Freitag, 12. August 2016

Armenien


Der Kaukasus ist ein kleinräumiges Gebiet, ehe man sich’s versieht, ist man schon wieder an einer Staatsgrenze. Von einem armenischen Verlag habe ich mir eine Landkarte gekauft, die den Osten der Türkei, Armenien, das zwischen beiden gelegene, zu Aserbaidzhan gehörende Gebiet Nachidshevan, die zwischen Armenien und Aserbaidzhan umstrittene Region Berg-Karabach und den Westen Aserbaidzhans zeigt. Die Ländergrenzen und Namen sind eingezeichnet, gleichzeitig aber steht in großen Buchstaben vom linken bis zum rechten Kartenrand geschrieben: ARMENIEN. Die Armenier sind der Meinung, dass ihr Land eigentlich viel größer sein sollte, und leiten dies aus der Vergangenheit ab, in der das ursprüngliche große armenische Siedlungsgebiet immer wieder zwischen den Türken und Persern aufgerieben wurde. Der schlimmste Markstein der Geschichte war die Vertreibung hunderttausender Armenier aus der Osttürkei im Jahre 1915. Armenien betrachtet dieses Ereignis als systematischen Völkermord, viele westliche Staaten haben es als solchen anerkannt, seit einem Jahr auch Deutschland – die Türkei weigert sich, sagt, in den Wirren des 1. Weltkrieges sei es nun einmal zu Vertreibungen gekommen und auch Türken hätten gelitten.
Mit einem Vorortzug sowjetischer Bauart, einer alten Elektritschka, wie sie in Russland längst nicht mehr im Einsatz sind, fahre ich vom ebenso sowjetisch wirkenden Bahnhof Richtung Süden. Das Jerewaner Bahnhofsgebäude, unverkennbarer Stalin-Stil, war von einem Sowjet-Stern gekrönt, der inzwischen durch einer Silhouette des Berges Ararat ersetzt wurde. An den Waggons steht auf kyrillisch die Abkürzung für „Südkaukasische Eisenbahn“; die armenische Bahn ist hundertprozentige Tochtergesellschaft der Russischen Eisenbahn, das Personal an den Bahnhofskassen fließend dreisprachig, Armenisch, Russisch und Englisch. In Ararat steige ich aus – die Siedlung trägt den Namen des Berges – und begebe mich nach Chor Virap, einer Klosterfestung mit einer steinernen Kirche in der Mitte auf einem felsigen Hügel. Die brütende Tageshitze hat nachgelassen, die Abendsonne bescheint den Doppelgipfel des Ararat, des sagenhaften biblischen Berges, Symbol der Armenier auf ihrem Wappen. Eine Jugendgruppe stellt sich an der Brüstung auf und singt wunderschöne getragene Lieder, ich verstehe nur ein Wort: Hajastan – Armenien. Wenige hundert Meter hinter dem Kloster: Stacheldraht, eine Sandpiste, ein Patrouillenfahrzeug. Ein paar Kilometer weiter: spitze weiße Moscheetürme ragen wie Pfeile in den Himmel. Der Ararat liegt heute auf dem Gebiet der Türkei, Chor Virap ist direkt an der Grenze.
Die Beziehungen Armeniens zum Nachbar Aserbaidzhan sind noch schlechter als die zur Türkei, offiziell befinden sich beide Länder im Kriegszustand. Am nächsten Tag fahre ich mit einem kultivierten Mann mittleren Alters, dessen Beruf die Herstellung von Buntglasfenstern mit kunstvollen Bildern ist, weiter nach Süden in Richtung der Exklave Nachidzhevan. Kahle braune Berge, die Sonne knallt schon vormittags vom Himmel. „Hier war eigentlich immer Armenien. Lenin hat das Gebiet Aserbaidzhan geschenkt, unklar, warum.“ Die Straße knickt nach links ab, geradeaus geht es nicht weiter – die Grenze ist dicht, es gibt keinerlei Austausch zwischen beiden Staaten. Rechts von uns zieht sich über viele Kilometer ein etwa zwei Meter hoher Erdwall hin, der die Sicht nach Westen versperrt. „Ein Schutz, damit sie nicht auf uns schießen. Nur für alle Fälle. Eigentlich ist es ganz ruhig hier“, klärt mich mein Fahrer auf. „Waren Sie schonmal in Karabach? Wunderschöne Berge, da müssen Sie unbedingt hin.“ Seit dem Zerfall der Sowjetunion hält Armenien das zu Aserbaidzhan gehörende Gebiet Berg-Karabach besetzt, oder es wurde befreit, je nach Sichtweise: die armenischen Bewohner wären von dort vertrieben worden und wollten nicht fremdbestimmt in einem muslimischen Staat leben. Die friedliche Koexistenz verschiedener Religionen in einem Staat ist im Kaukasus offensichtlich unbekannt, mit blutiger Verbissenheit werden nationale und religiöse Reinräume geschaffen. Berg-Karabach betrachtet sich als unabhängiger Staat, der aber von fast niemandem anerkannt wird – als Ausländer bräuchte ich trotzdem ein Visum.
Wir machen Halt an einer Tankstelle. Der Tankvorgang dauert eine Viertelstunde, und zur Sicherheit gehen wir während des Befüllvorganges um die Ecke hinter eine Abschirmung. Es handelt sich um eine Gastanstelle, echtes Gas und kein flüssiges Propan wird in den Tank gepresst, anderthalb Kubikmeter zum Preis von umgerechnet 8 Euro, die für 300 Kilometer reichen. In Armenien fahren die meisten Autos mit Gas, als Erdgas-Transitland hat es genug davon und es ist viel billiger als Benzin.
Drei Tage, die ich mir zum Reisen Zeit nehme, sind zu wenig, um auch noch die schönen Berge Karabachs zu besuchen; ich bleibe im armenischen Kernland. Für mich, der ich an sibirische Entfernungen gewöhnt bin, scheint es unglaublich klein und abwechslungsreich hier. Die Straßen sind besser als in Burjatien, überall gibt es Asphalt. Trampen funktioniert wunderbar, nie warte ich irgendwo länger als 15 Minuten. An einem der Tage bin ich jeweils meist kürzere Strecken mit acht verschiedenen Fahrern unterwegs. Ein älterer Mann im sowjetischen Wolga, der für die Rote Armee in Potsdam gedient hat; eine fröhliche Franzosenfamilie mit zwei Jugendlichen, die im gemieteten Renault das Land erkundet, die beiden Jungs lernen Deutsch an der Schule und werden von der Mutter aufgefordert, mit mir gleich mal zu üben; ein etwas mafiosiartiger junger Armene im dicken Jeep, der mich in gebrochenem Russisch fragt, ob man in Deutschland gut Geschäfte machen kann; ein Mann im klapprigen stinkenden Uralt-Lada mit Frau und Kind auf der Rückbank und ein uniformierter Soldat im Lada Niva, die beide kein Gespräch mit mir suchen; ein netter jüngerer Typ im Lada Samara, der leider weder Russisch noch Englisch spricht und dessen Motorkühlung in dem Moment ausfällt, als wir die höchste Stelle eines Passes erreichen, wo es weit und breit kein Wasser gibt – nachdem ich meinen letzten Liter Trinkwasser zum In-den-Motor-kippen geopfert habe sowie mit einer Rolle Klebeband aushelfe, um einige lose Drähte im Motorraum wieder zusammenzubinden, können wir die Fahrt fortsetzen; ein souveräner, höflicher Geschäftsmann im großen Lexus, der mir die wichtigsten Sehenswürdigkeiten in seinem Land empfiehlt; und schließlich ein junger Mann mit Sonnenbrille im Kleintransporter.
„Dankeschön“, sage ich nach dem Einsteigen.
„Wem dankst du? Mir? Wer bin ich denn?“ Sein Russisch ist sehr gut. Ich zucke verwundert mit den Schultern, keine Ahnung, ich freue mich einfach, wenn mich jemand mitnimmt...
„Dir selbst musst du danken“, hebt er mit hoher, salbungsvoller Stimme an. „Wir sehen in allem nur uns selbst. Es gibt kein Außerhalb. Es gibt nichts, dem du danken musst, weil alles du selbst bist. Das einzige, was zählt, ist – der Moment.“ Er schaut mich an. Sein Tonfall ist mir etwas ungeheuer, wegen der Sonnenbrille kann ich auch den Blick nicht deuten. Mit etwas Ungeduld erwarte ich den Zielort, zum Glück ist es nicht weit. Welche Philosophie das sei, welche Bücher er gelesen habe, versuche ich mich zu interessieren.
„Bücher habe ich früher gelesen. Jetzt weiß ich, dass das alles nur Gespinste unseres Verstandes sind. Der Verstand entzweit uns von der Welt. Aber alles ist eins. Alles bist du selbst.“
Ein sehr schönes Land sei Armenien, meine ich, um etwas von seinen Weisheiten abzulenken und deute aus dem Fenster auf die abgerundeten, weiten Berge, die an uns vorüberziehen.
„Schönheit ist überall, man muss sie nur in sich finden.“ Von seiner weichen, weihevollen Stimme wird mir ganz schlecht. „Es gibt nichts Hässliches. Du siehst überall nur dich.“
Der letzte war der einzige von allen acht, mit dem mir etwas unheimlich zu Mute war, ansonsten habe ich mich in allen Autos entspannt gefühlt.

Eine sowjetische Elektritschka (unten) am Jerevaner Bahnhof (oben)
An einem Genozid-Denkmal, das an die hundertjährige Wiederkehr des Ereignisses 2015 erinnert
Die Klosterfestung Chor-Virap kurz vor der türkischen Grenze; die weiße Spitze im Hintergrund ist schon eine Moschee auf der anderen Seite (oben); Doppelgipfel des Ararat (unten)
Eine Gastankstelle (oben), Gasleitungen in der Landschaft (unten)