Freitag, 9. September 2016

Herbst



Es weht ein frischer Herbstwind, zwischendurch regnet es immer wieder. In meiner Wohnung ist es kühl geworden; die Fernheiz-Saison hat noch nicht begonnen. Auch deshalb ist die Luft in Ulan-Ude derzeit so frisch und klar wie selten. Wenn ich auf meinem Weg zur Arbeit über die Brücke gehe und meinen Blick in die Ferne schweifen lasse, zeichnen sich deutlich und scharf in der Ferne die teils bewaldeten, teils kahlen Hügel mit kleinen Siedlungen darauf ab. Kein Vergleich mit der schwülen, stehenden Dunstglocke, die noch im Sommer über der Stadt lag.
Der Herbst ist Beerenzeit. Das reichhaltige regionale Angebot auf dem Zentralmarkt ist beeindruckend: leuchtende Sanddorn-Früchte (oblepicha), blaue Heidelbeeren (tschernika) und schwärzlich glänzende Blaubeeren (golubika), leuchtend rote Preiselbeeren (brusnika) und blaßrote Moosbeeren (kljukva), dicke schwarze Aronia-Beeren (tschernoplodnaja rjabina); rötliche Weißdorn-Beeren (bojarka) und grell-orangene Vogelbeeren (rjabina), die es ja in Deutschland auch gibt, aber die wohl kaum jemand auf die Idee kommen würde zu pflücken; Hagebutten (shipovnik), kleine, dunkelrote Äpfel (ranetki), Pflaumen (sliva) und Stachelbeeren (kryzhovnik). Die Himbeerenzeit (malina) ist schon vorbei, Brombeeren (ezhevika) fehlen im Sortiment. Ich esse die Beeren zusammen mit fettiger Smetana und mit Tsampa, das ich als neues Grundnahrungsmittel entdeckt habe: nach tibetischer Tradition geröstetes Gerstenmehl, hier im ganz normalen Supermarkt für umgerechnet 2 Euro pro Kilo erhältlich.
Vor einer Woche hat das neue Studienjahr begonnen, ich unterrichte in diesem Jahr auch Studenten, die erst im zweiten Jahr studieren. Erste Hausaufgabe war, einen kleinen Aufsatz darüber zu schreiben, wie sie den Sommer verbracht haben. „Ich hatte einen spannenden Sommer“, schreibt Dascha, die kleinste und zarteste Studentin aus dem Kurs, „ich habe meinen 18. Geburtstag gefeiert, mein Sohn wurde geboren und ich habe geheiratet. Nun hat mein Familienleben begonnen.“
Zwei neue Anfängergruppen mit Deutschstudierenden gibt es bei uns am Institut, insgesamt 15 Leute, das sind doppelt so viele wie im letzten Jahr. Außerdem können jetzt auch Studenten einiger Naturwissenschaften statt Englisch auch Deutsch als Fremdsprache wählen. Wählen bedeutete hier: die Gruppen werden vorher eingeteilt – die eine Hälfte Englisch, die andere Hälfte Deutsch – und wer partout in die andere Gruppe will und dafür gute Argumente vorbringen kann, dem wird es erlaubt, solange es sich um Einzelfälle handelt. Das ist ganz typisch russisch. Man geht gar nicht erst davon aus, dass die Leute zu einer freien Entscheidung in der Lage sind – und deshalb sind sie es wahrscheinlich oft auch nicht. Es ist eigentlich von oben schon alles vorentschieden. 
Olga, die junge Sekretärin an unserem Lehrstuhl, war im Sommer in Süddeutschland und Österreich. „Bei euch gibt es eigentlich gar keine Dörfer“, meinte sie, „Es gibt zwischen den Städten märchenhafte Plätze mit schicken Steinhäusern und malerischer Kulisse, aber nichts, was einem russischen Dorf, einem derevnja, vergleichbar wäre.“ Nadja und Julia, die ich bei der Bewerbung unterstützt hatte, haben einen Sprachkurs in Deutschland gemacht und sind ganz zufrieden und voller Eindrücke zurückgekommen. Seseg und Erzhena haben sich auf eigene Faust einen Aufenthalt in Deutschland organisiert und wohl ihr Studium abgebrochen, um gleich ganz dort zu bleiben – das finde ich etwas schade; der Sinn meiner Arbeit ist nicht, dass die Leute für immer von hier verschwinden.

Gaben der burjatischen Natur, von links oben: Ranetki-Äpfel, Zedernzapfen; 2. Reihe: Vogelbeeren, Hagebutten, Moosbeeren, Blaubeeren; 3. Reihe von oben: Aronia-Beeren, Sanddorn, Weißdornbeeren, Stachelbeeren; unten: Pflaumen, Preiselbeeren, Heidelbeeren