In der Reiseabteilung von Leipzigs größter
Buchhandlung gibt es einfach alles: großformatige Bildbände, detaillierte Länderführer,
exotische Wanderkarten über sämtliche Weltgegenden und Reiseberichte aller
Abenteuerlichkeitsgrade. Vergeblich aber suche ich nach einem Werk über das
Land, das ich bereisen möchte. Vielleicht kein Zufall, ist doch Moldawien
gemessen an der Touristenanzahl eines der unbeliebtesten Reiseziele Europas.
Der auch Republik Moldau genannte Staat zwischen Rumänien und der Ukraine hat
weder Berge noch Küste, weder spektakuläre Seen noch herausragende
Altstadtarchitektur. Das Land ist etwas kleiner als die Schweiz und gemessen am Durchschnittseinkommen neben der
Ukraine heute das ärmste Land Europas.
Nichts Erwähnenswertes erwartend, besteige ich eine
Woche später den O-Bus, der mich vom Flughafen der Hauptstadt Chişinău
in ihr Zentrum bringt. Die Fahrkarte kostet vier Leu, umgerechnet zwanzig Cent;
auf Schildern und Aushängen studiere ich die ungewohnten Häkchen und Dächlein,
mit denen einige der hier verwendeten lateinischen Buchstaben versehen sind.
Amtssprache ist Rumänisch, immer wieder ist auch Russisch zu hören. Ich
erinnere mich an fleißige Moldawierinnen in meinen Potsdamer
Integrationskursen, die auf der Suche nach Ausbildung und Arbeit nach
Deutschland gekommen waren, da es in ihrer Heimat mit den Verdienstmöglichkeiten
nicht zum Besten bestellt ist. An der Haltestelle neben dem Denkmal des ein
Kreuz hoch in die Luft reckenden Nationalhelden Ştefan chel Mare erwartet mich neben seinem schicken Audi mein
Couchsurfing-Gastgeber in modischen
zerrissenen Jeans, einem kurzärmligen Hemd und Tattoos an den Armen. Wladislaw setzt
seine Sonnenbrille kurz ab, begrüßt mich mit souveränem Lächeln, stellt mir
seine in Holland studierende Tochter auf dem Beifahrersitz vor und fragt, was
ich hier in der Stadt zwei ganze Tage lang zu tun gedenke, ein halber reiche
doch vollkommen. Und in der Umgebung? Naja, grüne Hügel und Weinanbau, weiter
eigentlich nichts. „In Moldawien wird wunderbarer Wein produziert, weshalb es
auch viele Trinker gibt. Hast du von den Anonymen
Alkoholikern gehört? Ich muss jetzt
gleich noch zu einem solchen Treffen. Kommst du mit?“
Kurz darauf betreten wir mit Verspätung einen
kleinen Raum, in dem eng aneinander auf kleinen Stühlen und Bänken etwa vierzig
Leute sitzen, die für mich auf den ersten Blick wie der Querschnitt aus einer
ganz normalen, alltäglichen Menschenmenge wirken. Mein Gastgeber winkt locker
in die Runde; gerade verliest ein junger Mann an einem Tischchen ein mir nicht
ganz verständliches Regelwerk, dann tritt kurz Stille ein.
„Ich bin Sascha“, sagt schließlich einer der Männer
auf den kleinen Stühlen an der Wand. Zustimmendes Raunen. „Hallo Sascha!“,
rufen einige aufmunternd. „Ich bin Alkoholiker“, setzt er nach kurzer
Überwindung fort, „seit drei Monaten, zwei Wochen und vier Tagen nüchtern.“
Frenetischer, ehrlicher Applaus als Antwort, dann ist der Nächste an der Reihe.
Alle nennen ihre Namen, bekennen sich als Süchtige und nennen den Zeitraum,
seit wann sie es geschafft haben, nicht zu trinken, bei einigen heißt es nur
„heute nüchtern“. Außer dreien im Raum, eine Tochter und eine Ehefrau eines
Alkoholikers und ich, sind alle persönlich betroffen. Wladislaw ist seit vier
Jahren trocken. Jetzt wird mir auch klar, warum auf seinem Couchsurfing-Profil als Interessensgebiet „Erfahrungsaustausch über
das Ablegen schlechter Gewohnheiten“ steht. Mein Gastgeber trank seit dem zwölften
Lebensjahr, ist zweimal geschieden und hat eine eigene Firma
pleitegewirtschaftet, wird er mir später erzählen, dann habe er die Kurve
gekriegt und sein Leben radikal geändert; jetzt scheint er wieder ganz
erfolgreich zu sein, zumindest stahlt er eine bestimmte Lockerheit aus, die ich
typisch finde für Geschäftsleute, denen es materiell gut geht und die es
gewohnt sind, andere anzuleiten.
Nach dem Ende der Vorstellungsrunde ist der Teilen genannte Erfahrungsaustausch angesagt:
einige erzählen von ihrem Leben mit der Sucht, während die anderen ohne zu
unterbrechen zuhören. Zum Abschied stehen alle auf, geben sich die Hand und
sprechen das bekannte Gebet mit der Bitte um die Kraft, die nötigen Dinge zu
ändern und die nicht änderbaren Dinge zu ertragen. Mit Tee oder Kaffee in Plastikbechern
begibt man sich dann auf die Straße vor dem Haus und steht plauschend im
warmen, hellen Abend. Hier in dieser Runde sprechen alle Russisch sprechen. Wladislaw
erklärt mir, dass die Gruppe dreimal wöchentlich zusammenkommt, immer im
Wechsel mit den Treffen der Anonymen Narkomanen, zu denen er auch noch geht.
Wegen seiner früheren Spielsucht, das sei vergleichbar mit dem Drogenkonsum.
Zusammen mit einer dünnen, aufgetakelten Frau, die
mir mein Gastgeber als seine Freundin vorstellt, betreten wir die Wohnung in
einem achtgeschossigen sowjetischen Plattenbau. Ich schlafe auf einem
Ausklappsessel in der Küche; der Kühlschrank wohl noch aus Brezhnjew-Zeiten
macht gefühlt Lärm wie ein Traktor, eine lila Rassekatze umschleicht und
ignoriert mich dann zum Glück. Am nächsten Tag dann ein Spaziergang durch das
Zentrum von Chişinău. Ich betrete einige der zahlreichen orthodoxen Kirchen,
staune über die EU-Flaggen vor einigen Regierungsgebäuden, wo die ehemalige
Sowjetrepublik doch längst noch nicht EU-Mitglied ist und nur etwa die Hälfte
der Bevölkerung eine Westorientierung befürwortet, und betrete schließlich
etwas gelangweilt die Touristeninformation. „Republik Moldau erleben“, heißt eine
deutschsprachige Hochglanzbroschüre, finanziert von Schweden und USAID; von ruhiger grüner Landschaft mit
Kirchen und Klöstern unberührt vom Massentourismus ist die Rede, von köstlichen
Weinen und guter Küche; spannender finde ich da schon den alten Mann, der vor
dem Eingang steht und mit vier Bällen jongliert, dann mit fünfen. „Mein Freund
Florian in Berlin kann sieben“, sage ich etwas frech. Der Jongleur wirft einen
der fünf Bälle zur Seite und schafft es, eine ganze Weile die vier übrigen
Bälle mit einer einzigen Hand in der Luft zu halten. „Kann Florian das auch?“,
fragt er und lacht über mein fasziniertes Kopfschütteln.
Ein paar Schritte weiter auf einem
Freiluftflohmarkt wird dann die UdSSR wieder lebendig: auf Tüchern ausgebreitet
hunderte von Partei-, Armee- und Werktätigen-Abzeichen, Münzen, Parteiausweisen
und alte Postkarten. Ich erwerbe ein wie neu wirkendes, unbeschriebenes Komsomolskij bilet, ein Mitgliedsbüchlein der sowjetischen Jugendorganisation,
verfasst auf Russisch und Rumänisch, das damals hier Moldawisch genannt und mit kyrillischen Buchstaben geschrieben wurde,
sowie für jeweils wenige Leu einige Rubel- und deutsche Markscheine aus der
Zaren- und Kaiserzeit. Später bereue ich, dem Verkäufer nicht seinen kompletten
Geldbestand abgekauft zu haben. Mein Bruder würde die Scheine in Deutschland per Ebay bestimmt für das Zehnfache
weiterverscherbeln können.
Lebendig wird die Sowjetunion auch im
Nationalmuseum, allerdings auf eher gruselige Weise: eine Sonderausstellung ist
dem Thema Deportation und GULAG
gewidmet. Wie auch die baltischen Staaten musste Modawien eine Welle von Terror
und Vertreibung in der Stalinzeit über sich ergehen lassen. Die kommunistische
Epoche wird als Okkupation
bezeichnet, die Vereinigung mit Rumänien zwischen den Weltkriegen als
kulturelle Blütezeit dargestellt. Schmunzelnd, obwohl es eigentlich sicher
nicht zum Lachen ist, studiere ich ein paar der handschriftlichen Dokumente
näher. „Niemals, nicht unter den Rumänen und nicht unter den Faschisten haben
wir so ein [schlechtes] Brot gegessen wie euer sowjetischer Bäcker backt“,
heißt es in einem „Beschwerde“ überschriebenen Brief an das städtische Parteikomitee,
und in einem anderen: „Am 1. Januar 1947 hat der Funktionär des städtischen
Parteikomitees der Stadt Beltsy, Schewjakow, aus dem Lebensmittelgeschäft offen
zwei Laibe Weißbrot herausgetragen, und das, obwohl es in der Stadt wegen des
Hungers hunderte Dystrophische und Kranke gibt. Was gibt ihm das Recht dazu?
Auf Grundlage welches Gesetzesparagrafen bekommt der Parteifunktionär zwei
Laibe Weißbrot? Unternehmen Sie etwas gegen Korruption!“ Der Autor kam bald
nach dem Verfassen dieser Briefe für acht Jahre ins Lager.
Drei Tage später – zurückgekehrt aus Transnistrien,
dem Staat, welcher zugleich existiert und nicht existiert und der deshalb eines
gesonderten Kapitels würdig ist – klopfe ich an ein blaues Metalltor im Dorf
Cruseşti,
eine halbe Busstunde außerhalb Chişinăus. Der Motorlärm von der
Drehfräsmaschine dahinter verstummt, ein Mann mit nacktem Oberkörper, an dem
eine goldene Kette mit Kruzifix baumelt, öffnet das Tor und bittet mich herein.
Slawa, Jahrgang vierundsechzig, ist durch seinen Sohn über meine Ankunft
informiert und hat auf mich gewartet, ein Sohn, der die Couchsurfing-Idee auf seine eigene Weise versteht und Gäste nicht
selbst empfängt, sondern sie zu seinem alleinstehenden Vater schickt, wie sich
herausstellen wird, damit dieser nicht so einsam ist und durch die Gäste ein
wenig weite Welt im Haus hat. Kerniger Handschlag, erstmal Platz auf einem
Hocker vor dem Haus nehmen, stark gesüßter löslicher Kaffee, rauchen. Obwohl
ich eher ein schöngeistiger Träumer bin, hat mich die Lebenserfahrung auch den
guten Umgang mit geerdeten Praktikern gelehrt. Als erstes verschaffe ich mir
Respekt, indem ich das Lada-Wrack im Hof sofort als Zhiguli 2101 identifiziere, dann lasse ich mir sein Leben erzählen:
Slawa hat zweiundzwanzig Jahre in Moskau gelebt und wurde dann ausgewiesen,
weil er eine Weile ohne Arbeitserlaubnis tätig war. Die Jungen wollten heute nach
Europa, die Älteren erinnerten sich mit Wehmut an die Stabilität und soziale Gleichheit
von früher und sind für eine engere Anbindung an Russland, so einfach sei das!
Früher galt Moldawien als wohlhabend, der Obstgarten der Sowjetunion, und
heute? Umgerechnet hundertzwanzig Euro betrage sein Monatslohn als Fahrer.
Außer Wein und Obst habe Moldawien nichts zu bieten, und das Obst sei auf dem
europäischen Markt nicht konkurrenzfähig – ob ich nicht die krummen, buckligen
Aprikosen gesehen hätte?
Es ist angenehm warm, ein Dach aus üppig
fruchtenden Weinranken schützt uns vor der südosteuropäischen Sonne. Später
spaziere ich durch das Dorf, vorbei an zahlreichen überdachten Ziehbrunnen –
die allerdings nicht mehr in Verwendung sind, da inzwischen jedes Haus
fließendes Wasser hat (wovon die Bewohner sibirischer Dörfer nur träumen
können) – und hölzernen oder steinernen Kruzifixen an Straßenkreuzungen mit
Totenkopfsymbol zu Jesus‘ Füßen. Auf Feldern hinter den Häusern erstrecken sich
Sonnenblumenreihen bis zum Horizont. Nachdem die Sonne verschwunden ist, gewinne
ich noch drei Schachpartien gegen Slawa, während derer anderthalb Bierliter in
seiner Kehle verschwinden und zwei Weinbrandgläschen, die er aus dem von seinen
Vorfahren gemauerten halbrunden Gewölbekeller hervorholt. Vor dem Schlafengehen
zeigt mir mein Gastgeber noch allerlei selbst erdachte Geräte und Apparaturen,
darunter ein aus einer auf einen Stiel gesteckten Bohrmaschine konstruierten
Freischneider. Geldmangel macht erfinderisch, sagt er, der niemals auf die Idee
kommen würde, etwas nicht mehr Funktionierendes einfach wegzuwerfen.
Jongleur vor der Touristeninformation (oben). "Überprüfe dein Gewicht" (unten) |
Kruzifixe und Ziehbrunnen in einem moldawischen Dorf |