Die Verhältnisse zwischen Wort und Wirklichkeit sind in
Russland andere als in Deutschland. Die
Wirklichkeit wird in Russland anders in Worten abgebildet. Mit Worten wird auf
andere Art Wirklichkeit geschaffen.
Bei festlichen Anlässen ist die Sprache in Russland üppiger,
blumiger, ausladender, emotionaler und floskelhafter als in Deutschland. Würde
man die Ansprachen, die gehalten werden beispielsweise bei einem Konzert, zum
Jahrestag der Stadt oder auch bei einer privaten Feier, wörtlich übersetzen,
käme ein für das deutsche Ohr ganz unerträglicher Schwulst dabei heraus.
Deutsche Festreden sind knapper, sachlicher und nüchterner.
Bei Feiern im Verwandtenkreis oder mit Arbeitskollegen ist
es üblich, stundenlang an einer üppigst gedeckten Tafel zu sitzen und zu essen.
Dabei ist es Brauch, dass alle Anwesenden reihum aufstehen und mit dem
gefüllten Wein- oder Wodkaglas in der Hand einen Toast ausbringen – auf den
Hausherrn, auf das gerade begangene Jubiläum, auf den erfolgreichen Abschluss
der Veranstaltung oder was eben gerade gefeiert wird. Zu diesem Ritual gehört
natürlich, dass nur positive Dinge gesagt werden. Getreu dem Motto „es ist
schon alles gesagt worden, aber noch nicht von allen“ wiederholen sich dabei
die Worte und Inhalte der Reden, aber darauf kommt es nicht an – es wird mit
der Sprache ein emotionaler Raum geschaffen, man muss mehr mit dem Herzen
hinhören, weniger mit dem Kopf.
In vielen Situationen im öffentlichen Raum werden in
Russland keine Worte gemacht, wo man sie in Deutschland unbedingt erwarten
würde. Haltestellen-Ansagen in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Durchsagen im
Fernbus über Länge und Ort einer eingelegten Pause sind kaum verbreitet. Ein
Einkauf im Laden vollzieht sich oft ohne jede Höflichkeitsfloskeln, Nachbarn im
Treppenhaus oder im Fahrstuhl werden nicht gegrüßt, bei privaten
Telefongesprächen legt man ohne Abschied auf, gemeinsame Mahlzeiten beginnen
irgendwie zeitversetzt ohne das Startsignal „Guten Appetit“. Die russischen
Höflichkeitskonventionen sind hier andere, der oben beschriebenen festlichen
Wortverschwendung steht hier eine minimierte Knappheit gegenüber.
In „pädagogischen“ Situationen, sei es an der Universität
oder bei einer Museumsführung, geht es in Russland monologischer, belehrender
und hierarchischer zu. Ein Schwall von Details ergießt sich über das Publikum,
eine Einbeziehung der Zuhörer oder die Ermutigung zu Rückfragen finden oft
nicht statt.
Auch das geschriebene Wort wird auf andere Weise eingesetzt.
In vielen Situationen fällt mir eine krasse „Rezipienten-Unfreundlichkeit“ auf,
das Unvermögen, Informationen übersichtlich, leserfreundlich und gut erfassbar
aufzubereiten. Schautafeln in russischen Museen sind von oben bis unten
vollgestopft mit Daten in kleinster Schriftgröße, ein akribisch
zusammengetragener Faktenberg bar jedweder strukturierender Überschriften oder
Zusammenfassungen. Das gleiche trifft auf die hoffnungslos überladenen Folien
bei Powerpoint-Präsentationen zu. Die Baikal-Bank, vor kurzem Pleite gegangen,
informiert ihre Kunden durch einen Aushang an der geschlossenen Filiale
darüber, wie sie sich ihr (zum Glück versichertes) Geld auszahlen lassen können
– in Form von drei eng beschriebenen A4-Seiten in unverständlichem
Bürokraten-Russisch.
Hinweisschilder sind grundsätzlich verbotsorientiert. Statt
„Danke, dass Sie hier nicht rauchen“ heißt es „Rauchen verboten, Strafe 500
Rubel“. Natürlich wird oft trotzdem geraucht, und allen ist klar, dass die
Strafe weniger ernst gemeint ist. Überhaupt hat das geschriebene Wort einen
geringeren Grad an Verbindlichkeit. Wenn an einer Bibliothek steht
„Mitarbeiterin Olga Sharajeva, Öffnungszeiten Dienstag und Donnerstag 14-18
Uhr“, dann wäre es naiv zu glauben, dass Olga Sharaeva am Dienstag und
Donnerstag zwischen 14 und 18 Uhr dort arbeiten würde. Es kann auch heißen, dass
sie einmal da tätig war oder möglicherweise in der Zukunft zu den genannten
Zeiten arbeiten wird. Aushänge spiegeln oft einen vergangenen oder künftig
erwünschten Zustand wider. Viel wichtiger als in Deutschland ist es in
Russland, aktuell gültige Informationen bei den richtigen Leuten zu erfragen.
Weniger wichtig ist, wo etwas steht. Interessanter ist: wer hat es gesagt?
Außer einem kleinen Regal neben meinem Büro gibt es in unserem Institut keinen
einzigen Ort, wo irgendwelche Broschüren oder Flyer zum Mitnehmen ausliegen
würden. Die westliche „Informationsmaterial-Kultur“ ist hier noch nicht ganz
angekommen.
Charakteristisch ist die russische Sucht nach Urkunden und
Auszeichnungen, allerorten findet man festlich eingerahmte Dankesbriefe und
Ehrentafeln herausragender Mitglieder eines Arbeitskollektivs. - Diskussionen
um politisch korrekten oder „geschlechtergerechten“ Sprachgebrauch finden nicht
statt, für Russen gibt es keine solcherart „verdorbenen“ Wörter wie für die
Deutschen (Menschen-)Rasse, Arier oder Neger.
Einzelne Wörter, die auf Deutsch und Russisch scheinbar
etwas Gleiches bezeichnen, sind mit einem unterschiedlichen Inhalt gefüllt.
Unter einem Manager und einer Konferenz stellt man sich in Deutschland
eher etwas Großes vor. Ein Manager in
Russland kann einfach nur ein leitender Verkäufer sein, und eine kleine unorganisierte
Zusammenkunft einiger Menschen findet gern unter dem Titel Konferenz statt.