Mittwoch, 26. August 2015

Schlafende Verkäuferin, schwankendes Briefporto und informative Straßenbahnen: Kleinigkeiten aus dem Alltag

Tagsüber ist es schwül und etwas staubig hier, heute Abend gab es zum ersten Mal einen kurzen, heftigen Regenschauer und ein Gewitter.
Vorgestern nach dem Aufstehen um kurz nach 6 Uhr stellte ich fest, dass ich keinen Appetit auf meinen üblichen morgendlichen Schwarztee hatte. Kurzerhand ging ich in das 24 Stunden geöffnete Lebensmittelgeschäft zwei Häuser weiter, um ein Glas löslichen Kaffee zu kaufen. Die Tür war verschlossen, aber es war Licht, ein Fenster geöffnet und ich sah die junge Verkäuferin mit dem Kopf auf der Theke liegend schlafen. Durch mein Klopfen wachte sie auf, reichte mir die gewünschte Ware heraus und legte sich wahrscheinlich danach wieder hin.
Eine Straße weiter befindet sich eine kleine Postfiliale, der ich einen Besuch abstattete, um Briefmarken für Post nach Deutschland zu kaufen. Zu meinem Erstaunen bekam ich 50-Rubel-Marken, wenige Tage zuvor hatte ich in der Hauptpost mit 34 Rubeln frankierte Umschläge zum Absenden in meine Heimat erworben. „Ich gebe Ihnen lieber etwas mehr“, meinte die Postmitarbeiterin, „die Tarife ändern sich manchmal, und dann wird der Brief nicht angenommen und kommt zurück.“ Diesem Argument wollte ich mich nicht verschließen, und deshalb bekommen jetzt einige Leute von mir Briefe, die mit 34 Rubeln frankiert sind und andere solche mit 50 Rubeln.
Meine im Moment fast täglichen Joggingrunden führten mich ans Ufer des Flusses Udá, wo ich an einer von vielen schönen sandigen Stellen im erfrischend kalten, sauberen Wasser badete. Außerdem kam ich an einem weiteren Denkmal mit Panzer vorbei  – diesmal zum Andenken an die Gefallenen der Kriege in Afghanistan und im Kaukasus – und entdeckte das Tschaikowski-College für Kunst, eine Art Berufsschule für Musiker und Maler, wohin ich mich auf der Suche nach einem Cello sicher bald einmal wenden werde.
Zum Kennenlernen der Stadt setze ich mich manchmal in die erstbeste Straßenbahn und fahre bis zur Endhaltestelle. Es gibt genau fünf Linien, die im Wesentlichen einen großen Kreis beschreiben mit einigen Abzweigungen. Jede Straßenbahn hat einen Wagen, ein fahrkartenverkaufender Schaffner fährt immer mit (14 Rubel), vom Band werden deutlich die Stationen angesagt – und die Stimme erzählt darüber hinaus zu jeder Station noch etwas zu der Einrichtung, dem Platz o.ä., wonach sie benannt ist. „Städtisches Krankenhaus Nr.1, gegründet dann und dann, benannt nach dem und dem dann und dann, heute berühmt für das und das. Sehr geehrte Damen und Herren, vergessen Sie beim Aussteigen Ihre Sachen nicht.“ Einiges davon geht natürlich im Rattern und Quietschen der Räder unter. „Nächste Station: Dramatheater, gegründet dann und dann. Ulan-Ude – eine Stadt guter Traditionen! Achtung, Türen schließen…“ Wie oft muss man die Strecke fahren, bis man alle Jahreszahlen auswendig kann? 20 mal, 100 mal? Ich werde es nicht erleben – mein täglicher Arbeitsweg ist zu Fuß.
Ulan-Ude hat eine riesige flächenmäßige Ausdehnung – ein Großteil davon zählt zum Tschastnyj sektor, dem „Privatsektor“ mit meist kleineren Holzhäusern mit Garten dahinter und Garage daneben. Eigentlich träume ich ja von einem Häuschen mit eigenem Gemüsegarten, aber die hohen Holzzäune und die bellenden Hunde scheinen auf den ersten Blick wenig sympathisch. Außerdem gibt es dort kein fließendes warmes Wasser, im Winter müsste ich mit Holz heizen und jedes Mal, wenn ich ein paar Tage weg bin, würde die Bude bis auf unter null auskühlen… nun, mal sehen.
Inzwischen habe ich auch mein Büro an der Uni einigermaßen eingerichtet. Dass ich überhaupt eins bekommen habe, ist nicht selbstverständlich und ein schönes Zeichen, dass dem Lehrstuhl meine Anwesenheit etwas bedeutet. Mein Blick aus dem Fenster fällt genau auf das Hauptpostamt, schräg daneben und nicht sichtbar – der Leninkopf, bizarres Wahrzeichen der Stadt. Eines von zwei Bücherregalen ist leider nicht benutzbar und fällt jeden Moment wieder aus der Wand heraus, weshalb die Hälfte meines Handapparates noch in Bananenkisten gestapelt neben der Tür liegt – aber das Studienjahr hat ja noch nicht einmal angefangen. Noch herrscht seltsame Stille in den hohen Gängen des ehrwürdigen, vorrevolutionären Institutsgebäudes. Am nächsten Dienstag wird sich das schlagartig ändern.
Hohe Wände und bellende Hunde: der tschastnyj sektor

Nächste Woche gehts richtig los: mein Büro an der Uni

Sandige Uferstellen laden zum Baden ein - der Fluss Udá

Noch ein Panzer: Das "Schwarze Tulpe"- Denkmal

Gedenkstein an den Afghanistan-Krieg