Tagsüber ist es schwül und etwas staubig hier, heute Abend
gab es zum ersten Mal einen kurzen, heftigen Regenschauer und ein Gewitter.
Vorgestern nach dem Aufstehen um kurz nach 6 Uhr stellte ich
fest, dass ich keinen Appetit auf meinen üblichen morgendlichen Schwarztee
hatte. Kurzerhand ging ich in das 24 Stunden geöffnete Lebensmittelgeschäft
zwei Häuser weiter, um ein Glas löslichen Kaffee zu kaufen. Die Tür war
verschlossen, aber es war Licht, ein Fenster geöffnet und ich sah die junge
Verkäuferin mit dem Kopf auf der Theke liegend schlafen. Durch mein Klopfen
wachte sie auf, reichte mir die gewünschte Ware heraus und legte sich
wahrscheinlich danach wieder hin.
Eine Straße weiter befindet sich eine kleine Postfiliale,
der ich einen Besuch abstattete, um Briefmarken für Post nach Deutschland zu
kaufen. Zu meinem Erstaunen bekam ich 50-Rubel-Marken, wenige Tage zuvor hatte
ich in der Hauptpost mit 34 Rubeln frankierte Umschläge zum Absenden in meine
Heimat erworben. „Ich gebe Ihnen lieber etwas mehr“, meinte die
Postmitarbeiterin, „die Tarife ändern sich manchmal, und dann wird der Brief
nicht angenommen und kommt zurück.“ Diesem Argument wollte ich mich nicht
verschließen, und deshalb bekommen jetzt einige Leute von mir Briefe, die mit
34 Rubeln frankiert sind und andere solche mit 50 Rubeln.
Meine im Moment fast täglichen Joggingrunden führten mich ans
Ufer des Flusses Udá, wo ich an einer von vielen schönen sandigen Stellen im
erfrischend kalten, sauberen Wasser badete. Außerdem kam ich an einem weiteren
Denkmal mit Panzer vorbei – diesmal zum
Andenken an die Gefallenen der Kriege in Afghanistan und im Kaukasus – und entdeckte
das Tschaikowski-College für Kunst, eine Art Berufsschule für Musiker und Maler,
wohin ich mich auf der Suche nach einem Cello sicher bald einmal wenden werde.
Zum Kennenlernen der Stadt setze ich mich manchmal in die
erstbeste Straßenbahn und fahre bis zur Endhaltestelle. Es gibt genau fünf
Linien, die im Wesentlichen einen großen Kreis beschreiben mit einigen
Abzweigungen. Jede Straßenbahn hat einen Wagen, ein fahrkartenverkaufender
Schaffner fährt immer mit (14 Rubel), vom Band werden deutlich die Stationen
angesagt – und die Stimme erzählt darüber hinaus zu jeder Station noch etwas zu
der Einrichtung, dem Platz o.ä., wonach sie benannt ist. „Städtisches
Krankenhaus Nr.1, gegründet dann und dann, benannt nach dem und dem dann und
dann, heute berühmt für das und das. Sehr geehrte Damen und Herren, vergessen
Sie beim Aussteigen Ihre Sachen nicht.“ Einiges davon geht natürlich im Rattern
und Quietschen der Räder unter. „Nächste Station: Dramatheater, gegründet dann
und dann. Ulan-Ude – eine Stadt guter Traditionen! Achtung, Türen schließen…“
Wie oft muss man die Strecke fahren, bis man alle Jahreszahlen auswendig kann?
20 mal, 100 mal? Ich werde es nicht erleben – mein täglicher Arbeitsweg ist zu
Fuß.
Ulan-Ude hat eine riesige flächenmäßige Ausdehnung – ein
Großteil davon zählt zum Tschastnyj sektor, dem „Privatsektor“ mit meist
kleineren Holzhäusern mit Garten dahinter und Garage daneben. Eigentlich träume
ich ja von einem Häuschen mit eigenem Gemüsegarten, aber die hohen Holzzäune
und die bellenden Hunde scheinen auf den ersten Blick wenig sympathisch.
Außerdem gibt es dort kein fließendes warmes Wasser, im Winter müsste ich mit
Holz heizen und jedes Mal, wenn ich ein paar Tage weg bin, würde die Bude bis
auf unter null auskühlen… nun, mal sehen.
Inzwischen habe ich auch mein Büro an der Uni einigermaßen
eingerichtet. Dass ich überhaupt eins bekommen habe, ist nicht
selbstverständlich und ein schönes Zeichen, dass dem Lehrstuhl meine
Anwesenheit etwas bedeutet. Mein Blick aus dem Fenster fällt genau auf das
Hauptpostamt, schräg daneben und nicht sichtbar – der Leninkopf, bizarres
Wahrzeichen der Stadt. Eines von zwei Bücherregalen ist leider nicht benutzbar
und fällt jeden Moment wieder aus der Wand heraus, weshalb die Hälfte meines
Handapparates noch in Bananenkisten gestapelt neben der Tür liegt – aber das
Studienjahr hat ja noch nicht einmal angefangen. Noch herrscht seltsame Stille
in den hohen Gängen des ehrwürdigen, vorrevolutionären Institutsgebäudes. Am
nächsten Dienstag wird sich das schlagartig ändern.
Hohe Wände und bellende Hunde: der tschastnyj sektor |
Nächste Woche gehts richtig los: mein Büro an der Uni |
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Sandige Uferstellen laden zum Baden ein - der Fluss Udá |
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Noch ein Panzer: Das "Schwarze Tulpe"- Denkmal |
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Gedenkstein an den Afghanistan-Krieg |