Dienstag, 23. August 2016

Sommerschule am Baikal



In der letzten Woche fand am Baikalsee die „Baikal Summer School 2016“ unserer Universität statt. In Maximicha in einer Art Ferienlager-Camp kamen 24 junge Leute zusammen – russische Studenten, die Deutsch, Englisch oder Französisch lernen  sowie chinesische, koreanische und ein holländischer Student, die Russisch als Fremdsprache lernen, vier Gruppen also, und ich war dabei, um den Deutschunterricht durchzuführen. Für die Englischgruppe war Amerikaner Michael zuständig, und den Kurs mit den zwei Französisch-Studierenden leitete Amandine, eine junge Studentin aus Paris. Abends hatte die Gruppe bei mir eine Stunde Chorprobe mit Liedern in verschiedenen Sprachen, und an drei verschiedenen Abenden hielt jeweils einer von uns Ausländern einen Vortrag und zeigte einen Film. Nach einigen einleitenden Worten über das deutsche Bildungssystem und die in manchen Bundesländern schicksalsentscheidende vierte Klasse entschied ich mich für „Frau Müller muss weg“. Als Vortragsthema wählte ich „Migration in Deutschland“, ein Thema, über das in Russland derartig viel Unsinn in den Medien kursiert, dass ein ruhiger und sachlicher Überblick mal not tat: die meisten Migranten sind keine Kriminellen, und Deutschland steht auch nicht kurz vor dem Abgrund.
An- und Abreise erfolgte mit einem 20 Jahre alten universitätseigenen koreanischen Bus, der unterwegs ständig anhielt, weil der Motor überhitzt war oder Öl nachgefüllt werden musste, so dass wir für die Strecke von Ulan-Ude nach Maximicha fast sechs statt der üblichen dreieinhalb Stunden brauchten. Die Bedingungen unserer Unterkunft waren sehr einfach, heißes Wasser gab es keins, dafür wurde zweimal die Banja (russische Sauna) angeheizt.
Verglichen mit den Apollo-Seminaren für russische Landwirtschaftspraktikanten, die ich in Deutschland mit geleitet habe, oder verglichen auch mit dem, was ich an Jugend-Wanderlagern als Teilnehmer oder Gruppenhelfer erlebt habe, war die Sommerschule überhaupt nicht richtig durchorganisiert, aber außer den westlichen Ausländern ist das wohl niemandem aufgefallen. Die Uhren ticken anders hier, zwar gibt es eine Art Ablaufplan, aber nichts beginnt pünktlich, wenn es läuft, wie man es sich vielleicht gedacht hat, ist es schön, wenn nicht, dann ist es eigentlich auch egal. Die Leute sind irgendwie einfacher im Gemüt, niemand will Stress, es kommt ja auch auf nichts wirklich an. Für mich ist es eine gewisse Herausforderung, mich in dieses strukturlose, unkonturierte Phlegma einzufinden.
Bei meinem Deutschunterricht half mir Laura aus der Schweiz, die eigentlich für einen Russischkurs nach Ulan-Ude gekommen ist. Eine unserer Übungen bestand darin, dass wir jeder in unseren Heimatdialekten – Sächsisch und Schweizerdeutsch – etwas erzählten und die Studenten das dann ins Hochdeutsche „übersetzen“ sollten. Für mich war die Begegnung mit Laura auch interessant, weil ich die Schweiz kaum kenne; vor langer Zeit war ich zweimal dort, in Zürich, Dornach und auf dem Säntis. Die Schweiz, das kleine Stachelschwein, nehmen wir auf dem Rückweg ein, soll Hitler gesagt haben, gemeint war: nach erfolgreichem Sowjet-Feldzug und Unterwerfung der übrigen Welt.

Das neue Studienjahr nähert sich mit großen Schritten. Im Institutsgebäude stinkt es nach ätzender chemischer Farbe, der Holzfußboden der Gänge und Lehrräume ist mit einer glänzenden neuen Lackschicht überzogen. Meine Befürchtung, dass in meiner Abwesenheit  mein Büro neu gestrichen und deshalb in einen Chaoshaufen verwandelt wurde, hat sich nicht bewahrheitet. Heute habe ich bei einem Schumacher und Schlosser drei Schlüssel von Institutsräumen nachmachen lassen, weil es mich nervt, diese mir jedesmal vom Pförtner gegen Unterschrift geben lassen zu müssen. Gerade als ich sie abholte, setzte ein sturzbachartiger Regenguss ein. Setzen Sie sich doch hin, meinte der Meister und wies mir einen Platz in seiner Werkstatt zu, warten Sie den Regen ab. Woher kommen Sie? Ah, Deutschland. Es gab ein paar der üblichen Fragen. Ich erfuhr, dass er über 50 ist und zwei Kinder hat, sehr kleine noch – naja, erzählte er und nippte an einer Büchse Starkbier, ich habe 12 Jahre lang im Gefängnis gesessen, deshalb ging das Leben bei mir ein bisschen später los. Zwei Burjaten wollten mich angreifen, ich habe sie abgestochen, da haben sie mir 6 Jahre für jeden gegeben. Die elenden 90er Jahre, als es in Russland an allem mangelte, habe ich im Knast verbracht, da gab es wenigstens immer ordentlich zu essen.

Gemeinsam mit Schweizerin Laura (links) beim Studium der Schweizer Landkarte (oben); Lösen von Aufgaben zur deutschen Geografie (unten)
Bei der Herstellung von Deutschem Kartoffelsalat
Das Camp unserer Universität am Baikal in Maximicha