Der Kaukasus ist ein kleinräumiges Gebiet, ehe man sich’s
versieht, ist man schon wieder an einer Staatsgrenze. Von einem armenischen
Verlag habe ich mir eine Landkarte gekauft, die den Osten der Türkei, Armenien,
das zwischen beiden gelegene, zu Aserbaidzhan gehörende Gebiet Nachidshevan,
die zwischen Armenien und Aserbaidzhan umstrittene Region Berg-Karabach und den
Westen Aserbaidzhans zeigt. Die Ländergrenzen und Namen sind eingezeichnet,
gleichzeitig aber steht in großen Buchstaben vom linken bis zum rechten
Kartenrand geschrieben: ARMENIEN. Die Armenier sind der Meinung, dass ihr Land
eigentlich viel größer sein sollte, und leiten dies aus der Vergangenheit ab,
in der das ursprüngliche große armenische Siedlungsgebiet immer wieder zwischen
den Türken und Persern aufgerieben wurde. Der schlimmste Markstein der
Geschichte war die Vertreibung hunderttausender Armenier aus der Osttürkei im
Jahre 1915. Armenien betrachtet dieses Ereignis als systematischen Völkermord,
viele westliche Staaten haben es als solchen anerkannt, seit einem Jahr auch
Deutschland – die Türkei weigert sich, sagt, in den Wirren des 1. Weltkrieges
sei es nun einmal zu Vertreibungen gekommen und auch Türken hätten gelitten.
Mit einem Vorortzug sowjetischer Bauart, einer alten Elektritschka, wie sie in Russland
längst nicht mehr im Einsatz sind, fahre ich vom ebenso sowjetisch wirkenden
Bahnhof Richtung Süden. Das Jerewaner Bahnhofsgebäude, unverkennbarer
Stalin-Stil, war von einem Sowjet-Stern gekrönt, der inzwischen durch einer
Silhouette des Berges Ararat ersetzt wurde. An den Waggons steht auf kyrillisch
die Abkürzung für „Südkaukasische Eisenbahn“; die armenische Bahn ist
hundertprozentige Tochtergesellschaft der Russischen Eisenbahn, das Personal an
den Bahnhofskassen fließend dreisprachig, Armenisch, Russisch und Englisch. In
Ararat steige ich aus – die Siedlung trägt den Namen des Berges – und begebe
mich nach Chor Virap, einer
Klosterfestung mit einer steinernen Kirche in der Mitte auf einem felsigen
Hügel. Die brütende Tageshitze hat nachgelassen, die Abendsonne bescheint den
Doppelgipfel des Ararat, des sagenhaften biblischen Berges, Symbol der Armenier
auf ihrem Wappen. Eine Jugendgruppe stellt sich an der Brüstung auf und singt
wunderschöne getragene Lieder, ich verstehe nur ein Wort: Hajastan – Armenien. Wenige hundert Meter hinter dem Kloster:
Stacheldraht, eine Sandpiste, ein Patrouillenfahrzeug. Ein paar Kilometer
weiter: spitze weiße Moscheetürme ragen wie Pfeile in den Himmel. Der Ararat
liegt heute auf dem Gebiet der Türkei, Chor
Virap ist direkt an der Grenze.
Die Beziehungen Armeniens zum Nachbar Aserbaidzhan sind noch
schlechter als die zur Türkei, offiziell befinden sich beide Länder im
Kriegszustand. Am nächsten Tag fahre ich mit einem kultivierten Mann mittleren
Alters, dessen Beruf die Herstellung von Buntglasfenstern mit kunstvollen
Bildern ist, weiter nach Süden in Richtung der Exklave Nachidzhevan. Kahle
braune Berge, die Sonne knallt schon vormittags vom Himmel. „Hier war
eigentlich immer Armenien. Lenin hat das Gebiet Aserbaidzhan geschenkt, unklar,
warum.“ Die Straße knickt nach links ab, geradeaus geht es nicht weiter – die
Grenze ist dicht, es gibt keinerlei Austausch zwischen beiden Staaten. Rechts
von uns zieht sich über viele Kilometer ein etwa zwei Meter hoher Erdwall hin,
der die Sicht nach Westen versperrt. „Ein Schutz, damit sie nicht auf uns
schießen. Nur für alle Fälle. Eigentlich ist es ganz ruhig hier“, klärt mich
mein Fahrer auf. „Waren Sie schonmal in Karabach? Wunderschöne Berge, da müssen
Sie unbedingt hin.“ Seit dem Zerfall der Sowjetunion hält Armenien das zu
Aserbaidzhan gehörende Gebiet Berg-Karabach besetzt, oder es wurde befreit, je
nach Sichtweise: die armenischen Bewohner wären von dort vertrieben worden und
wollten nicht fremdbestimmt in einem muslimischen Staat leben. Die friedliche
Koexistenz verschiedener Religionen in einem Staat ist im Kaukasus
offensichtlich unbekannt, mit blutiger Verbissenheit werden nationale und
religiöse Reinräume geschaffen. Berg-Karabach betrachtet sich als unabhängiger
Staat, der aber von fast niemandem anerkannt wird – als Ausländer bräuchte ich
trotzdem ein Visum.
Wir machen Halt an einer Tankstelle. Der Tankvorgang dauert
eine Viertelstunde, und zur Sicherheit gehen wir während des Befüllvorganges um
die Ecke hinter eine Abschirmung. Es handelt sich um eine Gastanstelle, echtes
Gas und kein flüssiges Propan wird in den Tank gepresst, anderthalb Kubikmeter
zum Preis von umgerechnet 8 Euro, die für 300 Kilometer reichen. In Armenien
fahren die meisten Autos mit Gas, als Erdgas-Transitland hat es genug davon und
es ist viel billiger als Benzin.
Drei Tage,
die ich mir zum Reisen Zeit nehme, sind zu wenig, um auch noch die schönen
Berge Karabachs zu besuchen; ich bleibe im armenischen Kernland. Für mich, der
ich an sibirische Entfernungen gewöhnt bin, scheint es unglaublich klein und
abwechslungsreich hier. Die Straßen sind besser als in Burjatien, überall gibt
es Asphalt. Trampen funktioniert wunderbar, nie warte ich irgendwo länger als
15 Minuten. An einem der Tage bin ich jeweils meist kürzere Strecken mit acht
verschiedenen Fahrern unterwegs. Ein älterer Mann im sowjetischen Wolga, der
für die Rote Armee in Potsdam gedient hat; eine fröhliche Franzosenfamilie mit
zwei Jugendlichen, die im gemieteten Renault das Land erkundet, die beiden Jungs
lernen Deutsch an der Schule und werden von der Mutter aufgefordert, mit mir
gleich mal zu üben; ein etwas mafiosiartiger junger Armene im dicken Jeep, der
mich in gebrochenem Russisch fragt, ob man in Deutschland gut Geschäfte machen
kann; ein Mann im klapprigen stinkenden Uralt-Lada mit Frau und Kind auf der
Rückbank und ein uniformierter Soldat im Lada Niva, die beide kein Gespräch mit
mir suchen; ein netter jüngerer Typ im Lada Samara, der leider weder Russisch
noch Englisch spricht und dessen Motorkühlung in dem Moment ausfällt, als wir
die höchste Stelle eines Passes erreichen, wo es weit und breit kein Wasser
gibt – nachdem ich meinen letzten Liter Trinkwasser zum In-den-Motor-kippen
geopfert habe sowie mit einer Rolle Klebeband aushelfe, um einige lose Drähte
im Motorraum wieder zusammenzubinden, können wir die Fahrt fortsetzen; ein
souveräner, höflicher Geschäftsmann im großen Lexus, der mir die wichtigsten
Sehenswürdigkeiten in seinem Land empfiehlt; und schließlich ein junger Mann
mit Sonnenbrille im Kleintransporter.
„Dankeschön“,
sage ich nach dem Einsteigen.
„Wem dankst
du? Mir? Wer bin ich denn?“ Sein Russisch ist sehr gut. Ich zucke verwundert
mit den Schultern, keine Ahnung, ich freue mich einfach, wenn mich jemand
mitnimmt...
„Dir selbst
musst du danken“, hebt er mit hoher, salbungsvoller Stimme an. „Wir sehen in
allem nur uns selbst. Es gibt kein Außerhalb. Es gibt nichts, dem du danken
musst, weil alles du selbst bist. Das einzige, was zählt, ist – der Moment.“ Er
schaut mich an. Sein Tonfall ist mir etwas ungeheuer, wegen der Sonnenbrille
kann ich auch den Blick nicht deuten. Mit etwas Ungeduld erwarte ich den
Zielort, zum Glück ist es nicht weit. Welche Philosophie das sei, welche Bücher
er gelesen habe, versuche ich mich zu interessieren.
„Bücher habe
ich früher gelesen. Jetzt weiß ich, dass das alles nur Gespinste unseres
Verstandes sind. Der Verstand entzweit uns von der Welt. Aber alles ist eins.
Alles bist du selbst.“
Ein sehr
schönes Land sei Armenien, meine ich, um etwas von seinen Weisheiten abzulenken
und deute aus dem Fenster auf die abgerundeten, weiten Berge, die an uns
vorüberziehen.
„Schönheit
ist überall, man muss sie nur in sich finden.“ Von seiner weichen, weihevollen
Stimme wird mir ganz schlecht. „Es gibt nichts Hässliches. Du siehst überall
nur dich.“
Der letzte war
der einzige von allen acht, mit dem mir etwas unheimlich zu Mute war, ansonsten
habe ich mich in allen Autos entspannt gefühlt.
Eine sowjetische Elektritschka (unten) am Jerevaner Bahnhof (oben) |
An einem Genozid-Denkmal, das an die hundertjährige Wiederkehr des Ereignisses 2015 erinnert |
Die Klosterfestung Chor-Virap kurz vor der türkischen Grenze; die weiße Spitze im Hintergrund ist schon eine Moschee auf der anderen Seite (oben); Doppelgipfel des Ararat (unten) |
Eine Gastankstelle (oben), Gasleitungen in der Landschaft (unten) |