Montag, 31. August 2015

Mein erstes Wochenende am Baikal



Am letzten Wochenende fand ich mich am Ufer des Baikalsees wieder, Fußball spielend mit dem 6-jährigen Wanja, als Tramper im Toyota der etwa 55-jährigen Ljudmila und frühstückend bei der 89-jährigen Urgroßmutter Anja. Das kam so:
Am Samstagmorgen setzte ich mich in die Elektritschka, den Vorortzug, der gemächlich und oft haltend von Ulan-Ude nach Westen zuckelt, und fuhr bis zur nach etwa einer Stunde erreichten Endstation Tataurovo. Bei der Fahrkartenkontrolle schaute die Schaffnerin erst das Ticket an, dann mich, dann noch einmal verwundert das Ticket und fragte schließlich, was ich denn in Tataurovo wolle, da gäbe es nur das Dorf und sonst nichts, das Ende der Welt sozusagen. Anscheinend fiel ich auf unter den vielen Omas und Opas, die ihre Datschen entlang der Bahnstrecke besuchen und die den Passagierbestand im Wesentlichen ausmachen. Ach, Sie wollen weiter zum Baikal? Na, da haben Sie sich ja was vorgenommen. Warum nehmen Sie keine Marschrutka, die fährt direkt hin... Der Zug fuhr entlang des Flusses Selengá, man hat einen wunderschönen Blick auf den Fluss, die nicht allzu hohen Berge dahinter und die sich in der Flussaue aneinanderdrängenden Datschengrundstücke. In Tataurovo stieg ich aus, lief eine Weile durch das wie ausgestorbene, stille Dorf, fotografierte das einzige fröhlich glänzende Gebäude – die kleine Holzkirche, die sich wie eine Perle in der Dorfmitte hervortat – und begab mich dann auf der staubigen Landstraße M55, der zentralen West-Ost-Lebensader Sibiriens, Richtung Norden, erwartungsvoll den Arm ausstreckend, wenn Autos vorbeifuhren.
Nach etwa 20 Minuten hielt ein kleiner Toyota, mit der jungen Großmutter Ljudmila am Steuer und dem kleinen Enkel Wanja auf der Rückbank. Was denn mein Ziel wäre? Die Siedlung Babuschkin? Wartet da jemand auf Sie? Nein? Na, dann können Sie eigentlich auch mit uns mitkommen. Wir fahren nach Oimur. Das liegt auch am Baikalsee, das ist für Sie doch genauso interessant, und uns ist nicht so langweilig. Wir haben dort ein Häuschen, da übernachten Sie mit uns, und morgen fahren wir zurück. Einverstanden?
Und so ergab es sich, dass ich nicht wie geplant westlich, sondern östlich der Mündung des Selenga-Flusses mein Wochenende verbrachte, im Häuschen von Ljudmila und dem dahinterliegenden Garten, wo ungefähr das gleiche wächst wie bei meiner Mutter hinterm Haus, nur nicht ganz so üppig und ein bisschen später reif – ich kam gerade richtig zur Himbeerernte, die in Leipzig schon vor einem Monat abgeschlossen war. Das 2000-Seelen-Dorf Oimur liegt an einer für den Baikalsee eher untypischen Stelle, an den Sandstrand schließen sich weite grüne Wiesen an, Berge sind nicht sichtbar und das Wasser ist extrem flach – man läuft 100 Meter in den See und das Wasser geht immer noch nur bis zur Hüfte. Auf den Wiesen grasen Kühe und Pferde, gelegentlich springen einige Ziegen herum. Die Häuser haben kein fließendes Wasser, die meisten Leute haben eine Art Brunnen im Garten – ein gebohrtes tiefes Loch mit einer Pumpe drin und einem Schlauch. Im Zentrum steht eine schöne Kirche, an der ich einen fotografierenden Franzosen traf, der mit seinem Campingmobil seit einem halben Jahr Asien durchquert, und das, ohne eine einzige Fremdsprache zu sprechen. Ich badete mit dem kleinen Wanja, las ihm Märchen vor und bolzte auf der Wiese, die künftig mal ein Kartoffelacker werden soll.
Am Sonntag Morgen fand ich das Dorf in eine Mischung aus Morgennebel und Waldbranddunst gehüllt. Ich machte mich auf den Weg, um einmal zum Dorfende zu laufen. Weit kam ich nicht. „Junger Mann“, sprach mich ein runzliges Mütterchen mit grellrotem Kopftuch und grüner Strickjacke an, „können Sie mir kurz was helfen? Kommen Sie mal rein zu mir.“ Das Mütterchen wollte Baba Anja genannt werden (Baba heißt Großmutter, wie sich dann herausstellen sollte, war sie längst Urgroßmutter) und brauchte kurz jemanden zum Anpacken beim Umstellen eines Tisches. Anschließend sollte ich noch „zum Tee“ bleiben, das heißt, zu einem üppigen zweiten Frühstück, und sie erzählte mir ihre Geschichte – Mann vor 50 Jahren angetrunken mit dem Boot alleine rausgefahren und ertrunken, einziger Sohn wohnt bei Kaliningrad ("das ist doch gleich da bei Ihnen in der Nähe"), wo sie nicht hinziehen will, lieber auf heimatlicher Erde sterben. Alten Menschen zu begegnen, die noch ganz klar im Kopf sind, finde ich besonders schön und wertvoll.
Nachmittags fuhren wir auf der wunderbar frisch asphaltierten Straße M55 zurück nach Ulan-Ude, unterwegs hielten wir noch an einer für Anhänger des Schamanenkultes heiligen Städte mit Holzstelen und in die Bäume geknoteten Tüchern. Ich kam gerade noch rechtzeitig, um meine Wohnung aufzuräumen, bevor mein allererster Besuch hier vor der Tür stand.

Verfall und Glaube: Caféruine und Kirche in Tataurovo


Was sagen die Tierärzte unter meinen Lesern zu den Baikal-Kühen?
Wanja mit Oma beim Frühstückmachen: in Teig eingerollte Würstchen


Die 89-jährige Urgroßmutter Anja