Eindrücke von einer Reise nach Tadschikistan, Teil 9
Wir bewegen uns. Mit zwanzig Stundenkilometern schiebt sich der LKW vorwärts in Richtung Chorugh, der „Hauptstadt des Pamir“, wie die unweit der afghanischen Grenze im Tal zwischen Vier- und Fünftausendern eingekesselte Siedlung inoffiziell genannt wird; wir schieben uns vorwärts, immer flussaufwärts am rechten Ufer entlang des Grenzflusses Pandsh, zunächst nach Nordosten, ab Khalaikhumb dann dem abknickenden Flusslauf nach Süden folgend, durch das sich immer schroffer in die Berge einschneidende Tal vorbei an lotrecht abfallenden Felswänden, legen eine Zwischenübernachtung im Dorf Kurgovod ein und setzen unseren Weg mit der gleichen Geschwindigkeit fort, bis uns gegen Mittag klar wird: wir schaffen es nicht. Die Trucks, an Bord derer wir zu Gast sind, fahren zu langsam. Morgen würden wir erst ankommen, übermorgen vielleicht, auf jeden Fall zu spät: Nisos Verwandtschaft in Furkat wartet auf uns, nach dem ungeplanten Wiedersehen muss nun unbedingt noch ein geplantes folgen, noch einmal möchten Onkel, Tanten, Schwager und Schwägerinnen, Cousinen und Cousins, Nichten, Neffen, Stiefbasen und Erzmütter uns in ihr gastfreundschaftliches Netz aufnehmen, uns tränken und verpflegen, diesmal in ihrer ebenso trinkender und speisender Gemeinschaft, denn der Ramadan ist zuende, Fröhlichkeit und Tanz stehen an, vielleicht das eine oder andere zu unseren Ehren geschlachtete Schaf. Die Vorfreude auf unser Erscheinen ist ebenso immens wie die Zeit knapp ist; von zwei Wochen in Tadschikistan ist schon eine verstrichen, nach dem plötzlichen Erscheinen käme nun unser plötzliches Nichterscheinen einer Katastrophe gleich. Wir werden Chorugh nicht mehr erreichen.
Wir bewegen uns. Mit zwanzig Stundenkilometern schiebt sich der LKW vorwärts in Richtung Chorugh, der „Hauptstadt des Pamir“, wie die unweit der afghanischen Grenze im Tal zwischen Vier- und Fünftausendern eingekesselte Siedlung inoffiziell genannt wird; wir schieben uns vorwärts, immer flussaufwärts am rechten Ufer entlang des Grenzflusses Pandsh, zunächst nach Nordosten, ab Khalaikhumb dann dem abknickenden Flusslauf nach Süden folgend, durch das sich immer schroffer in die Berge einschneidende Tal vorbei an lotrecht abfallenden Felswänden, legen eine Zwischenübernachtung im Dorf Kurgovod ein und setzen unseren Weg mit der gleichen Geschwindigkeit fort, bis uns gegen Mittag klar wird: wir schaffen es nicht. Die Trucks, an Bord derer wir zu Gast sind, fahren zu langsam. Morgen würden wir erst ankommen, übermorgen vielleicht, auf jeden Fall zu spät: Nisos Verwandtschaft in Furkat wartet auf uns, nach dem ungeplanten Wiedersehen muss nun unbedingt noch ein geplantes folgen, noch einmal möchten Onkel, Tanten, Schwager und Schwägerinnen, Cousinen und Cousins, Nichten, Neffen, Stiefbasen und Erzmütter uns in ihr gastfreundschaftliches Netz aufnehmen, uns tränken und verpflegen, diesmal in ihrer ebenso trinkender und speisender Gemeinschaft, denn der Ramadan ist zuende, Fröhlichkeit und Tanz stehen an, vielleicht das eine oder andere zu unseren Ehren geschlachtete Schaf. Die Vorfreude auf unser Erscheinen ist ebenso immens wie die Zeit knapp ist; von zwei Wochen in Tadschikistan ist schon eine verstrichen, nach dem plötzlichen Erscheinen käme nun unser plötzliches Nichterscheinen einer Katastrophe gleich. Wir werden Chorugh nicht mehr erreichen.
Am Eingang zum Wandzh-Tal, an einer staubigen
Weggabelung des sich hier zu einer lichten Ebene weitenden Grenztales neben
einem unsere Pässe kontrollierenden Polizeiposten, lassen wir uns absetzen.
Hier ist es auch schön, hatte der Fernfahrer gesagt, einer der wenigen Menschen
übrigens, die nicht gefastet und unterwegs immer wieder zur Colaflasche
gegriffen hatten, was von uns mit einer gewissen Beruhigung zur Kenntnis
genommen wurde; hier sei es jedenfalls auch schön, und mein Geld solle ich
bitte in der Tasche stecken lassen. Vielleicht verdienen tadschikische Trucker
ja gar nicht so schlecht, dass sie keines Zuverdienstes bedürfen, denn die von
mir gebotene Summe war deutlich mehr als nur ein symbolisches Almosen.
Mit dem Rücken Afghanistan zugewandt laufen wir die
zunächst menschen- und fahrzeugeleere, sandige Straße das Tal hinauf, bis uns
nach etwa einer Stunde ein gemütlicher, sympathischer junger Mann aus unserer
einbrechenden Erschöpfung erlöst und uns mit dem Auto nach Wandzh mitnimmt, das
zivilisatorische Zentrum der Region, wo uns ein Hotel oder Gästehaus mit Dusche
und weichen Betten erwartet. Der gemütliche junge Mann schreibt uns noch
schnell seine Telefonnummer auf einen Zettel und zeigt uns die Unterkunft, dann
steigen wir aus und streben der rohen Steinwand des unverputzten Plattenbaues
entgegen.
Es riecht nach Baustelle und unbestimmten
Chemikalien, als wir die Treppe in den ersten Stock des halbfertigen Gebäudes
emporgehen; im Erdgeschoss tummeln sich lärmende Menschen in einer Art
Markthalle, darüber hatte jemand offensichtlich die Idee eines Hotels. Aus dem
Fenster des Zimmers, das uns eine unsicher und ahnungslos wirkende Frau nach
etwa fünfzehn Minuten der vergeblichen Schlüsselsuche aufschließt, fällt der
Blick auf ein Baugerüst und eine graue Betonwand, auf dem Tisch grüßt uns eine
vergessene leere Bierdose. Auf die Frage nach dem Preis hin telefoniert die
ahnungslose Frau zunächst und sagt dann zögernd: einhundertfünfzig.
Außer uns ist niemand anwesend, vielleicht sind wir
die einzigen und ersten Gäste in diesem Jahr. Mir kommt der Verdacht, dass es
eigentlich keinen Preis gibt, dass die unverschämt hohe Summe gerade im Kopfe
derjenigen Person am anderen Telefon entstanden ist, der die ahnungslose Frau
von den beiden Touristen erzählte. Pro Person oder für uns beide, frage ich und
blicke in ihr blöd grinsendes Gesicht. Verlegenes Schweigen. Pro Person? Die ahnungslose Frau nickt.
Als wir das zentrale Hotel von Wandzh verlassen,
nieselt es gerade. Erschöpft und schweißgetränkt bewegen wir uns mit unseren
Rucksäcken dorthin, wo uns die Existenz eines weiteren Gästehauses orakelt
wurde. Niso blickt stumpf geradeaus, als ob es zur Rechten und zur Linken keine
grandiosen Berge zu bestaunen gäbe; ich verwende meine nach dem anstrengenden
Reisetag verbliebene Rest-Aufmerksamkeit darauf, die an den Verwaltungsgebäuden
prangenden Sprüche des allgegenwärtigen Präsidenten zu entziffern.
Möglicherweise gab es zur Rechten und zur Linken auch gar keine grandiosen
Berge, man weiß es nicht genau, mit Sicherheit kann nur gesagt werden, dass wir
irgendwann vor einem freistehenden Objekt mit verschlossenen Türen und einem
ausgeblichenen Schild „Mehmonchona“, Gästehaus, stehen. Meine Frau lässt sich
auf einen betonierten Terrassenvorsprung sinken und malt mit ihrer Fußspitze
Figuren in den Sand. Ich finde nach einigem Suchen einen barttragenden
Jugendlichen, der verspricht, die Schlüssel zu dem Objekt zu organisieren.
Wir treten ein. Es ist fast fertig, sagt mein
Begleiter, während wir zwischen Schutt und Staub eine rohe Betontreppe
emporsteigen, warmes Wasser gäbe es auch, der Hausherr sei gerade in Dushanbe,
doch wenn er zurückkäme, dann harre das Luxusdomizil der unmittelbar
bevorstehenden Vollendung. Irgendwo hinter einer aus den Angeln kippenden Tür
zwischen Werkzeugen und Verpackungsmüll erspähe ich ein Bett. Der barttragende
Jugendliche blickt erwartungsvoll in mein ausdrucksloses Gesicht. Ich schüttle
den Kopf.
Meine Frau schlurft stumpf ihre Schritte zählend in
die von mir bedeutete Richtung. Da der Nieselregen aufhört, ergreift mich hingegen
Optimismus. Wir nähern uns einer Fabrikruine, wo uns die Existenz eines dritten
Hotels versichert worden war. In einem wohnheimähnlichen Anbau an eine zu
Bürgerkriegszeiten wohl abbruchreif geschossene Produktionshalle zeigt man uns
zwei bettähnliche Metallgestelle in einem sauberen, hellen, ansonsten leeren
Raum. Dusche – nein, Toilette – im Hof. Der Preis? Ich werde von einigen kurz
gierig aufblitzenden Augenpaaren gemustert, ein kurzes Tuscheln, dann wird die
Summe von zweihundert genannt. Da ich in ähnlicher Lage und Ausstattung schon
einmal vierzig bezahlt hatte, interessiert mich nicht mehr, ob pro Person oder
für uns beide. Der Regen hat aufgehört, also können wir auch im Freien schlafen,
aneinandergekuschelt in unsere als Schlafsackersatz mitgenommenen Bettlaken.
Ich wage nicht, Niso diesen Gedanken mitzuteilen.
Der knisternde Zettel in meiner Hemdbrusttasche mit
der Telefonnummer bringt mich auf einen anderen Gedanken. Ich rufe den
gemütlichen Mann an, der uns hierher mitgenommen hatte, und frage ihn frech, ob
er nicht zwei gestrandete Touristen bei sich zuhause unterbringen möchte. Als
wir kurz darauf in seinem Auto sitzen, ist unsere erleichterte Seele wieder für
die Schönheit der Berge empfänglich: das Wandzh-Tal ist breit und schnurgerade,
an seinem Ende leuchten unter zackigen Gipfeln die scheeweißen Hänge des
Fedshenko-Gletschers. Nach einer halben Stunde Talaufwärtsfahrt erreichen wir
das Dorf Bunaj. Der Name unseres Gastgebers, Orsu, bedeutet Traum, und wie ein
Traum scheint uns die großzügig befensterte, teppichausgekleidete Sommerlaube
auf dem von dichter, schatten- und feuchtigkeitsspendender Vegetation bedecktem
Grundstück, in die uns Orsu einquartiert, der hier mit vier Kindern, Frau,
Eltern, dem Bruder und dessen Familie wohnt. Niso, zu müde für jegliche Art von
Gespräch, tut so, als ob sie kein Tadschikisch versteht, womit unsere
Kommunikation deutlich sparsamer wird und sich auf den Hausherrn als
Gesprächspartner beschränkt. Die Großmutter stellt uns Tee, frisches Fladenbrot,
heiße Suppe und Konfekt auf den Tisch; Orsu, der sich wohl nicht mit ihr
abgesprochen hat, lädt uns wenig später in sein dreietagiges Eurostandard-Haus zum Essen ein, wie in
Russland üblich nicht auf dem Fußboden, sondern am Tisch; Stühle und eine
Küchenzeile mit Herd, Kühlschrank und Arbeitsplatte gibt es auch. Noch vor
Einbruch der Dunkelheit wickeln wir uns in die schweren Decken unserer
Sommerlaube und fallen in traumlosen Schlaf.
Das Haus unseres Gastgebers Orsu im Wandzh-Tal |