Nachdem Gott die Erde erschaffen
hatte, schickte er einen Engel mit einem Sack voller Bodenschätze aus, um diese
über den Planeten zu verteilen. Als der Engel über Jakutien flog, froren ihm
die Finger steif und er ließ seine Schätze fallen. Zur Strafe bedeckte Gott die
ganze Region mit einer ewigen Eisschicht. So erklärt die Legende den Reichtum
Jakutiens: Erdgas, Erdöl, Kohle und Diamanten gibt es hier.
Die Republik Jakutien – offiziell
heißt sie Republik Sachá – ist die größte der 85 Regionen Russlands. Ihre
Ausdehnung entspricht der Fläche Indiens, mit dem Unterschied, dass hier nicht
eine Milliarde Menschen leben, sondern nur knapp eine Million. Davon gehören
etwa die Hälfte dem Volk der Jakuten an, neben den Burjaten die größte
nicht-russische Volksgruppe in Sibirien. In Jakutien befindet sich der kälteste
bewohnte Ort der Erde, Oimjakon. Die Hauptstadt Jakutsk gilt als kälteste
Großstadt der Welt, die Temperaturunterschiede zwischen Winter und Sommer
betragen fast 100 Grad.
Im Vergleich zu Ulan-Ude wirkt
Jakutsk modern und großstädtisch, obwohl es mit knapp dreihunderttausend
Einwohnern um die Hälfte kleiner ist. Ich besuche hier meine Kollegin Debora,
die an der Nordöstlichen Föderalen Universität Deutsch unterrichtet. Ein
zweites Jahr möchte sie nicht bleiben, das Klima findet sie deprimierend und
die Menschen seien nicht kontaktfreudig. Als ich vorschlug, dass sie mich doch
mit ein paar ihrer jakutischen Freunde bekannt machen könnte, meinte sie: guter
Witz, welche Freunde?
Jakutsk ist eine ganz besondere
Stadt. Einen Hinweis auf den Reichtum der Region geben die vielen Juweliere und
Schmuckgeschäfte, auch sind die Preise deutlich höher als in Ulan-Ude. Alle
Häuser sind auf Stelzen gebaut, weil sonst der Dauerfrostboden schmelzen und
die Gebäude einsacken würden. Meistens sind sie verkleidet, doch manchmal fehlt
die Verkleidung und gibt den Blick auf die dicken Betonpfähle frei. Deshalb gibt
es auch keine Hauseingänge zu ebener Erde. Einige alte, schiefe Holzhäuser im Zentrum sind bis fast auf Höhe der Fenster in den Boden eingesackt. Ebenfalls wegen des Dauerfrostbodens
verlaufen alle Fernheizungs-Rohre oberirdisch. Von ein paar strauchartigen Weiden und kleinen
Birken abgesehen findet man keinen einzigen Baum. Auf den Märkten im Freien
liegen bergeweise tiefgefrorener Fisch und Fleisch. Wenn sich das ganze Land
für ein halbes Jahr in eine einzige Tiefkühltruhe verwandelt, ist die Straße
das beste Gefrierfach. Die Fleischstücke sehen wie Holzscheite aus, als wären
sie mit der Motorsäge geschnitten. Halbe gehäutete Schweine stehen da, komplette
Kaninchen noch mit Fell, hartgefrorene Enten und Kuhzungen, Rindsbeine, wie
tiefgekühlte Küchenabfälle aussehende Innereiensäckchen, Fleischmehlziegel für
die Hunde und viele weitere, für mich als Fleischunkundigem nicht begreifliche
Dinge. Auch Sanddorn, Preiselbeeren und Milch wird verkauft, stückweise in
Scheiben, zu einem halben oder einem Kilo. Einige russisch-orthodoxe Kirchen
gibt es, ansonsten pflegen die Jakuten ihre schamanisch-heidnischen Bräuche.
Zusammen mit Debora und meiner
Reisebekanntschaft Lana besuchten wir einen Kunsthandwerksmarkt. Wir staunten
über Schnitzereien aus Mammut-Elfenbein, Pferdehaar-Pinsel zum Vertreiben böser
Geister, Federschmuck in allen Formen und Größen, tschoron genannte Holzgefäße, aus denen Kumys (vergorene Stutenmilch) getrunken wird – mich beeindruckte,
wie ungehemmt man sich der Natur bedient und sich ihre Schätze nutzbar macht.
An jedem zweiten Stand wurden wir angehalten, bekamen einen der exotisch
anmutenden Schmuckgegenstände in die Hand gedrückt und wurden fotografiert,
wobei nicht klar war, wer da wem einen Gefallen tut, die Kunsthandwerker uns,
weil wir ihre Erzeugnisse fotografieren dürfen, oder wir ihnen, weil sie die
Ehre des Besuches zweier deutscher Gäste an ihrem Stand verewigen können.
In einem jakutischen Restaurant
probierte ich Stroganina. Der Name
der Speise leitet sich vom russischen strogat‘
(hobeln) ab: es handelt sich rohe Fisch-Streifen, die von einem tiefgefrorenen
Exemplar mit dem Messer abgehobelt werden. Man soll sie unbedingt essen, bevor
sie aufgetaut sind, und tunkt sie dabei in eine Salz-Pfeffer-Mischung.
Heute ist Frauentag, in ganz
Russland ein wichtiger arbeitsfreier Feiertag, und natürlich bekommen alle
Frauen Blumen geschenkt. Hier in Jakutsk stehen Linienbusse am Straßenrand, die
für einen Tag als Blumenladen umfunktioniert wurden, mit laufendem Motor
natürlich, damit es drinnen schön warm ist, und die Männer stehen nach Rosen und
Tulpen Schlange.
In Jakutsk stehen die Häuser auf Stelzen (oben), und die Fernheizungs-Rohre verlaufen oberirdisch (unten) |
Einige alte Häuser sind tief in den erwärmten Dauerfrostboden eingesackt |
Die Straße als Gefrierfach: Fleisch (oben) und Milch (unten) auf dem Markt |
Stroganina - gehobelte, rohe, tiefgefrorene Fisch-Streifen |
Natürlich auch in Jakutsk: Lenin auf dem Lenin-Platz |
Für einen Tag Blumengeschäft statt Linienbus: Blumenverkauf am Frauentag |
Jakutin Lana (oben) und ich mit meiner Südtiroler Kollegin Debora (unten) auf dem Kunsthandwerksmarkt |