Donnerstag, 25. August 2016

Bach statt Berg



Für  Ende August hatte ich geplant, den höchsten Berg Burjatiens zu besteigen. Mein Propusk, die Erlaubnis zum Betreten des russisch-mongolischen Grenzgebietes, liegt in der für die Bewachung der pogranitshnaja zona zuständigen Abteilung des FSB bereit. Der Gipfel des Munky-Sardyk, ein Dreieinhalbtausender, liegt genau auf der Grenze zur Mongolei. Mein Besuch wird allerdings auf das nächste Jahr verschoben, da ich stattdessen einer Einladung nach Irkutsk zum Musizieren gefolgt bin.

Vor einiger Zeit schrieb mir eine Frau namens Natalja eine Mail und fragte, ob ich nicht Lust hätte, mit dem bekannten Irkutsker Pianisten Konstantin Serovatov zusammen im Duo zu musizieren. Ich solle mit meinem Cello vorbeikommen, könne bei ihr wohnen und essen und mit Konstantin spielen, er suche Kammermusikpartner, um für eine geplante Tournee nach Japan in Form zu bleiben. Am Dienstag Abend machte ich mich auf den Weg mit dem Nachtzug von Ulan-Ude nach Irkutsk, das erste Mal, dass ich mit dem Cello als Gepäckstück in Russland eine Zugfahrt unternahm. Meine Befürchtung, dass mir die Mitnahme verweigert wird, weil es eigentlich die zulässigen Gepäckmaße leicht übersteigt, bewahrheitete sich zum Glück nicht. Am Morgen holte mich Natalja vom Bahnhof ab. Sie betreut ihn und organisiert für ihn Konzerte. „Er ist ein bisschen verrückt“, warnte sie mich vor, „Mit Leuten hat er es nicht so einfach, wohnt alleine, ist im Leben total langsam und kriegt nichts auf die Reihe… aber ein genialer Musiker, Sie werden sehen.“ Ich fühlte mich natürlich geehrt, mit einem großen Pianisten zusammen spielen zu dürfen und hatte einige meiner Lieblingsstücke extra gut vorbereitet, um ihn nicht zu enttäuschen: die erste Brahms- und eine Bach-Sonate, die Sicilienne von Fauré. Mit etwas Herzklopfen begab ich mich mit Natalja zum „Dom A“, einem Ort eher alternativer Kultur und Kunst in einem gemütlich-chaotischen Holzhaus in einer Irkutsker Seitenstraße.
Es zeigte sich, dass der große Pianist vor unserer ersten Probe nervöser als ich war. Ein über 40jähriger Mann, leicht untersetzt mit kurzen Haaren, im Umgang mit neuen Menschen offensichtlich unsicher und wenig souverän. Was ich denn mitgebracht hätte, fragt er nach einer kurzen Begrüßung, ohne mich anzusehen. Ich legte ihm die Klavierstimme der ersten beiden Sätze von Brahms‘  e-moll-Sonate auf den Flügel und schlug vor, sofort loszulegen. Ein romantisches, warmes, dramatisches Stück, Brahms vom Feinsten. Konstantin  meinte, er kenne das Werk nicht, spielte seine Stimme aber ohne mit der Wimper zu zucken und fast ohne ein einziges Mal danebenzugreifen vom Blatt, ohne sich erkennbar anzustrengen. “Ja, ein Brahms aus seinen mittleren Jahren, wunderschöne Musik“, kommentierte er anerkennend. „Hier müssten Sie die Phrase noch ein bisschen besser herausarbeiten, und die Viertel in der Reprise dürfen nicht so tot klingen, da muss mehr Leben rein. Und achten Sie hier auf die Mikrodynamik, nicht umsonst steht da Crescendo…“ Beim Gespräch über seine Materie begann er locker zu werden, und wir begannen gleich an ein paar Details zu feilen. Dann Faurés Sicilienne, im doppelten Tempo, als ich es gewöhnt war - „sonst ist es langweilig, da muss Schwung rein“ – und spätestens nach der munter dahinspringenden Bach-Gambensonate war das Eis gebrochen und ich hatte das Gefühl, dass das Musizieren mit mir ihm Spaß macht. Zum Abschied fegte Konstantin auf meinen Wunsch noch ein Rachmaninov-Präludium hinunter, dann verabschiedeten wir uns bis morgen: zusammen mit Natalja wollen wir auf die Insel Olchon fahren, wo diese ein Gästehaus betreibt, in dem wir ein paar Tage wohnen und proben können und sich wohl  auch ein paar Zuhörer für einen kleinen Auftritt finden.