Montag, 8. August 2016

Am Südrand des Sowjet-Imperiums

Strahlende Sonne und blauer Himmel mit ein paar Wolken, Vogelgezwitscher, Fliegengesumme und fernes Hundegebell. Es sind über 20 Grad, obwohl es erst 7 Uhr morgens ist. Ich sitze am Tisch auf der Terrasse vor einem steinernen Sommerhaus, mein Blick fällt auf ein kleines Gartengrundstück, Brombeeren, ein Walnussbaum, Apfel- und Pfirsichbäumchen, etwas weiter am Weg wächst sogar ein Mandelstrauch. Neben mir tippt André, einer der wenigen meiner Freunde, die morgens noch früher als ich aufstehen, um geistig zu arbeiten. Vor ihm stehen ein Laptop und eine Kaffeetasse. „Mehr brauche ich nichts zum Arbeiten: Notebook, Handy und ein Flughafen“, scherzt André. Er reist durch die Welt und schreibt Berichte über das, was er sieht und erfährt: für das britische Außenministerium, das deutsche Auswärtige Amt, die norwegische Entwicklungshilfe und ähnliche Auftraggeber. Bevorzugt ist er in Krisenländern wie Syrien, Afghanistan oder dem Irak unterwegs. Jetzt aber besuche ich ihn in einer relativ friedlichen Region. Wir befinden uns in dem Land, welches im Jahre 301 als erstes das Christentum als Staatsreligion einführte, einem kleinen Staat, wo die Menschen zwar nicht in erster Linie, aber doch meistens auch sehr gut Russisch sprechen: in Armenien, sozusagen am Südrand des ehemaligen Sowjet-Imperiums und davor des russischen Zarenreiches.
Von Moskau aus sind es zweieinhalb Flugstunden in die armenische Hauptstadt Jerewan. Die Einreise ist für deutsche Staatsbürger denkbar unkompliziert – ein Visum ist nicht nötig, zack, Stempel in den Pass, wer will, kann 90 Tage bleiben. Anders erging es mir bei der Ausreise aus Russland.
„Ziel ihrer Reise nach Jerewan“, blafft mich der Grenzbeamte aus seiner Kabine heraus am Flughafen Domodedovo an. Ich besuche einen Freund, antworte ich verwirrt und verstehe nicht, warum mir bei der Ausreise jemand so eine Frage stellt. Bei der Einreise könnten sich ja die Armenier dafür interessieren, was ich in ihrem Land so vorhabe, aber was geht das den Russen an? „Wie lange bleiben Sie? Haben Sie eine Rückfahrkarte?“ Schließlich bekomme ich den erlösenden Stempel und darf ins Nahe Ausland reisen, wie Russen die 14 anderen Staaten der ehemaligen UdSSR gern nennen.
André hält sich im Sommer mit seiner armenischen Frau Emma in einer Art Datsche in der Nähe von Jerewan auf. Als ich Emma von meiner Befragung beim Grenzübertritt erzähle, regt sie sich furchtbar auf. „Die denken wohl immer noch, Armenien ist ein russisches Gouvernement, wie im 19. Jahrhundert und möchten es gern kontrollieren!“ Seit einiger Zeit gibt es in Jerewan Demonstrationen gegen die amtierende, russlandfreundlich eingestellte Regierung, die Leute wünschen sich Veränderungen, weniger Korruption, ein besseres Leben. Putin gefiele es wohl nicht, wenn einreisende Westeuropäer dort einen Umsturz anstacheln, der nächste Maidan sozusagen, ähnlich dem Putsch vor zwei Jahren in Kiew.
Ich bin weit entfernt von politischer Tätigkeit und freue mich einfach darauf, ein neues Land kennenzulernen. An die sibirische Holzarchitektur gewöhnt, fallen mir als erstes die Sommerhäuser und Zäune aus Stein auf, aus großen, rötlichen Quadern, armenischer Tuff genannt. Auf dem Weg vom Flughafen nach Dzorachbjur, wo André und Emma wohnen, fällt mein Blick auf eine unbewegliche, hoch am Himmel stehende Wolke, die sich als der schneebedeckte Gipfel des Ararat herausstellt, der Nationalberg der Armenier, majestätisch über der Stadt thronend – nur leider befindet er sich auf einem Gebiet, das heute zur Türkei gehört.
Armenien ist nur etwa so groß wie das Bundesland Brandenburg und hat auch etwa so viele Einwohner wie dieses, drei Millionen, die stolz auf ihre jahrtausendealte Geschichte und Traditionen sind. Meine Vorbereitung auf die Reise bestand darin, mir das im 5. Jahrhundert geschaffene armenische Alphabet einzuprägen: 39 Schriftzeichen, die irgendwie an griechische und lateinische Buchstaben erinnern mit Oberlängen, Unterlängen und Rundungen, aber dann doch wieder ganz anders sind und, wo es Ähnlichkeiten gibt, anders ausgesprochen werden. Da die Buchstaben sehr exakt die Aussprache wiedergeben, ist es kein Problem, wenn man sie gelernt hat, auch Worte lesen zu können. Während mich die Schrift des nördlichen Nachbarn Georgien irgendwie an in Kreise ausgelegte Nudeln erinnert, haben die armenischen Zeichen eher etwas eckiges, archaisch-runenhaftes an sich. 

Das Sommerhaus meiner Gastgeber in der Nähe von Jerewan
André beim Arbeiten (oben) und beim Shisharauchen mit Frau Emma (unten)
Keine Wolke, sondern ein Berg: der schneebedeckte Gipfel des Ararat thront über Jerewan

Armenische Buchstaben: das rote Wort heißt "Market"
Ein Mandelbäumchen