Donnerstag, 20. Juni 2019

Die versuchte Hotelübernachtung


 Eindrücke von einer Reise nach Tadschikistan, Teil 9

Wir bewegen uns. Mit zwanzig Stundenkilometern schiebt sich der LKW vorwärts in Richtung Chorugh, der „Hauptstadt des Pamir“, wie die unweit der afghanischen Grenze im Tal zwischen Vier- und Fünftausendern eingekesselte Siedlung inoffiziell genannt wird; wir schieben uns vorwärts, immer flussaufwärts am rechten Ufer entlang des Grenzflusses Pandsh, zunächst nach Nordosten, ab Khalaikhumb dann dem abknickenden Flusslauf nach Süden folgend, durch das sich immer schroffer in die Berge einschneidende Tal vorbei an lotrecht abfallenden Felswänden, legen eine Zwischenübernachtung im Dorf Kurgovod ein und setzen unseren Weg mit der gleichen Geschwindigkeit fort, bis uns gegen Mittag klar wird: wir schaffen es nicht. Die Trucks, an Bord derer wir zu Gast sind, fahren zu langsam. Morgen würden wir erst ankommen, übermorgen vielleicht, auf jeden Fall zu spät: Nisos Verwandtschaft in Furkat wartet auf uns, nach dem ungeplanten Wiedersehen muss nun unbedingt noch ein geplantes folgen, noch einmal möchten Onkel, Tanten, Schwager und Schwägerinnen, Cousinen und Cousins, Nichten, Neffen, Stiefbasen und Erzmütter uns in ihr gastfreundschaftliches Netz aufnehmen, uns tränken und verpflegen, diesmal in ihrer ebenso trinkender und speisender Gemeinschaft, denn der Ramadan ist zuende, Fröhlichkeit und Tanz stehen an, vielleicht das eine oder andere zu unseren Ehren geschlachtete Schaf. Die Vorfreude auf unser Erscheinen ist ebenso immens wie die Zeit knapp ist; von zwei Wochen in Tadschikistan ist schon eine verstrichen, nach dem plötzlichen Erscheinen käme nun unser plötzliches Nichterscheinen einer Katastrophe gleich. Wir werden Chorugh nicht mehr erreichen.
Am Eingang zum Wandzh-Tal, an einer staubigen Weggabelung des sich hier zu einer lichten Ebene weitenden Grenztales neben einem unsere Pässe kontrollierenden Polizeiposten, lassen wir uns absetzen. Hier ist es auch schön, hatte der Fernfahrer gesagt, einer der wenigen Menschen übrigens, die nicht gefastet und unterwegs immer wieder zur Colaflasche gegriffen hatten, was von uns mit einer gewissen Beruhigung zur Kenntnis genommen wurde; hier sei es jedenfalls auch schön, und mein Geld solle ich bitte in der Tasche stecken lassen. Vielleicht verdienen tadschikische Trucker ja gar nicht so schlecht, dass sie keines Zuverdienstes bedürfen, denn die von mir gebotene Summe war deutlich mehr als nur ein symbolisches Almosen.
Mit dem Rücken Afghanistan zugewandt laufen wir die zunächst menschen- und fahrzeugeleere, sandige Straße das Tal hinauf, bis uns nach etwa einer Stunde ein gemütlicher, sympathischer junger Mann aus unserer einbrechenden Erschöpfung erlöst und uns mit dem Auto nach Wandzh mitnimmt, das zivilisatorische Zentrum der Region, wo uns ein Hotel oder Gästehaus mit Dusche und weichen Betten erwartet. Der gemütliche junge Mann schreibt uns noch schnell seine Telefonnummer auf einen Zettel und zeigt uns die Unterkunft, dann steigen wir aus und streben der rohen Steinwand des unverputzten Plattenbaues entgegen.
Es riecht nach Baustelle und unbestimmten Chemikalien, als wir die Treppe in den ersten Stock des halbfertigen Gebäudes emporgehen; im Erdgeschoss tummeln sich lärmende Menschen in einer Art Markthalle, darüber hatte jemand offensichtlich die Idee eines Hotels. Aus dem Fenster des Zimmers, das uns eine unsicher und ahnungslos wirkende Frau nach etwa fünfzehn Minuten der vergeblichen Schlüsselsuche aufschließt, fällt der Blick auf ein Baugerüst und eine graue Betonwand, auf dem Tisch grüßt uns eine vergessene leere Bierdose. Auf die Frage nach dem Preis hin telefoniert die ahnungslose Frau zunächst und sagt dann zögernd: einhundertfünfzig.
Außer uns ist niemand anwesend, vielleicht sind wir die einzigen und ersten Gäste in diesem Jahr. Mir kommt der Verdacht, dass es eigentlich keinen Preis gibt, dass die unverschämt hohe Summe gerade im Kopfe derjenigen Person am anderen Telefon entstanden ist, der die ahnungslose Frau von den beiden Touristen erzählte. Pro Person oder für uns beide, frage ich und blicke in ihr blöd grinsendes Gesicht. Verlegenes Schweigen. Pro Person? Die ahnungslose Frau nickt.
Als wir das zentrale Hotel von Wandzh verlassen, nieselt es gerade. Erschöpft und schweißgetränkt bewegen wir uns mit unseren Rucksäcken dorthin, wo uns die Existenz eines weiteren Gästehauses orakelt wurde. Niso blickt stumpf geradeaus, als ob es zur Rechten und zur Linken keine grandiosen Berge zu bestaunen gäbe; ich verwende meine nach dem anstrengenden Reisetag verbliebene Rest-Aufmerksamkeit darauf, die an den Verwaltungsgebäuden prangenden Sprüche des allgegenwärtigen Präsidenten zu entziffern. Möglicherweise gab es zur Rechten und zur Linken auch gar keine grandiosen Berge, man weiß es nicht genau, mit Sicherheit kann nur gesagt werden, dass wir irgendwann vor einem freistehenden Objekt mit verschlossenen Türen und einem ausgeblichenen Schild „Mehmonchona“, Gästehaus, stehen. Meine Frau lässt sich auf einen betonierten Terrassenvorsprung sinken und malt mit ihrer Fußspitze Figuren in den Sand. Ich finde nach einigem Suchen einen barttragenden Jugendlichen, der verspricht, die Schlüssel zu dem Objekt zu organisieren.
Wir treten ein. Es ist fast fertig, sagt mein Begleiter, während wir zwischen Schutt und Staub eine rohe Betontreppe emporsteigen, warmes Wasser gäbe es auch, der Hausherr sei gerade in Dushanbe, doch wenn er zurückkäme, dann harre das Luxusdomizil der unmittelbar bevorstehenden Vollendung. Irgendwo hinter einer aus den Angeln kippenden Tür zwischen Werkzeugen und Verpackungsmüll erspähe ich ein Bett. Der barttragende Jugendliche blickt erwartungsvoll in mein ausdrucksloses Gesicht. Ich schüttle den Kopf.
Meine Frau schlurft stumpf ihre Schritte zählend in die von mir bedeutete Richtung. Da der Nieselregen aufhört, ergreift mich hingegen Optimismus. Wir nähern uns einer Fabrikruine, wo uns die Existenz eines dritten Hotels versichert worden war. In einem wohnheimähnlichen Anbau an eine zu Bürgerkriegszeiten wohl abbruchreif geschossene Produktionshalle zeigt man uns zwei bettähnliche Metallgestelle in einem sauberen, hellen, ansonsten leeren Raum. Dusche – nein, Toilette – im Hof. Der Preis? Ich werde von einigen kurz gierig aufblitzenden Augenpaaren gemustert, ein kurzes Tuscheln, dann wird die Summe von zweihundert genannt. Da ich in ähnlicher Lage und Ausstattung schon einmal vierzig bezahlt hatte, interessiert mich nicht mehr, ob pro Person oder für uns beide. Der Regen hat aufgehört, also können wir auch im Freien schlafen, aneinandergekuschelt in unsere als Schlafsackersatz mitgenommenen Bettlaken. Ich wage nicht, Niso diesen Gedanken mitzuteilen.
Der knisternde Zettel in meiner Hemdbrusttasche mit der Telefonnummer bringt mich auf einen anderen Gedanken. Ich rufe den gemütlichen Mann an, der uns hierher mitgenommen hatte, und frage ihn frech, ob er nicht zwei gestrandete Touristen bei sich zuhause unterbringen möchte. Als wir kurz darauf in seinem Auto sitzen, ist unsere erleichterte Seele wieder für die Schönheit der Berge empfänglich: das Wandzh-Tal ist breit und schnurgerade, an seinem Ende leuchten unter zackigen Gipfeln die scheeweißen Hänge des Fedshenko-Gletschers. Nach einer halben Stunde Talaufwärtsfahrt erreichen wir das Dorf Bunaj. Der Name unseres Gastgebers, Orsu, bedeutet Traum, und wie ein Traum scheint uns die großzügig befensterte, teppichausgekleidete Sommerlaube auf dem von dichter, schatten- und feuchtigkeitsspendender Vegetation bedecktem Grundstück, in die uns Orsu einquartiert, der hier mit vier Kindern, Frau, Eltern, dem Bruder und dessen Familie wohnt. Niso, zu müde für jegliche Art von Gespräch, tut so, als ob sie kein Tadschikisch versteht, womit unsere Kommunikation deutlich sparsamer wird und sich auf den Hausherrn als Gesprächspartner beschränkt. Die Großmutter stellt uns Tee, frisches Fladenbrot, heiße Suppe und Konfekt auf den Tisch; Orsu, der sich wohl nicht mit ihr abgesprochen hat, lädt uns wenig später in sein dreietagiges Eurostandard-Haus zum Essen ein, wie in Russland üblich nicht auf dem Fußboden, sondern am Tisch; Stühle und eine Küchenzeile mit Herd, Kühlschrank und Arbeitsplatte gibt es auch. Noch vor Einbruch der Dunkelheit wickeln wir uns in die schweren Decken unserer Sommerlaube und fallen in traumlosen Schlaf.

Das Haus unseres Gastgebers Orsu im Wandzh-Tal