Donnerstag, 13. Juni 2019

Die fallschirmspringenden Außerirdischen

Eindrücke von einer Reise nach Tadschikistan, Teil 2

Niso und ich machen uns auf den Weg von Duschanbe in das Dorf Furkat. Furkat liegt anderthalb Fahrtstunden südlich der Hauptstadt zwischen einer kahlen Hügelkette und einer bewässerten, felderbedeckten Ebene, hat eine Einwohnerzahl von etwa 500 Familien – da die Kinderscharen niemand überblickt, ist die Einheit der Bevölkerungszählung die Familie – und ist die Heimat meiner Frau, wo sie bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr aufgewachsen ist. Auch heute noch, dreiundzwanzig Jahre später, lebt hier die ganze väterliche Verwandtschaft, Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, Halbneffen und Viertelnichten, Kleinschwager und Großschwägerinnen, Stiefbasen und Altvettern, Verwandtschaftsgrade, von deren Existenz und Bezeichnungen ich bisher nicht zu ahnen wagte. Niso ist aufgeregt: wenn wir der einen Familie einen Besuch abstatten, werden zwanzig andere beleidigt sein, dass wir nicht zuerst zu ihnen gekommen sind. Deshalb beschließen wir, nur einen kurzen Blick auf das Haus ihrer Kindheit zu werfen, vielleicht verstohlen ein paar Fotos zu machen und dann still und leise wieder zu verschwinden.
Als wir mit unseren Rucksäcken aus dem Linientaxi steigen – der öffentliche Verkehr zwischen den Dörfern und Städten wird von privaten PKWs übernommen: fast ausschließlich Opel-Modelle der Typen Astra und Vectra aus den neunziger Jahren und gelegentlich Mercedesse ähnlichen Baujahres –, verfolgen uns ein Dutzend neugierige Kinder- und Erwachsenenblicke. Es ist heiß, aber aushaltbar, da ein paar Wolken den Himmel bedecken und es in der letzten Zeit wohl ein paar Mal geregnet hat. Wir biegen um zwei Ecken und sind in der Straße von Nisos Kindheit. Hinter hohen Steinzäunen, die es vor dem Bürgerkrieg noch nicht gab, reihen sich Gehöfte mit Gärten und kleinen Lehmhäusern aneinander. Meine Frau zählt klopfenden Herzens die Grundstücke ab und bleibt bei Nummer vier stehen. Eine Kinderschar ist uns gefolgt und bleibt in respektvollem Abstand stehen; aus verschiedenen Ritzen quellen nach und nach neue Jungs und Mädchen hervor. Ein junger Mann tritt aus dem metallenen Tor, legt seine rechte Hand aufs Herz, sagt mit angedeuteter Verbeugung den üblichen Gruß „Salom“ und erkundigt sich höflich nach unserem Begehr. Wir dürfen eintreten und uns im Hof umschauen. Bewohner und Häuser sind neu hier, nichts scheint aus alten Zeiten geblieben zu sein, ich mache ein paar Fotos, wir bedanken uns artig und treten wieder auf die Straße.
Augenblicke später umarmt Niso mit Tränen in den Augen eine ältere Frau, die sich als ihre Nachbarin herausstellt, in deren Hof die Kinder der Familie ihrer Eltern, der Familie Karakhonova täglich gespielt haben. Ihrer Einladung folgend, sitzen wir wenig später mit ihr und ihren fünfzehn Familienangehörigen auf einer Matte im Schatten von ein Dach bildenden Weinranken und leeren eine Schale Grüntee, die erste von tausend Schalen Tee in Furkat – doch noch ist es nicht soweit, noch haben uns die Verwandten nicht bemerkt, erst müssen wir noch den Gang zur Schule antreten, in die Niso einen ganz kurzen nostalgischen Blick zu werfen gedenkt, bevor wir ohne weiteres Aufsehen wieder in die Hauptstadt verschwinden.
Unser Erscheinen auf dem Schulhof, wo gerade das dichte Treiben einer großen Pause herrscht, ruft Erstaunen ähnlich der Landung eines UFOs hervor. Mit barschen Rufen versuchen die Lehrer vergeblich, die immer wieder wellenförmig zu uns hin wabernde Schülerschar zurückzurufen. Hinterher wird Niso erfahren, dass die Kinder zum ersten Mal Menschen mit großen Rucksäcken sahen und ernsthaft glaubten, wir seien mit Fallschirmen gelandet. Da in der Schule zwei ihrer augenblicklich auf uns aufmerksam werdende Onkel und ein Cousin arbeiten, gibt es von nun an keine Rettung für meine Frau mehr, nur noch Umarmungen und Tränen ob des Wiedererkennens nach über zwei Jahrzehnten, bis wir vom Cousin aus der uns unablässig anstarrenden Kindermenge heraus und in Richtung seines Hauses geleitet werden.

Ein erstes Teetrinken mit den Nachbarn (ganz oben) und Wiedersehen mit Lehrerinnen an der Schule in Furkat, dem Dorf von Nisos Kindheit (unten)