Eindrücke von einer Reise nach Tadschikistan, Teil 2
Niso und ich machen uns auf den Weg von Duschanbe
in das Dorf Furkat. Furkat liegt anderthalb Fahrtstunden südlich der Hauptstadt
zwischen einer kahlen Hügelkette und einer bewässerten, felderbedeckten Ebene,
hat eine Einwohnerzahl von etwa 500 Familien – da die Kinderscharen niemand
überblickt, ist die Einheit der Bevölkerungszählung die Familie – und ist die
Heimat meiner Frau, wo sie bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr aufgewachsen
ist. Auch heute noch, dreiundzwanzig Jahre später, lebt hier die ganze
väterliche Verwandtschaft, Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, Halbneffen
und Viertelnichten, Kleinschwager und Großschwägerinnen, Stiefbasen und Altvettern,
Verwandtschaftsgrade, von deren Existenz und Bezeichnungen ich bisher nicht zu
ahnen wagte. Niso ist aufgeregt: wenn wir der einen Familie einen Besuch
abstatten, werden zwanzig andere beleidigt sein, dass wir nicht zuerst zu ihnen
gekommen sind. Deshalb beschließen wir, nur einen kurzen Blick auf das Haus
ihrer Kindheit zu werfen, vielleicht verstohlen ein paar Fotos zu machen und
dann still und leise wieder zu verschwinden.
Als wir mit unseren Rucksäcken aus dem Linientaxi
steigen – der öffentliche Verkehr zwischen den Dörfern und Städten wird von
privaten PKWs übernommen: fast ausschließlich Opel-Modelle der Typen Astra und Vectra aus den neunziger Jahren und gelegentlich Mercedesse
ähnlichen Baujahres –, verfolgen uns ein Dutzend neugierige Kinder- und
Erwachsenenblicke. Es ist heiß, aber aushaltbar, da ein paar Wolken den Himmel
bedecken und es in der letzten Zeit wohl ein paar Mal geregnet hat. Wir biegen
um zwei Ecken und sind in der Straße von Nisos Kindheit. Hinter hohen
Steinzäunen, die es vor dem Bürgerkrieg noch nicht gab, reihen sich Gehöfte mit
Gärten und kleinen Lehmhäusern aneinander. Meine Frau zählt klopfenden Herzens
die Grundstücke ab und bleibt bei Nummer vier stehen. Eine Kinderschar ist uns
gefolgt und bleibt in respektvollem Abstand stehen; aus verschiedenen Ritzen
quellen nach und nach neue Jungs und Mädchen hervor. Ein junger Mann tritt aus
dem metallenen Tor, legt seine rechte Hand aufs Herz, sagt mit angedeuteter
Verbeugung den üblichen Gruß „Salom“ und erkundigt sich höflich nach unserem
Begehr. Wir dürfen eintreten und uns im Hof umschauen. Bewohner und Häuser sind
neu hier, nichts scheint aus alten Zeiten geblieben zu sein, ich mache ein paar
Fotos, wir bedanken uns artig und treten wieder auf die Straße.
Augenblicke später umarmt Niso mit Tränen in den
Augen eine ältere Frau, die sich als ihre Nachbarin herausstellt, in deren Hof
die Kinder der Familie ihrer Eltern, der Familie Karakhonova täglich gespielt
haben. Ihrer Einladung folgend, sitzen wir wenig später mit ihr und ihren
fünfzehn Familienangehörigen auf einer Matte im Schatten von ein Dach bildenden
Weinranken und leeren eine Schale Grüntee, die erste von tausend Schalen Tee in
Furkat – doch noch ist es nicht soweit, noch haben uns die Verwandten nicht bemerkt,
erst müssen wir noch den Gang zur Schule antreten, in die Niso einen ganz
kurzen nostalgischen Blick zu werfen gedenkt, bevor wir ohne weiteres Aufsehen
wieder in die Hauptstadt verschwinden.
Unser Erscheinen auf dem Schulhof, wo gerade das
dichte Treiben einer großen Pause herrscht, ruft Erstaunen ähnlich der Landung
eines UFOs hervor. Mit barschen Rufen versuchen die Lehrer vergeblich, die
immer wieder wellenförmig zu uns hin wabernde Schülerschar zurückzurufen. Hinterher
wird Niso erfahren, dass die Kinder zum ersten Mal Menschen mit großen Rucksäcken
sahen und ernsthaft glaubten, wir seien mit Fallschirmen gelandet. Da in der
Schule zwei ihrer augenblicklich auf uns aufmerksam werdende Onkel und ein
Cousin arbeiten, gibt es von nun an keine Rettung für meine Frau mehr, nur noch
Umarmungen und Tränen ob des Wiedererkennens nach über zwei Jahrzehnten, bis
wir vom Cousin aus der uns unablässig anstarrenden Kindermenge heraus und in
Richtung seines Hauses geleitet werden.
Ein erstes Teetrinken mit den Nachbarn (ganz oben) und Wiedersehen mit Lehrerinnen an der Schule in Furkat, dem Dorf von Nisos Kindheit (unten) |