Mittwoch, 31. August 2016

Wort und Wirklichkeit

Die Verhältnisse zwischen Wort und Wirklichkeit sind in Russland  andere als in Deutschland. Die Wirklichkeit wird in Russland anders in Worten abgebildet. Mit Worten wird auf andere Art Wirklichkeit geschaffen.
Bei festlichen Anlässen ist die Sprache in Russland üppiger, blumiger, ausladender, emotionaler und floskelhafter als in Deutschland. Würde man die Ansprachen, die gehalten werden beispielsweise bei einem Konzert, zum Jahrestag der Stadt oder auch bei einer privaten Feier, wörtlich übersetzen, käme ein für das deutsche Ohr ganz unerträglicher Schwulst dabei heraus. Deutsche Festreden sind knapper, sachlicher und nüchterner.
Bei Feiern im Verwandtenkreis oder mit Arbeitskollegen ist es üblich, stundenlang an einer üppigst gedeckten Tafel zu sitzen und zu essen. Dabei ist es Brauch, dass alle Anwesenden reihum aufstehen und mit dem gefüllten Wein- oder Wodkaglas in der Hand einen Toast ausbringen – auf den Hausherrn, auf das gerade begangene Jubiläum, auf den erfolgreichen Abschluss der Veranstaltung oder was eben gerade gefeiert wird. Zu diesem Ritual gehört natürlich, dass nur positive Dinge gesagt werden. Getreu dem Motto „es ist schon alles gesagt worden, aber noch nicht von allen“ wiederholen sich dabei die Worte und Inhalte der Reden, aber darauf kommt es nicht an – es wird mit der Sprache ein emotionaler Raum geschaffen, man muss mehr mit dem Herzen hinhören, weniger mit dem Kopf.
In vielen Situationen im öffentlichen Raum werden in Russland keine Worte gemacht, wo man sie in Deutschland unbedingt erwarten würde. Haltestellen-Ansagen in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Durchsagen im Fernbus über Länge und Ort einer eingelegten Pause sind kaum verbreitet. Ein Einkauf im Laden vollzieht sich oft ohne jede Höflichkeitsfloskeln, Nachbarn im Treppenhaus oder im Fahrstuhl werden nicht gegrüßt, bei privaten Telefongesprächen legt man ohne Abschied auf, gemeinsame Mahlzeiten beginnen irgendwie zeitversetzt ohne das Startsignal „Guten Appetit“. Die russischen Höflichkeitskonventionen sind hier andere, der oben beschriebenen festlichen Wortverschwendung steht hier eine minimierte Knappheit gegenüber.
In „pädagogischen“ Situationen, sei es an der Universität oder bei einer Museumsführung, geht es in Russland monologischer, belehrender und hierarchischer zu. Ein Schwall von Details ergießt sich über das Publikum, eine Einbeziehung der Zuhörer oder die Ermutigung zu Rückfragen finden oft nicht statt.
Auch das geschriebene Wort wird auf andere Weise eingesetzt. In vielen Situationen fällt mir eine krasse „Rezipienten-Unfreundlichkeit“ auf, das Unvermögen, Informationen übersichtlich, leserfreundlich und gut erfassbar aufzubereiten. Schautafeln in russischen Museen sind von oben bis unten vollgestopft mit Daten in kleinster Schriftgröße, ein akribisch zusammengetragener Faktenberg bar jedweder strukturierender Überschriften oder Zusammenfassungen. Das gleiche trifft auf die hoffnungslos überladenen Folien bei Powerpoint-Präsentationen zu. Die Baikal-Bank, vor kurzem Pleite gegangen, informiert ihre Kunden durch einen Aushang an der geschlossenen Filiale darüber, wie sie sich ihr (zum Glück versichertes) Geld auszahlen lassen können – in Form von drei eng beschriebenen A4-Seiten in unverständlichem Bürokraten-Russisch.
Hinweisschilder sind grundsätzlich verbotsorientiert. Statt „Danke, dass Sie hier nicht rauchen“ heißt es „Rauchen verboten, Strafe 500 Rubel“. Natürlich wird oft trotzdem geraucht, und allen ist klar, dass die Strafe weniger ernst gemeint ist. Überhaupt hat das geschriebene Wort einen geringeren Grad an Verbindlichkeit. Wenn an einer Bibliothek steht „Mitarbeiterin Olga Sharajeva, Öffnungszeiten Dienstag und Donnerstag 14-18 Uhr“, dann wäre es naiv zu glauben, dass Olga Sharaeva am Dienstag und Donnerstag zwischen 14 und 18 Uhr dort arbeiten würde. Es kann auch heißen, dass sie einmal da tätig war oder möglicherweise in der Zukunft zu den genannten Zeiten arbeiten wird. Aushänge spiegeln oft einen vergangenen oder künftig erwünschten Zustand wider. Viel wichtiger als in Deutschland ist es in Russland, aktuell gültige Informationen bei den richtigen Leuten zu erfragen. Weniger wichtig ist, wo etwas steht. Interessanter ist: wer hat es gesagt? Außer einem kleinen Regal neben meinem Büro gibt es in unserem Institut keinen einzigen Ort, wo irgendwelche Broschüren oder Flyer zum Mitnehmen ausliegen würden. Die westliche „Informationsmaterial-Kultur“ ist hier noch nicht ganz angekommen.
Charakteristisch ist die russische Sucht nach Urkunden und Auszeichnungen, allerorten findet man festlich eingerahmte Dankesbriefe und Ehrentafeln herausragender Mitglieder eines Arbeitskollektivs. - Diskussionen um politisch korrekten oder „geschlechtergerechten“ Sprachgebrauch finden nicht statt, für Russen gibt es keine solcherart „verdorbenen“ Wörter wie für die Deutschen (Menschen-)Rasse, Arier oder Neger.
Einzelne Wörter, die auf Deutsch und Russisch scheinbar etwas Gleiches bezeichnen, sind mit einem unterschiedlichen Inhalt gefüllt. Unter einem Manager und einer Konferenz stellt man sich in Deutschland eher etwas Großes vor. Ein Manager in Russland kann einfach nur ein leitender Verkäufer sein, und eine kleine unorganisierte Zusammenkunft einiger Menschen findet gern unter dem Titel Konferenz statt.