Donnerstag, 3. März 2016

Tote Schaben im Klavier


Seit über einem halben Jahr wohne ich nun schon in meiner schönen 2-Zimmer-Wohnung Nummer 46 in der Frunse-Straße 16, und immer noch entdecke ich in ihr etwas Neues. Vor kurzem habe ich herausgefunden, dass sich in dem kleinen Esstisch, an dem ich täglich mindestens zweimal sitze, ein kleines Schubfach befindet mit Löffeln, Gabeln und Messern – alles Dinge, über deren vermeintliches Fehlen in der ansonsten gut ausgestatteten Wohnung ich mich gewundert und die ich inzwischen längst nachgekauft habe.
Neulich war meine Kollegin und Chefin bei mir im Büro, die Lehrstuhlleiterin Elena, von der ich die Wohnung miete. Wie üblich am Monatsende drückte ich ihr einen Umschlag mit der Miete in bar in die Hand, 20000 Rubel, für hiesige Verhältnisse recht viel, in Anbetracht des aktuellen Eurokurses für mich eher wenig. Dieses Mal hatte Elena noch ein Anliegen. Ob es stimmen würde, dass ich in einem Freizeitzentrum außerhalb der Uni kostenlos Deutschkurse anbiete…? Ich konnte ihre Bedenken sofort zerstreuen, seltsam, wer so ein Gerücht in die Welt setzt. Dazu habe ich weder Zeit noch Lust, der Unterricht hier am Institut reicht mir völlig aus, wöchentliche Chorproben, alle 14 Tage ein Deutscher Abend in der Musikschule, Werbung für Deutsch an Schulen, Weiterbildungsveranstaltungen für die Kollegen, Beratungen über Studienmöglichkeiten in Deutschland… ich bin ganz gut ausgelastet. Und kann verstehen, dass ich den Kollegen keine Arbeit wegnehmen sollte, die sich mit privater Nachhilfe oder zusätzlichen bezahlten Kursen etwas dazuverdienen möchten.
Gestern hat Elena einige ernste Telefongespräche mit drei der Masterstudentinnen geführt, eine gute Gruppe, in der ich im letzten Semester gern unterrichtet hatte. Eigentlich sind es sechs Studentinnen. Eine davon macht gerade ein Praktikum in Deutschland – bleiben fünf. Zum Unterricht tatsächlich kommen aber nur noch zwei. Warum? Eine ist schwanger, eine heiratet bald (vermutlich, weil sie auch schwanger ist) und eine muss arbeiten – alles Gründe, das Studium zu unterbrechen oder abzubrechen. Da helfen wohl auch die Ermahnungen der Lehrstuhlleiterin nichts, und dass ihnen der Unterricht bei mir Spaß gemacht hat, bedeutet auch nicht so viel, andere Dinge im Leben sind dann auf einmal viel wichtiger. Weniger Studenten, das bedeutet, dass im September die Zahl der neuen Studienplätze weiter gekürzt wird und dann wahrscheinlich auch Dozentenstellen. Keine gute Entwicklung.

Am letzten Samstag habe ich Sergej Georgiewitsch Okladnikov ans Institut bestellt und ihn unser Klavier stimmen lassen – neben dem Reparieren von Streichinstrumenten kann er das auch. Ich möchte das musikalische Leben hier ein wenig entwickeln, für die Chorproben ist es nützlich, und vielleicht lässt sich das eine oder andere Konzert organisieren. In dem Instrument aus den 70er Jahren lagen Orangenschalen herum (gegen die Motten) und eine Menge vertrocknete, halb zerkrümelte tote Schaben. Bis in die 90er Jahre waren sie in Ulan-Ude sehr verbreitet, etwa mit dem Aufkommen der Mobiltelefone verschwanden sie, erzählte Sergej Georgiewitsch und vermutet hier einen Zusammenhang. Zum ersten Mal betrachtete ich ganz bewusst ein Klavier von innen. Gammerschtil, schlits, kern und wirbel: viele Elemente der Mechanik werden auch im Russischen mit deutschen Fachwörtern bezeichnet.

An diesem Samstag steht mir wieder einmal eine Flugreise bevor: knapp zweitausend Kilometer nach Nordosten soll es gehen, nach Jakutsk, Hauptstadt der Republik Jakutien, die größte und kälteste Region Russlands, wo ich eine Südtiroler Kollegin besuchen möchte, die dort Deutsch unterrichtet. Zur Einstimmung lese ich Gerd Ruges Sibirisches Tagebuch, der als Fernsehjournalist 1997 genau diese Gegend bereist hatte.

Sergej Okladnikov stimmt das Klavier bei uns im Institut