Montag, 8. August 2016

Isaak und Gera

Potsdam: Ein alter Mann öffnet mir die Tür, ich trete in die halbdunkle Altbauwohnung und gebe ihm zur Begrüßung die Hand, wir gehen gemeinsam in seine Küche. Auf den ersten Blick finde ich, dass er besser aussieht als vor einem halben Jahr bei meinem letzten Besuch. Großgewachsen, leicht gebeugt gehend mit einer markanten Hakennase, großen Ohren und hervortretenden, seine Gegenüber scharf fixierenden Augen in einem langen, knochigen Gesicht. In Verbindung mit den langen Armen und großen Händen hat seine Gestalt etwas Unheimliches an sich. Ich habe mich an ihn gewöhnt, schließlich war er fast 10 Jahre lang mein Nachbar in Potsdam: Isaak Kuris, 85 Jahre alt, Sowjetbürger, Atheist und Jude, genialer Erfinder und erbarmungsloser Ehemann, Weltbürger und einsam zugleich.
Als ich ihm gegenüber wohnte, hatten wir ein gutnachbarschaftliches Verhältnis gepflegt, im Treppenhaus miteinander geplaudert und uns mit Kleinigkeiten ausgeholfen. Gelegentlich besuchte ich ihn und seine Frau Gertruda, Gera genannt. Ich lernte sie als kultivierten, sanften Menschen kennen und bewunderte ihre gepflegte, gebildete Sprache, weshalb es für mich als Russischlernenden immer auch ein Gewinn war, mich mit ihr zu unterhalten. Meine Gespräche mit Isaak begannen meistens auf Deutsch, nach etwa 10 Minuten, wenn die notwendigen Einstiegshöflichkeiten ausgetauscht waren oder wenn  Gera dabei war, wechselten wir ins Russische – neben Ukrainisch die Muttersprache der beiden.
Bei meinem diesmaligen Besuch beginnen wir unser Gespräch gleich auf Russisch. Bevor wir zu seiner Frau ins Pflegeheim fahren, berichtet mir Isaak über seinen Gesundheitszustand. Er spricht mit leicht heiserer Stimme, die Worte kommen klar und wie gemeißelt; wenn ich seine Frau aus Versehen Gerda statt Gera nenne, berichtigt er mich, da ist doch ein Buchstabe zu viel. Einen großen Teil seines Lebens verbringt der alte Mann damit, um eben dessen Verlängerung zu kämpfen, mit Disziplin und Ausdauer besucht er Ärzte und Krankenhäuser und fährt bis München oder Hamburg, um Spezialisten für eine besondere, von ihm gewünschte Heilmethode zu finden.
Isaak ist 1995 gemeinsam mit Gera von Kiew nach Deutschland ausgewandert. Seine um ein Jahr jüngere Frau, Mathematikdozentin an einer Kiewer Hochschule, schien einer medizinischen Behandlung zu bedürfen, die es in der Ukraine nicht gab. Später stellte sich heraus, dass Gera die befürchtete Krankheit doch nicht hatte, trotzdem blieben die beiden in Potsdam. Isaak lernte recht schnell Deutsch und konnte sich bald ordentlich verständigen. Seine Frau hat den Einstieg in die neue Sprache nicht mehr gefunden, war trotz Integrationskurs an der Volkshochschule nie in der Lage, mehr als ein paar Worte zu behalten. Besonders für sie war es schön, dass in der Wohnung gegenüber ein russischsprechender Nachbar auftauchte.
Gera wohnt seit zweieinhalb Jahren in einem speziellen, von der Potsdamer jüdischen Gemeinde betriebenen Pflegeheim für russischsprachige Bewohner, mit russischem Pflegepersonal. Als wir sie besuchen, ist es halb zwölf und Gera schon beim Mittagessen. Sie sitzt im Rollstuhl und ist in ihre eigene Welt entschwunden, mich erkennt sie nicht mehr. In humorvollem Ton sagt sie wirre Dinge und liebkost eine Plüschkatze, Isaak küsst ihre Hand und füttert sie. Vor einem Jahr bin ich mit ihr noch draußen spazieren gegangen, jetzt fahre ich sie eine Runde im Rollstuhl herum.
Als ich Gera vor 10 Jahren kennenlernte, war sie körperlich und geistig noch fit. Während Isaak im Keller herumwerkelte und Patente von Baumwollsamen-Entlinterungsapparaten und ähnlichen mir unverständlichen Dingen entwarf, führte sie ein einsames und leeres Leben, sprachlich abgeschnitten von ihrer deutschen Umwelt und weit weg von ihrem Sohn in Kiew, der so gut wie keinen Kontakt zu seinen Eltern pflegt. Haben die beiden keine Bekannten, keine Freunde? Je älter und kränker sie wurden, desto mehr haben sich abgewendet, einer nach dem anderen, erzählte mir Isaak. Bleibt sein Bruder in Israel oder die einen oder anderen Bekannten in Polen – niemand, der im Alltag nahe wäre. Er füllt sein Leben auch damit aus, dass er die Ereignisse der großen Politik verfolgt, den russischen Fernsehsender hörte ich nachmittags und abends durch die ganze Wohnung dröhnen; bei meinen Besuchen legt er mir in der Küche seine klugen Gedanken dazu dar. Wenn Gera etwas einwerfen wollte, schnitt er ihr meistens das Wort ab. Intellektuell konnte sie ihm nicht das Wasser reichen, gegen seine unerbittliche Ingenieurs-Logik kam sie nicht an, und er gab sich auch keine Mühe, sie ernst zu nehmen. Mit der Zeit hatte ich das Gefühl, dass er sie wie ein lästiges Möbelstück behandelt.
In der Wohnung von Isaak sieht es aufgeräumt aus. Aus dem sauber gemachten Bett und den an ihrem Platz liegenden Dingen spricht die eiserne Disziplin ihres Bewohners, eine nimmermüde Geschäftigkeit verbindet sich mit einem detailliert geregelter Tagesablauf und Ordnungsdrang. Woher Isaak seinen Lebenswillen nimmt, ist mir ein Rätsel. Glauben hat er keinen, begreift das Dasein mit erbarmungslosem sowjetischem Materialismus, Jude ist er nur auf dem Papier, was ihm und seiner Frau ermöglichte, mit dem Status „jüdischer Kontingentflüchtling“ nach Deutschland auszuwandern.
Im Jahre 2013 wurde ich als gegenüber lebender Nachbar ein wenig in das Drama involviert, das sich bei den beiden in ihrer Wohnung abspielte. Gera begann, vergesslich zu werden, Schlüssel und Portemonnaie zu verlieren und den Plastik-Wasserkocher mit dem Gasherd zu erhitzen. Daraufhin nahm er ihr Schlüssel und Geld weg und sperrte sie damit in ihrer Wohnung ein. Das war das Ende ihrer alleinigen Rundgänge im Park Sanssouci. Die alte Frau kam nur noch aus dem Haus, wenn ihr Mann mit ihr spazieren ging – oder ich, wobei sie mir ausführlich ihr Leid klagte und mir ihr Herz ausschüttete mit der großen Sehnsucht, nach Kiew zurückzukehren, in die Heimat, zu ihrem Sohn, zu Menschen, die sie verstehen und die ihre Sprache sprechen. Manchmal saß sie bei mir in der Küche, wenn sie losgelaufen war und nicht zurück in ihre Wohnung gelangte, weil der Mann nicht da war. Außer zuhören konnte ich nichts für sie tun.
Anfang 2014 kam Gera in das russischsprachige Pflegeheim, wo ich sie bis letzten Sommer regelmäßig besuchte, mit ihr spazieren ging und ihr Puschkin-Gedichte vorlas, die sie mitunter mitsprechen konnte, weil sie sich aus ihrer Jugend noch erinnerte. Ein Zimmer in einer Neubauwohnung ohne vertraute Dinge und Menschen, ohne persönlichen Besitz, nur mit dem sinnlos rieselnden Fernseher und dem leeren Geschwätz der Pfleger, das hielt Gera nicht lange aus. Sie flüchtete in ihre eigene Welt, in die Demenz. Etwa ein halbes Jahr nach ihrem Umzug ins Heim waren mit ihr keine Gespräche im herkömmlichen Sinne mehr möglich. Ihre mitunter verzweifelte und aggressive Stimmung störte das Personal bei der Arbeit. Sie bekam Psychopharmaka und ist jetzt ruhig und gefügig.
Isaak hat in seiner Wohnung elf Ordner mit Patenten stehen, die er in Deutschland gemacht hat, großartige Erfindungen im Bereich der Landwirtschaftstechnik, die aber leider niemand in der Praxis erproben und umsetzen möchte – so sagt er. Bei Gera im Heim liegen zwei Fotoalben mit zerfledderten, durcheinander geratenen Bildern aus über 80 Jahren Leben, die ich mit Isaaks Erlaubnis einmal geordnet und chronologisch neu eingeklebt hatte. Gera – in Russland, bei Brjansk geboren, im Krieg Flucht Richtung Ural nach Ufa. Isaak – in Kiew geboren, Studium der Holzverarbeitung, Dienstreisen nach Usbekistan.
Die nachbarlichen Besuche bei Isaak und Gera, später nur noch bei Isaak habe ich in Erinnerung als interessant, aber nicht unbedingt gemütlich. Etwas Kaltes geht von dem Mann aus, eine Art knochige Unerbittlichkeit und technische Erbarmungslosigkeit, die ich schwer in Worte fassen kann. Als Bewirtung stellte er öfters einen Teller vor mich auf den sonst leeren Küchentisch hin, legte einen Löffel daneben und nahm den Teller sofort wieder weg, nachdem ich ihn leergegessen hatte und spülte ihn; danach gab es nicht mal den für seinen Kulturkreis doch eigentlich obligatorischen Tee. Selbst kaute er gern trockenes Brot. Ein wenig gemütlicher ist es mit ihm nun geworden: bei meinem diesmaligen Besuch gibt es Kaffee und Torte. Ich frage ihn, wann die letzte Reise seiner Frau nach Kiew war. Warum ich denn so genau nachfragen würde, wann sie im Leben dieses oder jenes gemacht hätten, fragt mich Isaak zurück, ihm scheine, mir wäre das wichtiger als ihm selbst. Ich schreibe ein Buch, antworte ich, darin wird die Geschichte von ihm und seiner Frau auch ein kleines Kapitel. Ja, das habe er sich schon gedacht, erwidert der alte Mann. Wir verabschieden uns, Isaak schaut mir mit seinen durchdringenden, etwas unheimlichen Augen nach; in einem halben Jahr sehen wir uns wieder, hoffentlich, ich möchte ihn noch einiges fragen.