Für Ende August hatte ich geplant, den höchsten
Berg Burjatiens zu besteigen. Mein Propusk,
die Erlaubnis zum Betreten des russisch-mongolischen Grenzgebietes, liegt in
der für die Bewachung der pogranitshnaja
zona zuständigen Abteilung des FSB bereit. Der Gipfel des Munky-Sardyk, ein
Dreieinhalbtausender, liegt genau auf der Grenze zur Mongolei. Mein Besuch wird
allerdings auf das nächste Jahr verschoben, da ich stattdessen einer Einladung
nach Irkutsk zum Musizieren gefolgt bin.
Vor einiger Zeit schrieb mir eine
Frau namens Natalja eine Mail und fragte, ob ich nicht Lust hätte, mit dem bekannten Irkutsker
Pianisten Konstantin Serovatov zusammen im Duo zu musizieren. Ich solle mit
meinem Cello vorbeikommen, könne bei ihr wohnen und essen und mit Konstantin
spielen, er suche Kammermusikpartner, um für eine geplante Tournee nach Japan
in Form zu bleiben. Am Dienstag Abend machte ich mich auf den Weg mit dem
Nachtzug von Ulan-Ude nach Irkutsk, das erste Mal, dass ich mit dem Cello als
Gepäckstück in Russland eine Zugfahrt unternahm. Meine Befürchtung, dass mir
die Mitnahme verweigert wird, weil es eigentlich die zulässigen Gepäckmaße
leicht übersteigt, bewahrheitete sich zum Glück nicht. Am Morgen holte mich
Natalja vom Bahnhof ab. Sie betreut ihn und organisiert für ihn Konzerte. „Er
ist ein bisschen verrückt“, warnte sie mich vor, „Mit Leuten hat er es nicht so
einfach, wohnt alleine, ist im Leben total langsam und kriegt nichts auf die
Reihe… aber ein genialer Musiker, Sie werden sehen.“ Ich fühlte mich natürlich
geehrt, mit einem großen Pianisten zusammen spielen zu dürfen und hatte einige
meiner Lieblingsstücke extra gut vorbereitet, um ihn nicht zu enttäuschen: die
erste Brahms- und eine Bach-Sonate, die Sicilienne von Fauré. Mit etwas Herzklopfen
begab ich mich mit Natalja zum „Dom A“, einem Ort eher alternativer Kultur und
Kunst in einem gemütlich-chaotischen Holzhaus in einer Irkutsker Seitenstraße.
Es zeigte sich, dass der große
Pianist vor unserer ersten Probe nervöser als ich war. Ein über 40jähriger
Mann, leicht untersetzt mit kurzen Haaren, im Umgang mit neuen Menschen
offensichtlich unsicher und wenig souverän. Was ich denn mitgebracht hätte,
fragt er nach einer kurzen Begrüßung, ohne mich anzusehen. Ich legte ihm die
Klavierstimme der ersten beiden Sätze von Brahms‘ e-moll-Sonate auf den Flügel und schlug vor,
sofort loszulegen. Ein romantisches, warmes, dramatisches Stück, Brahms vom
Feinsten. Konstantin meinte, er kenne
das Werk nicht, spielte seine Stimme aber ohne mit der Wimper zu zucken und
fast ohne ein einziges Mal danebenzugreifen vom Blatt, ohne sich erkennbar
anzustrengen. “Ja, ein Brahms aus seinen mittleren Jahren, wunderschöne Musik“,
kommentierte er anerkennend. „Hier müssten Sie die Phrase noch ein bisschen
besser herausarbeiten, und die Viertel in der Reprise dürfen nicht so tot
klingen, da muss mehr Leben rein. Und achten Sie hier auf die Mikrodynamik,
nicht umsonst steht da Crescendo…“ Beim Gespräch über seine Materie begann er
locker zu werden, und wir begannen gleich an ein paar Details zu feilen. Dann
Faurés Sicilienne, im doppelten Tempo, als ich es gewöhnt war - „sonst ist es
langweilig, da muss Schwung rein“ – und spätestens nach der munter
dahinspringenden Bach-Gambensonate war das Eis gebrochen und ich hatte das
Gefühl, dass das Musizieren mit mir ihm Spaß macht. Zum Abschied fegte
Konstantin auf meinen Wunsch noch ein Rachmaninov-Präludium hinunter, dann
verabschiedeten wir uns bis morgen: zusammen mit Natalja wollen wir auf die
Insel Olchon fahren, wo diese ein Gästehaus betreibt, in dem wir ein paar Tage
wohnen und proben können und sich wohl
auch ein paar Zuhörer für einen kleinen Auftritt finden.