Dienstag, 18. August 2015

Moskau

(geschrieben am 14.08.15)

Heute Mittag werde ich im Kazaner Bahnhof den Zug 082IA, Wagen 16P besteigen, der mich in 3 Tagen, 17 Stunden und 4 Minuten nach Ulan-Ude bringt. Wie üblich habe ich einen oberen seitlichen Schlafplatz in einem offenen Großraumwagen („Plazkart“, worauf das „P“ hinter der Wagennummer verweist) gebucht und diesmal auch den Fahrplan mit allen Zwischenstationen ausgedruckt, um bei längeren Halten das Aussteigen und Sich-die-Beine-vertreten auf dem Bahnsteig nicht zu vergessen: 15 Minuten in Kazan, 50 Minuten in Jekaterinburg, 54 in Novosibirsk, 40 in Irkutsk… Zwischenhalte gibt es etwa aller zwei Stunden, die aber oft nur wenige Minuten dauern.
Ich besuche immer wieder gern den 12-Millionen-Moloch der russischen Hauptstadt und bin immer wieder froh, wenn ich nach ein paar Tagen abreisen kann. Auf Dauer wären die Fahrten in der höllisch laut kreischenden Metro, die sich durch die Gänge der Metrostationen wälzenden Menschenmassen und überhaupt die Zeit, die man in den oft proppenvollen Verkehrsmitteln verbringt, um von A nach B zu gelangen, nichts für mich. Für meine Bekannte Mascha, in Ulan-Ude geborene Geigerin, ist es hingegen genau das Richtige: ihre überschüssige Energie wird sie wunderbar los, indem sie von einem Ende der Stadt zum anderen hastet, meint sie. Zusammen mit ihr ging ich auf dem Bul’varnoje kol’co spazieren, einen den Stadtkern umspannenden Straßenring mit breitem Grünstreifen in der Mitte und zahlreichen Denkmälern, so dass der aufmerksamer Rundgang zugleich eine Reise durch die russische Musik- und Literaturgeschichte wurde. Nationaldichter Puschkin thront dort, der durch ein einziges Drama berühmt gewordene Gribojedov, Scholochov kauert in einem Boot, und Rachmaninov reckt dem Betrachter seine pianistischen Finger entgegen.
Eine Stunde dauert die Fahrt vom Zentrum zu Aram und Katja nach Njekrasovskoje, wo ich zu Gast bin in ihrer nagelneuen, hellen Wohnung in einem 17-geschossigen Hochhaus, umgeben von einem Meer an bis zu 25-etagigen Neubaublocks, wo vor wenigen Jahren noch blankes Feld war. Moskau dehnt sich mit großer Geschwindigkeit ins Umland aus, bei jedem Besuch studiere ich den Metroplan und staune über die sich nach außen verlängernden Linien mit neuen Stationen. Vor wenigen Jahren wurde der Stadt im Südwesten ein riesiges, bis dahin zum Moskauer Umland (Moskovskaja oblast‘) gehörendes Territorium einverleibt („Neu-Moskau“), so dass eine Umrisskarte Moskaus jetzt ganz eigenartig aussieht – ein Kreis mit einem großen Schwanz links unten.
Gestern Abend traf ich meine Bekannten, die ich im letzten Sommer im Altai am Fuße der Belucha kennengelernt hatte und zu denen auch Aram gehört. Leo, Maria, Kirill und Daniel freuten sich über das Wiedersehen, wir tranken in Leos Kindertanz-Studio Tee und nach einer Weile wurde ich gefragt, was man in Deutschland so allgemein über Russland denkt? Naja, rückständig und konservativ, versuchte ich es in einem Satz zusammenzufassen, eher Diktatur als Demokratie, keine Pressefreiheit, und Homosexuelle werden verfolgt. Leo schüttelte den Kopf und meinte, in der Sowjetunion habe er erfahren, was es heißt, keine Meinungs- und Pressefreiheit zu haben, dagegen schreibt und sagt doch jetzt jeder, was er will. Schwule verfolgt? In Moskau gebe es davon eine Menge, und sie können doch machen, was sie wollen, solange sie ihre Paraden nicht gerade am Festtag der Fallschirmspringer abhalten wollen (wie in diesem Jahr in einer Stadt passiert, was die „echten Jungs“ von der Armee natürlich provoziert) und nicht auch noch heiraten wollen. Aber die Minderheiten muss man doch auch berücksichtigen, warf ich ein und erzählte von Sternchen und Unterstrichen, die bei uns mitunter zwischen die Wörter geschoben werden, damit auch das „dritte Geschlecht“ nicht zu kurz kommt, woraufhin meine Gesprächspartner losprusteten und dachten, ich wolle sie veralbern.  



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