
Etwa in der Mitte des Baikalsees
– wenn man seine Nord-Süd-Ausdehnung als Maß nimmt – liegt die Insel Olchón, 70
Kilometer lang und bis zu 15 Kilometer breit, in den Umrissen ihrer
langgestreckten Form an den Baikal selbst erinnernd. Der westliche Teil der
Insel ist eine kahle Hügellandschaft, man kann das Gefühl haben, sich in großer
Höhe auf einem Gebirgsplateau zu befinden. Nach Osten hin steigen die Hügel an
und sind von dichtem Taiga-Wald bewachsen. Der Schamanen-Felsen an der Küste
vor der Ortschaft Chuzhir ist die wohl bekannteste Stelle am Baikal, eines der
Touristen-Ziele Nummer eins und beliebtes Foto-Motiv: ein aus dem Wasser
ragender Doppelfelsen, mit dem Ufer durch eine schmale Landzunge verbunden,
eingebettet in eine Landschaft aus romantischer Steilküste und breiten
Sandstränden. Während meines Aufenthaltes in Chuzhir gab es das reinste
Bilderbuchwetter, Sonne und blauer Himmel, kreischende Möwen zogen ihre Kreise
über verwachsene krumme Lärchen, einige davon nach buddhistischer Tradition mit
farbenfrohen Bändern behängt; die Wellen des Maloje Morje klatschten, von einer leichten Brise bewegt, an die
Felsen. Das „Kleine Meer“ trennt die Insel Olchon vom Festland ab und ist an
dieser Stelle etwa 10 Kilometer breit, das Auge weidet sich am Anblick des
gegenüberliegenden Steilufers mit dem wunderbaren Spiel von Licht und Schatten,
das die Sonnenstrahlen auf der bergigen Landschaft erzeugen. Leute baden im
kühlen, klaren Baikal, chinesische Touristen mit großen Teleobjektiven laufen
geschäftig umher, einige Maler sitzen und zeichnen, man sieht junge Leute
Gymnastik treiben und meditieren.
Die Unterkunft von Natalja, die
mich hierher eingeladen hat, heißt nach dem Namen ihres Mannes „Nikita
Bencharovs homestad“ und ist eine Ansammlung von mehr als einem Dutzend
Gästehäusern, gemütlich und verwinkelt aus Holz gebaut mit schönen
Schnitzereien und Gärtchen, über 100 Betten gibt es hier, das Personal spricht
Englisch, ein Gemisch aus Französisch, Deutsch und Chinesisch liegt in der
Luft. Seit einem Jahr gibt es einen Konzertsaal mit einem nagelneuen Flügel der
Marke Kawai. Konstantin Serovatov und
ich haben vorgestern vor etwa 40 Zuhörern ein Konzert gegeben, wir vermuten,
dass es das erste Kammermusik-Konzert mit Cello und Klavier in der Geschichte
der Ortschaft Chuzhir sein könnte: Bachs merkwürdig verwickelt-polyphone
Gambensonate G-Dur, Brahms romantisch-schwelgerische, leidenschaftliche
e-moll-Sonate (leider nur die ersten beiden Sätze – der Rest übersteigt mein
Können), Faurés schmissig-schmalzige Sicilienne
und Saint-Saens‘ populärer Schwan. Das
Zusammenspiel mit dem tollen Pianisten war für mich in gewisser Weise eine Ehre
und eine gute Motivation, eine Zeitlang mal wieder intensiv zu üben auf meinem
in Ulan-Ude erstandenen zerschrammten und rissigen, aber warm klingenden und
gut eingespielten Cello.
Unsere Hinfahrt nach Olchon
erfolgte im Tragflügelboot Kometa, das mit 50 Stundenkilometern über den Baikal
flitzte und die Strecke von Listwjanka bei Irkutsk in einem halben Tag zurücklegte. Vor fünf Jahren hatte
ich schon einmal in genau demselben Schiff gesessen – damals allerdings war ich
bis zum Abend an Bord geblieben und erst am Nordende des Sees, in
Severobaikalsk, ausgestiegen. Zurück fuhr ich im Kleinbus ohne Konstantin, der
noch länger in Chuzhir bleibt und für seine geplante Japan-Tournee übt. Vor
meiner Abreise lud er mich auf eine Tasse Kaffee ein, wir diskutierten, ob nun Schostakowitsch oder Prokofjev die tiefgründigere Musik komponiert hat und ich ließ mir den Unterschied
zwischen Arabica- und Robusta-Bohnen erklären. Konstantin lebt ohne
feste Anstellung, ohne Bankkonto und ohne Internet, ein eher menschenscheues
Genie, dem Kontaktpflege, das Sich-Durchsetzen auf dem Klassikmarkt und
Plaudern mit dem Publikum gar nicht liegen. - Über eine Stunde wartete der
Kleinbus an der Südspitze der Insel, ehe es einen Platz an Bord der Fähre gab,
die die drei Kilometer zum Festland überbrückt. Eigentlich gut, dass es hier
keine Brücke gibt, meinte der Fahrer, sonst würden Touristen die Insel Olchon
völlig überschwemmen.
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Das Tragflügelboot Kometa |
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Nach der Ankunft auf Olchon |
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Blick auf die Siedlung Chuzhir |
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"Nikita Bencharovs homestad" |
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Konstantin bei der Arbeit (oben), unser gemeinsames Konzert (unten)
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Sehenswürdigkeit Nummer eins am Baikalsee: der Schamanenfelsen auf Olchon |