Seit über einem
halben Jahr wohne ich nun schon in meiner schönen 2-Zimmer-Wohnung Nummer 46 in der
Frunse-Straße 16, und immer noch entdecke ich in ihr etwas Neues. Vor kurzem
habe ich herausgefunden, dass sich in dem kleinen Esstisch, an dem ich täglich
mindestens zweimal sitze, ein kleines Schubfach befindet mit Löffeln, Gabeln
und Messern – alles Dinge, über deren vermeintliches Fehlen in der ansonsten
gut ausgestatteten Wohnung ich mich gewundert und die ich inzwischen längst
nachgekauft habe.
Neulich war meine
Kollegin und Chefin bei mir im Büro, die Lehrstuhlleiterin Elena, von der ich
die Wohnung miete. Wie üblich am Monatsende drückte ich ihr einen Umschlag mit
der Miete in bar in die Hand, 20000 Rubel, für hiesige Verhältnisse recht viel,
in Anbetracht des aktuellen Eurokurses für mich eher wenig. Dieses Mal hatte
Elena noch ein Anliegen. Ob es stimmen würde, dass ich in einem Freizeitzentrum
außerhalb der Uni kostenlos Deutschkurse anbiete…? Ich konnte ihre Bedenken
sofort zerstreuen, seltsam, wer so ein Gerücht in die Welt setzt. Dazu habe ich
weder Zeit noch Lust, der Unterricht hier am Institut reicht mir völlig aus,
wöchentliche Chorproben, alle 14 Tage ein Deutscher Abend in der Musikschule,
Werbung für Deutsch an Schulen, Weiterbildungsveranstaltungen für die Kollegen,
Beratungen über Studienmöglichkeiten in Deutschland… ich bin ganz gut ausgelastet.
Und kann verstehen, dass ich den Kollegen keine Arbeit wegnehmen sollte, die
sich mit privater Nachhilfe oder zusätzlichen bezahlten Kursen etwas
dazuverdienen möchten.
Gestern hat Elena
einige ernste Telefongespräche mit drei der Masterstudentinnen geführt, eine
gute Gruppe, in der ich im letzten Semester gern unterrichtet hatte. Eigentlich
sind es sechs Studentinnen. Eine davon macht gerade ein Praktikum in
Deutschland – bleiben fünf. Zum Unterricht tatsächlich kommen aber nur noch
zwei. Warum? Eine ist schwanger, eine heiratet bald (vermutlich, weil sie auch
schwanger ist) und eine muss arbeiten – alles Gründe, das Studium zu
unterbrechen oder abzubrechen. Da helfen wohl auch die Ermahnungen der
Lehrstuhlleiterin nichts, und dass ihnen der Unterricht bei mir Spaß gemacht
hat, bedeutet auch nicht so viel, andere Dinge im Leben sind dann auf einmal
viel wichtiger. Weniger Studenten, das bedeutet, dass im September die Zahl der
neuen Studienplätze weiter gekürzt wird und dann wahrscheinlich auch Dozentenstellen.
Keine gute Entwicklung.
Am letzten Samstag
habe ich Sergej Georgiewitsch Okladnikov ans Institut bestellt und ihn unser
Klavier stimmen lassen – neben dem Reparieren von Streichinstrumenten kann er
das auch. Ich möchte das musikalische Leben hier ein wenig entwickeln, für die
Chorproben ist es nützlich, und vielleicht lässt sich das eine oder andere
Konzert organisieren. In dem Instrument aus den 70er Jahren lagen
Orangenschalen herum (gegen die Motten) und eine Menge vertrocknete, halb
zerkrümelte tote Schaben. Bis in die 90er Jahre waren sie in Ulan-Ude sehr
verbreitet, etwa mit dem Aufkommen der Mobiltelefone verschwanden sie, erzählte
Sergej Georgiewitsch und vermutet hier einen Zusammenhang. Zum ersten Mal
betrachtete ich ganz bewusst ein Klavier von innen. Gammerschtil, schlits, kern und wirbel:
viele Elemente der Mechanik werden auch im Russischen mit deutschen Fachwörtern
bezeichnet.
An diesem Samstag
steht mir wieder einmal eine Flugreise bevor: knapp zweitausend Kilometer nach
Nordosten soll es gehen, nach Jakutsk, Hauptstadt der Republik Jakutien, die
größte und kälteste Region Russlands, wo ich eine Südtiroler Kollegin besuchen
möchte, die dort Deutsch unterrichtet. Zur Einstimmung lese ich Gerd Ruges Sibirisches
Tagebuch, der als Fernsehjournalist 1997 genau diese Gegend bereist hatte.