Nun sitze ich in meiner Wohnung
im Zentrum von Ulan-Ude. Hinter mir liegt eine Zugfahrt von genau 5641
Kilometern Länge quer durch das russische Riesenreich mit Gesprächen und
Schwarztee, schönen Landschaftseindrücken, drei Schachspielen und (leider nur
mäßig interessanter) Lektüre.
Meine zwei Koffer und den
Rucksack packte ich nach dem Einsteigen an verschiedenen Stellen auf die
oberste Ablage, im Zug ist genug Platz und niemand fragt nach dem Gewicht.
Mascha, die mich in den Wagen begleitete, stellte noch eine nicht ganz leichte
Tasche hinzu, die ich in Ulan-Ude ihren Verwandten übergeben sollte… wie ich
sie bat, möglichst unauffällig, denn man muss es ja mit dem Gepäck nicht
übertreiben, vielleicht gibt es ja doch eine Obergrenze.
Am ersten Tag machte ich
Bekanntschaft mit meinen auf der anderen Seite des Ganges sitzenden Nachbarn.
Es stellte sich heraus, dass das ältere Paar auch nach Ulan-Ude fuhr und der
Mann kurz nach der Wende drei Jahre in Jüterbog als russischer Offizier gedient
hatte. Sie meinten, ich solle mich auf einen trockenen und extrem kalten Winter
einstellen, erzählten von den ungewöhnlich vielen Waldbränden im Sommer und
beklagten das schlechte Obst und Gemüse aus China in ihrer Region. In
Jekaterinburg stieg eine nicht zu überhörende deutsche Reisegruppe in den
Nachbarwagen, unauffällig überquerten wir die Grenze zwischen Europa und Asien,
nur durch ein paar unauffällige Hügel gab sich das Uralgebirge zu erkennen.
Seit meiner ersten Reise mit der
Transsibirischen Eisenbahn im Jahre 2009 hat sich einiges verändert. Die
meisten Waggons sind moderner mit „Bio-Toiletten“, die dank geschlossenem
Kreislauf auch während der Standzeiten benutzt werden können, und man kann kein
Fenster mehr öffnen und sich fotografierend hinauslehnen. Es gibt viel weniger Babuschkas, die an den Bahnsteigen
Beeren, Piroggen und Tücher verkaufen - auf den meisten Bahnhöfen wurde ihr
wilder Handel verboten, statt dessen gibt es Kioske, wo ich Doschirak-Aufbrühnudeln und Kefir bekam,
um meine Essensvorräte aufzufrischen. Nicht verändert hat sich das Reisetempo:
ohne Standzeiten legte der Zug die 5641km in 77 Stunden zurück, was im
Durchschnitt 73 km/h entspricht.
Unterwegs quälte ich mich durch
die Lektüre von Bulgakovs „Meister und Margarita“: eine Aneinanderreihung von
grotesk-fantastischen Ereignissen im Moskau der 20er Jahre, mir blieb unklar,
wer eigentlich was will und worauf alles hinausläuft, interessant fand ich
lediglich einige religionsphilosophische Aspekte. Selten habe ich ein für mich sinnloseres
Buch gelesen, dem gleichzeitig ein so hoher literarischer Wert zugesprochen
wird. Da hilft es auch nicht weiter, dass im Anhang ein kluger
Literaturwissenschaftler eine Tiefenebene nach der anderen dort hineindeutet
und der Kommentar mir zu jeder zweiten Seite einen zeitgeschichtlichen Bezug erklärt.
Hinter Krasnojarsk setzte sich
meine Nachbarin auf einmal auf den freien Platz mir gegenüber und fing an, aus
dem Fenster blickend von der Taiga zu schwärmen, deren endlose Wälder nun begannen.
Pilze, Beeren, klare Bäche, endlose Natur! Am Abend des dritten Reisetages
stieg eine Gruppe burjatischer Studenten mit ihrer Gruppenleiterin ein, die in
der Nähe von Tomsk bei einem Festival burjatische Volkstänze aufgeführt hatten.
Letztere fing an zu lachen, als ich von meinem Aufenthalt in Moskau erzählte:
die Menschen dort würden sich wie Roboter benehmen, mechanisch laufend mit
Blick nach unten, und von ihrem Land hätten sie keine Ahnung – Burjaten werden
(ihres Äußeren wegen) oft für Chinesen gehalten und dann gefragt, woher sie so
gut Russisch können… Der junge Mann aus Ulan-Ude, mit dem ich Schach spielte,
warnte mich vor den Studenten an der Burjatischen Staatlichen Universität, wo
ich unterrichten werde: sie seien faul und undiszipliniert, und ich solle
gleich zu Anfang auf Respekt und Disziplin achten.
Am Morgen des vierten Reisetages wachte ich auf, als der Zug gerade in Sljudjanka hielt, blickte aus dem Fenster, und da war er - der Baikal, größter Süßwasserspeicher der Erde, sich geheimnisvoll öffnender Spalt in der Mitte Asiens (jedes Jahr bewegen sich die Ufer um einige cm voneinander weg), das vielbesungene Herz Sibiriens!
Am Morgen des vierten Reisetages wachte ich auf, als der Zug gerade in Sljudjanka hielt, blickte aus dem Fenster, und da war er - der Baikal, größter Süßwasserspeicher der Erde, sich geheimnisvoll öffnender Spalt in der Mitte Asiens (jedes Jahr bewegen sich die Ufer um einige cm voneinander weg), das vielbesungene Herz Sibiriens!
Abends wurde es immer schon gegen
20 Uhr dunkel und morgens um 3 Uhr hell – sich geradewegs nach Osten bewegend,
fuhr der Zug „in den Tag hinein“ und verkürzte diesen damit um mehr als eine
Stunde täglich. Das Ergebnis sind 5 Stunden Zeitunterschied zu Moskau hier in
der Baikalregion. Die Zeitdifferenz zu Deutschland beträgt 6 Stunden im Sommer
und 7 im Winter, da es in Russland keine Sommerzeit gibt. Am Bahnhof wurde ich
von Anatoli abgeholt, Deutsch-Dozent und mein künftiger Kollege, und zur für
mich bereitgehaltenen Wohnung gefahren.
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Brücke über die Selenga bei Ulan-Ude |
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Typische Wagen der Russischen Eisenbahn, РЖД = Российская железная дорога |
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Mein Traumhaus, leider nur kurz aus dem Zugfenster gesehen |
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Ein alter Wagen, noch aus ostdeutscher Produktion |
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Die Ausläufer des Östlichen Saian-Gebirges am Baikalsee |