Dienstag, 30. August 2016

Olchon





Etwa in der Mitte des Baikalsees – wenn man seine Nord-Süd-Ausdehnung als Maß nimmt – liegt die Insel Olchón, 70 Kilometer lang und bis zu 15 Kilometer breit, in den Umrissen ihrer langgestreckten Form an den Baikal selbst erinnernd. Der westliche Teil der Insel ist eine kahle Hügellandschaft, man kann das Gefühl haben, sich in großer Höhe auf einem Gebirgsplateau zu befinden. Nach Osten hin steigen die Hügel an und sind von dichtem Taiga-Wald bewachsen. Der Schamanen-Felsen an der Küste vor der Ortschaft Chuzhir ist die wohl bekannteste Stelle am Baikal, eines der Touristen-Ziele Nummer eins und beliebtes Foto-Motiv: ein aus dem Wasser ragender Doppelfelsen, mit dem Ufer durch eine schmale Landzunge verbunden, eingebettet in eine Landschaft aus romantischer Steilküste und breiten Sandstränden. Während meines Aufenthaltes in Chuzhir gab es das reinste Bilderbuchwetter, Sonne und blauer Himmel, kreischende Möwen zogen ihre Kreise über verwachsene krumme Lärchen, einige davon nach buddhistischer Tradition mit farbenfrohen Bändern behängt; die Wellen des Maloje Morje klatschten, von einer leichten Brise bewegt, an die Felsen. Das „Kleine Meer“ trennt die Insel Olchon vom Festland ab und ist an dieser Stelle etwa 10 Kilometer breit, das Auge weidet sich am Anblick des gegenüberliegenden Steilufers mit dem wunderbaren Spiel von Licht und Schatten, das die Sonnenstrahlen auf der bergigen Landschaft erzeugen. Leute baden im kühlen, klaren Baikal, chinesische Touristen mit großen Teleobjektiven laufen geschäftig umher, einige Maler sitzen und zeichnen, man sieht junge Leute Gymnastik treiben und meditieren.

Die Unterkunft von Natalja, die mich hierher eingeladen hat, heißt nach dem Namen ihres Mannes „Nikita Bencharovs homestad“ und ist eine Ansammlung von mehr als einem Dutzend Gästehäusern, gemütlich und verwinkelt aus Holz gebaut mit schönen Schnitzereien und Gärtchen, über 100 Betten gibt es hier, das Personal spricht Englisch, ein Gemisch aus Französisch, Deutsch und Chinesisch liegt in der Luft. Seit einem Jahr gibt es einen Konzertsaal mit einem nagelneuen Flügel der Marke Kawai. Konstantin Serovatov und ich haben vorgestern vor etwa 40 Zuhörern ein Konzert gegeben, wir vermuten, dass es das erste Kammermusik-Konzert mit Cello und Klavier in der Geschichte der Ortschaft Chuzhir sein könnte: Bachs merkwürdig verwickelt-polyphone Gambensonate G-Dur, Brahms romantisch-schwelgerische, leidenschaftliche e-moll-Sonate (leider nur die ersten beiden Sätze – der Rest übersteigt mein Können), Faurés schmissig-schmalzige Sicilienne und Saint-Saens‘ populärer Schwan. Das Zusammenspiel mit dem tollen Pianisten war für mich in gewisser Weise eine Ehre und eine gute Motivation, eine Zeitlang mal wieder intensiv zu üben auf meinem in Ulan-Ude erstandenen zerschrammten und rissigen, aber warm klingenden und gut eingespielten Cello.

Unsere Hinfahrt nach Olchon erfolgte im Tragflügelboot Kometa, das mit 50 Stundenkilometern über den Baikal flitzte und die Strecke von Listwjanka bei Irkutsk in einem halben Tag zurücklegte. Vor fünf Jahren hatte ich schon einmal in genau demselben Schiff gesessen – damals allerdings war ich bis zum Abend an Bord geblieben und erst am Nordende des Sees, in Severobaikalsk, ausgestiegen. Zurück fuhr ich im Kleinbus ohne Konstantin, der noch länger in Chuzhir bleibt und für seine geplante Japan-Tournee übt. Vor meiner Abreise lud er mich auf eine Tasse Kaffee ein, wir diskutierten, ob nun Schostakowitsch oder Prokofjev die tiefgründigere Musik komponiert hat und ich ließ mir den Unterschied zwischen Arabica- und Robusta-Bohnen erklären. Konstantin lebt ohne feste Anstellung, ohne Bankkonto und ohne Internet, ein eher menschenscheues Genie, dem Kontaktpflege, das Sich-Durchsetzen auf dem Klassikmarkt und Plaudern mit dem Publikum gar nicht liegen. - Über eine Stunde wartete der Kleinbus an der Südspitze der Insel, ehe es einen Platz an Bord der Fähre gab, die die drei Kilometer zum Festland überbrückt. Eigentlich gut, dass es hier keine Brücke gibt, meinte der Fahrer, sonst würden Touristen die Insel Olchon völlig überschwemmen.

Das Tragflügelboot Kometa
Nach der Ankunft auf Olchon

Blick auf die Siedlung Chuzhir
"Nikita Bencharovs homestad"
Konstantin bei der Arbeit (oben), unser gemeinsames Konzert (unten)
Sehenswürdigkeit Nummer eins am Baikalsee: der Schamanenfelsen auf Olchon