Samstag, 22. August 2015

Treffpunkt Panzer

Als ich vor einigen Tagen in die Wohnung zog, fand ich auf der Spüle eine große Packung Lebensmittel-Soda, genau dort, wo normalerweise das Geschirrspülmittel steht. Ich studierte die Packung und stellte fest, dass es sich um eine Art Auflockerungsmittel zum Backen handelt. Inzwischen habe ich erfahren, dass die Leute hier auch ihr Geschirr damit waschen. Ich traue der Wirkung nicht ganz und habe es durch eine Flasche herkömmliche Chemie ersetzt, hergestellt von „Henkel Russland“.
Fünf Gehminuten von meinem Haus entfernt am Prospekt Pobedy (Sieges-Prospekt) steht auf einem großen Steinklotz ein Panzer, etwas darunter ist ein ewiges Feuer – das Sieges-Denkmal, obligatorisch auch in russischen Städten, die nie Frontgebiet waren. „Die Heldentat der sowjetischen Kämpfer und der Arbeiter des Hinterlandes wird für immer im Gedächtnis des Volkes bleiben“, steht geschrieben. Lass uns am Panzer treffen, schlage ich vor, wenn ich mich mit jemandem in der Stadt verabreden möchte.
Vorgestern Abend habe ich mich dort mit Bulat getroffen. Bulat ist der Bruder meiner Bekannten Mascha, unverkennbar burjatischen Aussehens, obwohl er kein Burjatisch spricht, und hat gerade den einjährigen Wehrdienst absolviert. Einen anderthalbjährigen Zivildienst gibt es in Russland auch und er wurde bei der Musterung darauf hingewiesen, wollte aber lieber zur Armee. Gibt es eigentlich noch die berüchtigte dedowschtschina, wollte ich wissen, das rituelle Quälen neuer Soldaten durch Ältere? Nein, meinte Bulat, und wer gewalttätig wird, würde hart bestraft. Zum Studieren hat er keine Lust und arbeitet jetzt in der Druck-Abteilung einer Reklameagentur. Vor zwei Jahren hatte er mich mit Mascha in Potsdam besucht, der Deutschlandaufenthalt hat ihn sehr beeindruckt. Inzwischen kann er auch Fahrrad fahren (für Russland keine Selbstverständlichkeit), was ich damals vergeblich versucht hatte ihm beizubringen.
Gestern Abend war der Panzer mein Treffpunkt mit Irina. Den Kontakt zu ihr hatte ich über eine gemeinsame Potsdamer Bekannte, die wie Irina in der örtlichen Bahaj-Gemeinde aktiv ist. Irina ist auf einem Dorf östlich von Ulan-Ude aufgewachsen und spricht neben Russisch auch Burjatisch, was keineswegs alle Burjaten tun – und außerdem auch Englisch, was sie in dem gleichen Institut studiert hat, in dem ich auch unterrichten werde. Jetzt arbeitet sie im Büro, auch einer Reklameagentur – das gibt mehr Geld und ist weniger Stress als der Lehrerberuf, für den sie eigentlich qualifiziert ist. Mit Irina erlebte ich auf dem zentralen Platz der Stadt die Eröffnung der 18. Armbrust-Weltmeisterschaft, die gerade in Ulan-Ude stattfindet. Ein typisch russischer, bombastisch-festlicher Auftakt mit Ansprachen, Aufmärschen, tanzenden Mädchen in burjatischen Kostümen und Mannschaften aus 16 Ländern, auch ein ukrainisches Team war dabei.
Anschließend lud mich Irina ein, mit ihr und zwei Freundinnen ins CheGuevara zu gehen, eine Art Restaurant-Disco. Nach kurzem Kampf meiner Neugierde mit dem üblichen Drang, früh ins Bett zu gehen, überwog erstere. An den Tischen und auf der Tanzfläche drängten sich hübsch zurechtgemachte Frauen – aufgrund des zentralasiatischen Einschlags noch schöner als ohnehin überall in Russland -, Männer sah ich ziemlich wenige. Es gibt einfach nicht genug, meinte meine Begleiterin lakonisch. Warum nicht, wollte ich wissen. Irina zuckte die Achseln: Alkohol, Armee, schwere Arbeit… In einer Vitrine lagen Rosen aus, die man für 100 Rubel erwerben konnte. Der Eintritt kostete 300 Rubel, was ich nicht wenig finde bei einem Durchschnittsgehalt von 25000 Rubeln hier, aber das war mir bei Russen schon immer ein Rätsel: die Leute sind gut gekleidet, amüsieren sich und gehen shoppen, dürften aber – bei den oft ziemlich westeuropäischen Preisen und ihrem viel geringeren Einkommen – eigentlich kaum Geld haben. Der Umtauschkurs liegt zurzeit bei für Leute aus dem Euroraum wie mich unverschämt günstigen 1:70 – noch vor zwei Jahren war es 1:45.
Inzwischen hat mich auch meine Amts-Vorgängerin Eliane, seit 12 Jahren in der Region, mit einem russischen Mann verheiratet und zwei Kinder aufziehend, am Arbeitsplatz eingeführt und mir mein künftiges (noch nicht richtig eingerichtetes) Büro am „Lehrstuhl für Deutsch und Französisch“ übergeben. Ich bin außerordentlich gespannt auf meine ersten Stunden mit den Studenten, für die am 1. September das Studienjahr beginnt, und auf ihre Motivation, hier inmitten des endlosen Sibirien Deutsch zu lernen. Ulan-Ude hat fast eine halbe Million Einwohner, folgende Deutsch-Muttersprachler befinden sich darunter: Eliane, ich, der mit einer Burjatin verheiratete Anstreicher Kalle und eine baptistische Schweizer Familie. Bald kommt noch Susanne mit ihrem Mann dazu, die an einer Schule Deutsch unterrichten wird. Vorübergehend wird die Deutsch-Community natürlich durch Praktikanten und vor allem Touristen vergrößert, schließlich liegt Ulan-Ude an der Transsibirischen Eisenbahn und da bietet es sich schon an, mal auszusteigen und dem weltgrößten Lenin-Kopf einen Besuch abzustatten.

Der Panzer am Sieges-Prospekt
Die Beschriftung über dem Ewigen Feuer wird poliert
Lenin (schwarz im Hintergrund) überwacht die Ereignisse


Kalter Kvas zur Erfrischung an heißen Tagen