Am letzten Wochenende fand ich
mich am Ufer des Baikalsees wieder, Fußball spielend mit dem 6-jährigen Wanja,
als Tramper im Toyota der etwa 55-jährigen Ljudmila und frühstückend bei der
89-jährigen Urgroßmutter Anja. Das kam so:
Am Samstagmorgen setzte ich mich
in die Elektritschka, den Vorortzug,
der gemächlich und oft haltend von Ulan-Ude nach Westen zuckelt, und fuhr bis
zur nach etwa einer Stunde erreichten Endstation Tataurovo. Bei der
Fahrkartenkontrolle schaute die Schaffnerin erst das Ticket an, dann mich, dann
noch einmal verwundert das Ticket und fragte schließlich, was ich denn in
Tataurovo wolle, da gäbe es nur das Dorf und sonst nichts, das Ende der Welt
sozusagen. Anscheinend fiel ich auf unter den vielen Omas und Opas, die ihre
Datschen entlang der Bahnstrecke besuchen und die den Passagierbestand im
Wesentlichen ausmachen. Ach, Sie wollen weiter zum Baikal? Na, da haben Sie
sich ja was vorgenommen. Warum nehmen Sie keine Marschrutka, die fährt direkt hin... Der Zug fuhr entlang des
Flusses Selengá, man hat einen
wunderschönen Blick auf den Fluss, die nicht allzu hohen Berge dahinter und die
sich in der Flussaue aneinanderdrängenden Datschengrundstücke. In Tataurovo
stieg ich aus, lief eine Weile durch das wie ausgestorbene, stille Dorf,
fotografierte das einzige fröhlich glänzende Gebäude – die kleine Holzkirche,
die sich wie eine Perle in der Dorfmitte hervortat – und begab mich dann auf
der staubigen Landstraße M55, der zentralen West-Ost-Lebensader Sibiriens, Richtung
Norden, erwartungsvoll den Arm ausstreckend, wenn Autos vorbeifuhren.
Nach etwa 20 Minuten hielt ein
kleiner Toyota, mit der jungen Großmutter Ljudmila am Steuer und dem kleinen
Enkel Wanja auf der Rückbank. Was denn mein Ziel wäre? Die Siedlung Babuschkin?
Wartet da jemand auf Sie? Nein? Na, dann können Sie eigentlich auch mit uns
mitkommen. Wir fahren nach Oimur. Das liegt auch am Baikalsee, das ist für Sie
doch genauso interessant, und uns ist nicht so langweilig. Wir haben dort ein
Häuschen, da übernachten Sie mit uns, und morgen fahren wir zurück.
Einverstanden?
Und so ergab es sich, dass ich
nicht wie geplant westlich, sondern östlich der Mündung des Selenga-Flusses
mein Wochenende verbrachte, im Häuschen von Ljudmila und dem dahinterliegenden
Garten, wo ungefähr das gleiche wächst wie bei meiner Mutter hinterm Haus, nur
nicht ganz so üppig und ein bisschen später reif – ich kam gerade richtig zur
Himbeerernte, die in Leipzig schon vor einem Monat abgeschlossen war. Das
2000-Seelen-Dorf Oimur liegt an einer für den Baikalsee eher untypischen Stelle,
an den Sandstrand schließen sich weite grüne Wiesen an, Berge sind nicht
sichtbar und das Wasser ist extrem flach – man läuft 100 Meter in den See und
das Wasser geht immer noch nur bis zur Hüfte. Auf den Wiesen grasen Kühe und
Pferde, gelegentlich springen einige Ziegen herum. Die Häuser haben kein
fließendes Wasser, die meisten Leute haben eine Art Brunnen im Garten – ein gebohrtes
tiefes Loch mit einer Pumpe drin und einem Schlauch. Im Zentrum steht eine
schöne Kirche, an der ich einen fotografierenden Franzosen traf, der mit seinem
Campingmobil seit einem halben Jahr Asien durchquert, und das, ohne eine
einzige Fremdsprache zu sprechen. Ich badete mit dem kleinen Wanja, las ihm
Märchen vor und bolzte auf der Wiese, die künftig mal ein Kartoffelacker werden
soll.
Am Sonntag Morgen fand ich das
Dorf in eine Mischung aus Morgennebel und Waldbranddunst gehüllt. Ich machte
mich auf den Weg, um einmal zum Dorfende zu laufen. Weit kam ich nicht. „Junger
Mann“, sprach mich ein runzliges Mütterchen mit grellrotem Kopftuch und grüner
Strickjacke an, „können Sie mir kurz was helfen? Kommen Sie mal rein zu mir.“
Das Mütterchen wollte Baba Anja genannt werden (Baba heißt Großmutter, wie sich dann herausstellen sollte, war sie
längst Urgroßmutter) und brauchte kurz jemanden zum Anpacken beim Umstellen
eines Tisches. Anschließend sollte ich noch „zum Tee“ bleiben, das heißt, zu
einem üppigen zweiten Frühstück, und sie erzählte mir ihre Geschichte – Mann vor
50 Jahren angetrunken mit dem Boot alleine rausgefahren und ertrunken, einziger
Sohn wohnt bei Kaliningrad ("das ist doch gleich da bei Ihnen in der Nähe"), wo sie nicht hinziehen will, lieber auf
heimatlicher Erde sterben. Alten Menschen zu begegnen, die noch ganz klar im
Kopf sind, finde ich besonders schön und wertvoll.
Nachmittags fuhren wir auf der
wunderbar frisch asphaltierten Straße M55 zurück nach Ulan-Ude, unterwegs
hielten wir noch an einer für Anhänger des Schamanenkultes heiligen Städte mit
Holzstelen und in die Bäume geknoteten Tüchern. Ich kam gerade noch
rechtzeitig, um meine Wohnung aufzuräumen, bevor mein allererster Besuch hier
vor der Tür stand.
Verfall und Glaube: Caféruine und Kirche in Tataurovo |
Was sagen die Tierärzte unter meinen Lesern zu den Baikal-Kühen? |
Wanja mit Oma beim Frühstückmachen: in Teig eingerollte Würstchen |
Die 89-jährige Urgroßmutter Anja |