Als ich vor einigen Tagen in die
Wohnung zog, fand ich auf der Spüle eine große Packung Lebensmittel-Soda, genau
dort, wo normalerweise das Geschirrspülmittel steht. Ich studierte die Packung
und stellte fest, dass es sich um eine Art Auflockerungsmittel zum Backen
handelt. Inzwischen habe ich erfahren, dass die Leute hier auch ihr Geschirr
damit waschen. Ich traue der Wirkung nicht ganz und habe es durch eine Flasche
herkömmliche Chemie ersetzt, hergestellt von „Henkel Russland“.
Fünf Gehminuten von meinem Haus
entfernt am Prospekt Pobedy (Sieges-Prospekt) steht auf einem großen Steinklotz
ein Panzer, etwas darunter ist ein ewiges Feuer – das Sieges-Denkmal,
obligatorisch auch in russischen Städten, die nie Frontgebiet waren. „Die Heldentat der sowjetischen Kämpfer und der Arbeiter des Hinterlandes wird für
immer im Gedächtnis des Volkes bleiben“, steht geschrieben. Lass uns am Panzer
treffen, schlage ich vor, wenn ich mich mit jemandem in der Stadt verabreden
möchte.
Vorgestern Abend habe ich mich
dort mit Bulat getroffen. Bulat ist der Bruder meiner Bekannten Mascha,
unverkennbar burjatischen Aussehens, obwohl er kein Burjatisch spricht, und hat
gerade den einjährigen Wehrdienst absolviert. Einen anderthalbjährigen
Zivildienst gibt es in Russland auch und er wurde bei der Musterung darauf
hingewiesen, wollte aber lieber zur Armee. Gibt es eigentlich noch die
berüchtigte dedowschtschina, wollte
ich wissen, das rituelle Quälen neuer Soldaten durch Ältere? Nein, meinte
Bulat, und wer gewalttätig wird, würde hart bestraft. Zum Studieren hat er
keine Lust und arbeitet jetzt in der Druck-Abteilung einer Reklameagentur. Vor
zwei Jahren hatte er mich mit Mascha in Potsdam besucht, der
Deutschlandaufenthalt hat ihn sehr beeindruckt. Inzwischen kann er auch Fahrrad
fahren (für Russland keine Selbstverständlichkeit), was ich damals vergeblich
versucht hatte ihm beizubringen.
Gestern Abend war der Panzer mein
Treffpunkt mit Irina. Den Kontakt zu ihr hatte ich über eine gemeinsame
Potsdamer Bekannte, die wie Irina in der örtlichen Bahaj-Gemeinde aktiv ist.
Irina ist auf einem Dorf östlich von Ulan-Ude aufgewachsen und spricht neben
Russisch auch Burjatisch, was keineswegs alle Burjaten tun – und außerdem auch
Englisch, was sie in dem gleichen Institut studiert hat, in dem ich auch
unterrichten werde. Jetzt arbeitet sie im Büro, auch einer Reklameagentur – das
gibt mehr Geld und ist weniger Stress als der Lehrerberuf, für den sie
eigentlich qualifiziert ist. Mit Irina erlebte ich auf dem zentralen Platz der
Stadt die Eröffnung der 18. Armbrust-Weltmeisterschaft, die gerade in Ulan-Ude
stattfindet. Ein typisch russischer, bombastisch-festlicher Auftakt mit
Ansprachen, Aufmärschen, tanzenden Mädchen in burjatischen Kostümen und
Mannschaften aus 16 Ländern, auch ein ukrainisches Team war dabei.
Anschließend lud mich Irina ein,
mit ihr und zwei Freundinnen ins CheGuevara zu gehen, eine Art
Restaurant-Disco. Nach kurzem Kampf meiner Neugierde mit dem üblichen Drang,
früh ins Bett zu gehen, überwog erstere. An den Tischen und auf der Tanzfläche
drängten sich hübsch zurechtgemachte Frauen – aufgrund des zentralasiatischen
Einschlags noch schöner als ohnehin überall in Russland -, Männer sah ich
ziemlich wenige. Es gibt einfach nicht genug, meinte meine Begleiterin
lakonisch. Warum nicht, wollte ich wissen. Irina zuckte die Achseln: Alkohol,
Armee, schwere Arbeit… In einer Vitrine lagen Rosen aus, die man für 100 Rubel
erwerben konnte. Der Eintritt kostete 300 Rubel, was ich nicht wenig finde bei einem
Durchschnittsgehalt von 25000 Rubeln hier, aber das war mir bei Russen schon
immer ein Rätsel: die Leute sind gut gekleidet, amüsieren sich und gehen
shoppen, dürften aber – bei den oft ziemlich westeuropäischen Preisen und ihrem
viel geringeren Einkommen – eigentlich kaum Geld haben. Der Umtauschkurs liegt
zurzeit bei für Leute aus dem Euroraum wie mich unverschämt günstigen 1:70 –
noch vor zwei Jahren war es 1:45.
Inzwischen hat mich auch meine
Amts-Vorgängerin Eliane, seit 12 Jahren in der Region, mit einem russischen
Mann verheiratet und zwei Kinder aufziehend, am Arbeitsplatz eingeführt und mir
mein künftiges (noch nicht richtig eingerichtetes) Büro am „Lehrstuhl für
Deutsch und Französisch“ übergeben. Ich bin außerordentlich gespannt auf meine
ersten Stunden mit den Studenten, für die am 1. September das Studienjahr
beginnt, und auf ihre Motivation, hier inmitten des endlosen Sibirien Deutsch
zu lernen. Ulan-Ude hat fast eine halbe Million Einwohner, folgende
Deutsch-Muttersprachler befinden sich darunter: Eliane, ich, der mit einer Burjatin
verheiratete Anstreicher Kalle und eine baptistische Schweizer Familie. Bald
kommt noch Susanne mit ihrem Mann dazu, die an einer Schule Deutsch
unterrichten wird. Vorübergehend wird die Deutsch-Community natürlich durch
Praktikanten und vor allem Touristen vergrößert, schließlich liegt Ulan-Ude an
der Transsibirischen Eisenbahn und da bietet es sich schon an, mal auszusteigen
und dem weltgrößten Lenin-Kopf einen Besuch abzustatten.
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Der Panzer am Sieges-Prospekt |
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Die Beschriftung über dem Ewigen Feuer wird poliert |
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Lenin (schwarz im Hintergrund) überwacht die Ereignisse |
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Kalter Kvas zur Erfrischung an heißen Tagen |