten, an einem kleinen Tischchen zu warten. Er selbst wäre nur für Fleisch und Milch zuständig, der für Obst und Gemüse verantwortliche Kollege würde gleich kommen. Hinter uns bildet sich in kurzer Zeit eine kleine Schlange von Tadschiken, welche die Frage des für Fleisch und Milch zuständigen Kollegen ebenso ehrlich wie wir beantwortet haben: einer hält zwei Honigmelonen in der Hand, ein anderer trägt ein Tütchen mit Mandarinen, ein dritter fördert ein Bündel Rhabarber aus seiner Tragetasche.
Nach einer Viertelstunde erscheint ein stiernackiger Uniformierter mit kleinen Schweißperlen im Gesicht und einem Formularbündel in der Hand. Inzwischen haben wir die Bananen bereits aufgegessen und unser halbes Äpfelkilo hat sich auf ein Viertel reduziert. Die Einfuhr von Früchten aus Tadschikistan nach Russland sei verboten, sagt der für Obst und Gemüse zuständige Zollbeamte, und während er unsere Ordnungswidrigkeit in ein doppelseitiges, eng bedrucktes Formular einträgt, wächst die Schlange unablässig, die der offensichtlich unterbeschäftigte, für Fleisch und Milch zuständige Kollege in seine Richtung schickt: lauter Tadschiken mit ein paar Früchtchen, die sie nicht geschafft haben im Flugzeug zu verspeisen oder als Mitbringsel für Verwandte. Das Verbot von Fleischimport scheint bekannt zu sein, das Obsteinfuhrverbot hingegen neu.
„Hier unterschreiben, 350 Rubel Strafe“, blafft der Früchtezöllner, steckt unsere Pässe in seine Hosentasche und verweist uns auf den Sparkassen-Automaten vor dem Flughafenausgang, an dem wir die Strafe unverzüglich zu bezahlen und auf ihn zu warten hätten; Barzahlung ist nicht vorgesehen. Wir erfüllen seine Forderung und warten. Nach einer halben Stunde erscheint er schweißbedeckt in Begleitung von einem Dutzend ehemaliger Früchtebesitzer, prüft die Quittung, händigt unsere Pässe aus und wendet sich stöhnend dem Automaten zu. Nun verstehen wir auch Grund für seine Genervtheit: die Tadschiken kennen sich mit einem russischen Sparkassenautomaten nicht aus, so dass der Zöllner für sie alle die Strafeinzahlung selbst vornehmen muss, die wir als einzige ohne ihn erledigen konnten.
Wir verlassen den Flughafen Irkutsk, an dem unsere Flugreise vor genau zwei Wochen begonnen hatte. In der Wartehalle waren wir am Ausgang zum Flugzeug dicht umringt von dunkelhäutigen, schickbehemdeten, mit großen, sichtbar getragenen Uhren ausgestatteten Männern und ihren Frauen und Kindern gewesen, die sich, mühsam vom Bodenpersonal zurückgehalten, gegen die Glastür gedrängt hatten, als gelte es den Teufel, der erste im Flugzeug zu sein, als würden die Plätze nicht mehr für diejenigen genügen, die hinten in der Schlange stehen. Jeder vierte Passagier ein Kind, das war eine neue Erfahrung für mich gewesen, und auch, dass nach dem Austeilen des kartonverpackten Essens ein Großteil der Reisenden es achtlos vor sich auf dem Ausklapptischchen stehengelassen erst nach Sonnenuntergang mit der Nahrungsaufnahme begonnen hatte.
Meine dritte Reise nach Tadschikistan: ich bin stolz darauf, mir nicht den Magen verdorben und jeden Tag ein kleines Aquarell gezeichnet zu haben; ich bin enttäuscht, dass ich trotz vieler Stunden hinter Lehr- und Wörterbüchern immer noch keinem tadschikischen Gespräch folgen kann: nur gelegentlich leuchtet eine bekanntes Wort auf aus dem Nebel unbestimmt dahinrauschender Rede (Niso sagt, da gehe es mir wie ihr bei ihrem ersten Deutschlandbesuch); ich habe gelernt, dass eine Kanne heißen Wassers im Prinzip für eine Ganzkörperwäsche mit Seife ausreicht und dass es auch heute noch Familienväter gibt, die von ihrer Ehefrau und den eigenen Kindern gesiezt werden. Niso, die gar nicht fertig werden konnte mit all ihren Eindrücken und jeden Tag seitenweise Tagebuch schrieb, wird mir später erzählen, wie befreiend es für sie gewesen sei, einer vor dreiundzwanzig Jahren unbestimmt in ihr zurückgebliebenen Welt wieder zu begegnen und zu spüren, dass sie sich in dieser Welt noch zurechtfindet und von den Menschen angenommen ist.
Am Irkutsker Bahnhof besteigen wir den Nachtzug nach Ulan-Ude. Ich fördere zwei bisher unbeachtet gebliebene Äpfel vom Grunde meines Rucksackes zutage. Anstatt zurück zum Früchtezöllner gehen, mich für die versehentliche illegale Einfuhr zu entschuldigen und das Aufsetzen eines weiteren Protokolls abzuwarten, reiche ich einen meiner Gefährtin. Vor uns hinkauend schauen wir in die hereinbrechenden Dunkelheit, als sich der Zug in Bewegung setzt und unserem russischen Alltag entgegenrollt.

Vor dem Rudaki-Denkmal im Park am Präsidentenpalast in Dushanbe
Ein noch aus Sowjetzeiten stammender Bewässerungskanal
Tadschikische Zuckerwürfel haben mitunter gigantische Ausmaße