Samstag, 13. August 2016

Siebzehn Jahrhunderte Christentum

Armenien ist das Land der Steine. Nicht nur die Häuser in der Stadt und auf dem Land sind aus Tuff oder Basalt, sondern auch die Kirchen; wuchtig und gedrungen stehen sie in den Bergen, drinnen herrscht ehrfurchtgebietende Dunkelheit, durch kleine Fenster fällt Sonnenlicht ins Innere. Sie wirken noch düsterer und trotziger als die romanischen Kirchen in Mitteleuropa. Andrés armenische Frau Emma nahm mich in Jerevan mit zu einem Gottesdienst. Die Armenische Apostolische Kirche – älteste Staatskirche der Welt! – gibt es seit Anfang des 3. Jahrhunderts, ihr Oberhaupt, das Gegenstück zum Papst also, heißt Katholikos. Ich war erstaunt, Bankreihen zum Sitzen vorzufinden, nur wenige, große Ikonen hingen an den Wänden, die Priester hatten lange, festliche Gewänder an, es wurde viel geräuchert. Ein schwerer Vorhang wird an bestimmten Stellen des Rituals vor den Altar gezogen und verdeckt den Blick der Gemeinde auf das Geschehen. Mich erinnerte der Gottesdienst eher an den Tridentinischen Ritus der Katholiken (der 1962 abgeschafft wurde, den es aber zum Beispiel in einigen Berliner Gemeinden noch gibt) als an die russisch-orthodoxe Kirche. Fast zu Tränen rührte mich der Männergesang, archaisch, urwüchsig, machtvoll und irgendwie auch exotisch, nicht auf einer klassischen europäischen Tonalität beruhend.
Ich bin sehr angenehm überrascht von den Armeniern, die mir auf meiner dreitägigen Rundreise begegneten: offene, freundliche, hilfsbereite, aber auch nicht aufdringliche Menschen. Haut- und Haarfarbe sowie mein großer Rucksack klassifizieren mich überall sofort als Tourist, es kam vor, dass ich angesprochen wurde, Wasser angeboten bekam – und wenig später mit einem kleinen Kaffee vor der Nase in einem schattigen Innenhof saß. Die ältere Generation spricht fließend Russisch und die meisten Jüngeren auch, viele haben zu Sowjetzeiten in Russland gedient und einige auch in der DDR, Deutschland hat einen guten Ruf.

Unweit des Dorfes Tatev befindet sich eine berühmte Klosterruine an einem Felsabgrund über einer bewaldeten Schlucht. Zwei Jugendliche und zwei Frauen kommen auf mich zu, eine von ihnen spricht mich in geschliffenem Englisch an, ob ich schon eine Übernachtung hätte und nicht vielleicht zu ihnen wolle? Bed and Breakfast für nur 7000 Dram (13 Euro), in einer echten armenischen Familie wohnen, organic food aus eigenem Anbau, Terrasse mit tollem Blick auf die Berge. Ich bin einverstanden. Sie gingen jetzt noch in die Kirche und ich solle mich auf keinen Fall schon allein ins Dorf begeben, sonst würden mich womöglich die Nachbarn abfangen und in ein anderes Haus mitnehmen, das wäre doch schade.  
Von der Herzlichkeit der Familie bin ich begeistert. Liana, die Schwester der Hausherrin Greta, ist mit ihren beiden Kindern Hrair und Lilit zu Gast, sie haben anderthalb Jahre in den USA gewohnt, daher ihr Englisch; der Großvater Rasmik, kerngesund und an die 80, erläutert mir auf Russisch, warum Putins Politik Armenien gegenüber nicht gerecht sei – weil er beide unterstütze, sein Land und den Aggressor Aserbaidzhan. Ich spiele mit ihm zwei Runden Schach, verliere beide Male und bekomme trotzdem ein Lob: im Unterschied zu anderen Touristen habe er bei mir etwas nachdenken müssen. Haben die Menschen in der Sowjetunion in Armenien besser gelebt als jetzt, werfe ich als Frage beim gemeinsamen Abendessen in die Runde. Natürlich, sagt der Großvater, alle hatten Arbeit, niemand musste sich Sorgen machen, es gab kaum Unterschiede zwischen Arm und Reich. Natürlich nicht, erklärt mir sein 17-jähriger Enkel, man konnte nicht sagen was man wollte, nicht frei reisen, kein Unternehmen gründen und sein eigener Chef sein. Nach dem Frühstück besichtigen wir Stall und Garten: ein Kalb und ein Esel stehen etwas verloren im Stockdunklen, wegen Kabelbrand-Gefahr wird das Licht nicht angemacht; vor dem Haus baut die Familie Bohnen und Kartoffeln an, acht Bienenvölker stehen auf der Wiese.
In Armenien scheint es mehr intakte Landwirtschaft zu geben als in meiner eher kargen Wahlheimat Burjatien; überall werden dicke saftige Wassermelonen angeboten und auch Pfirsiche aus heimischem Anbau. Was für die Burjaten der Baikal ist, ist für die Armenier der Sewan-See, der größte Süßwassersee des Kaukasus, freilich dreißig mal kleiner und nicht mal ein Zehntel so tief wie sein „russischer Bruder“. Während in Jerewan auch nachts eine derartige Hitze herrscht, dass ich nachts kaum Schlaf finde, ist es am Sewan-See in 1900m Höhe über dem Meeresspiegel angenehm kühl. An seinem Ufer  besuche ich die beiden Kirchen Hayravank und Sewan. Überall stehen steinerne Grabplatten mit eingemeißelten Kreuzen und armenischen Schriftzeichen, verwittert und mit orangebraunen Flechten überzogen, es weht ein Hauch von geheimnisvoller Vergangenheit und Ursprünglichkeit.

Das Kloster Tatev in den armenischen Bergen
Meine armenische Gastfamilie: Rasmik, Liana, Hrair und Lilit (v.l.n.r.)
Die Kirche Hayravank am Sewan-See, dem "Baikal Armeniens"
Die Kirche Sewan am gleichnamigen See