Dienstag, 8. März 2016

Jakutsk



Nachdem Gott die Erde erschaffen hatte, schickte er einen Engel mit einem Sack voller Bodenschätze aus, um diese über den Planeten zu verteilen. Als der Engel über Jakutien flog, froren ihm die Finger steif und er ließ seine Schätze fallen. Zur Strafe bedeckte Gott die ganze Region mit einer ewigen Eisschicht. So erklärt die Legende den Reichtum Jakutiens: Erdgas, Erdöl, Kohle und Diamanten gibt es hier.
Die Republik Jakutien – offiziell heißt sie Republik Sachá – ist die größte der 85 Regionen Russlands. Ihre Ausdehnung entspricht der Fläche Indiens, mit dem Unterschied, dass hier nicht eine Milliarde Menschen leben, sondern nur knapp eine Million. Davon gehören etwa die Hälfte dem Volk der Jakuten an, neben den Burjaten die größte nicht-russische Volksgruppe in Sibirien. In Jakutien befindet sich der kälteste bewohnte Ort der Erde, Oimjakon. Die Hauptstadt Jakutsk gilt als kälteste Großstadt der Welt, die Temperaturunterschiede zwischen Winter und Sommer betragen fast 100 Grad.
Im Vergleich zu Ulan-Ude wirkt Jakutsk modern und großstädtisch, obwohl es mit knapp dreihunderttausend Einwohnern um die Hälfte kleiner ist. Ich besuche hier meine Kollegin Debora, die an der Nordöstlichen Föderalen Universität Deutsch unterrichtet. Ein zweites Jahr möchte sie nicht bleiben, das Klima findet sie deprimierend und die Menschen seien nicht kontaktfreudig. Als ich vorschlug, dass sie mich doch mit ein paar ihrer jakutischen Freunde bekannt machen könnte, meinte sie: guter Witz, welche Freunde?
Jakutsk ist eine ganz besondere Stadt. Einen Hinweis auf den Reichtum der Region geben die vielen Juweliere und Schmuckgeschäfte, auch sind die Preise deutlich höher als in Ulan-Ude. Alle Häuser sind auf Stelzen gebaut, weil sonst der Dauerfrostboden schmelzen und die Gebäude einsacken würden. Meistens sind sie verkleidet, doch manchmal fehlt die Verkleidung und gibt den Blick auf die dicken Betonpfähle frei. Deshalb gibt es auch keine Hauseingänge zu ebener Erde. Einige alte, schiefe Holzhäuser im Zentrum sind bis fast auf Höhe der Fenster in den Boden eingesackt. Ebenfalls wegen des Dauerfrostbodens verlaufen alle Fernheizungs-Rohre oberirdisch. Von ein paar strauchartigen Weiden und kleinen Birken abgesehen findet man keinen einzigen Baum. Auf den Märkten im Freien liegen bergeweise tiefgefrorener Fisch und Fleisch. Wenn sich das ganze Land für ein halbes Jahr in eine einzige Tiefkühltruhe verwandelt, ist die Straße das beste Gefrierfach. Die Fleischstücke sehen wie Holzscheite aus, als wären sie mit der Motorsäge geschnitten. Halbe gehäutete Schweine stehen da, komplette Kaninchen noch mit Fell, hartgefrorene Enten und Kuhzungen, Rindsbeine, wie tiefgekühlte Küchenabfälle aussehende Innereiensäckchen, Fleischmehlziegel für die Hunde und viele weitere, für mich als Fleischunkundigem nicht begreifliche Dinge. Auch Sanddorn, Preiselbeeren und Milch wird verkauft, stückweise in Scheiben, zu einem halben oder einem Kilo. Einige russisch-orthodoxe Kirchen gibt es, ansonsten pflegen die Jakuten ihre schamanisch-heidnischen Bräuche.
Zusammen mit Debora und meiner Reisebekanntschaft Lana besuchten wir einen Kunsthandwerksmarkt. Wir staunten über Schnitzereien aus Mammut-Elfenbein, Pferdehaar-Pinsel zum Vertreiben böser Geister, Federschmuck in allen Formen und Größen, tschoron genannte Holzgefäße, aus denen Kumys (vergorene Stutenmilch) getrunken wird – mich beeindruckte, wie ungehemmt man sich der Natur bedient und sich ihre Schätze nutzbar macht. An jedem zweiten Stand wurden wir angehalten, bekamen einen der exotisch anmutenden Schmuckgegenstände in die Hand gedrückt und wurden fotografiert, wobei nicht klar war, wer da wem einen Gefallen tut, die Kunsthandwerker uns, weil wir ihre Erzeugnisse fotografieren dürfen, oder wir ihnen, weil sie die Ehre des Besuches zweier deutscher Gäste an ihrem Stand verewigen können.
In einem jakutischen Restaurant probierte ich Stroganina. Der Name der Speise leitet sich vom russischen strogat‘ (hobeln) ab: es handelt sich rohe Fisch-Streifen, die von einem tiefgefrorenen Exemplar mit dem Messer abgehobelt werden. Man soll sie unbedingt essen, bevor sie aufgetaut sind, und tunkt sie dabei in eine Salz-Pfeffer-Mischung.
Heute ist Frauentag, in ganz Russland ein wichtiger arbeitsfreier Feiertag, und natürlich bekommen alle Frauen Blumen geschenkt. Hier in Jakutsk stehen Linienbusse am Straßenrand, die für einen Tag als Blumenladen umfunktioniert wurden, mit laufendem Motor natürlich, damit es drinnen schön warm ist, und die Männer stehen nach Rosen und Tulpen Schlange.

In Jakutsk stehen die Häuser auf Stelzen (oben), und die Fernheizungs-Rohre verlaufen oberirdisch (unten)
Einige alte Häuser sind tief in den erwärmten Dauerfrostboden eingesackt
Die Straße als Gefrierfach: Fleisch (oben) und Milch (unten) auf dem Markt
Stroganina - gehobelte, rohe, tiefgefrorene Fisch-Streifen
Natürlich auch in Jakutsk: Lenin auf dem Lenin-Platz
Für einen Tag Blumengeschäft statt Linienbus: Blumenverkauf am Frauentag
Jakutin Lana (oben) und ich mit meiner Südtiroler Kollegin Debora (unten) auf dem Kunsthandwerksmarkt