Russland, mein geliebtes
Russland, was verbirgt sich nicht alles hinter deinem Namen! Zum Beispiel:
effektvolle, laute, großartig inszenierte Massenveranstaltungen, im Detail
überhaupt nicht durchorganisiert und unter widerlichen klimatischen Bedingungen
durchgeführt, was niemanden daran hindert, bester Laune zu sein – gern unter
Beteiligung einiger westlicher Ausländer.
Freitag, 23 Uhr, Siedlung Oimur
am Baikalsee-Ufer: Natalia aus Österreich, Mikko aus Finnland, seine Freundin
Sina und ich wickeln sich in unsere Decken und versuchen, etwas Schlaf zu
finden. Das Zimmer unserer Unterkunft ist sauber und geräumig, aber fließendes
Wasser gibt es leider keines, und seit etwa einer Stunde auch keinen Strom: die
in jedem Zimmer angeschlossene kleine elektrische Heizung hat die Sicherung
überlastet. Morgen sollten wir ausgeschlafen sein, denn es gilt, als „Team
Europäische Union“ die Ehre des Westens beim „Baikal-Angeln“ zu verteidigen.
Samstag, 6 Uhr: Nach eher
schlechtem Schlaf schälen wir uns mühsam aus dem Betten. Im Verlaufe der Nacht
war der Strom wieder aufgetaucht, allerdings nicht regelmäßig, sondern er wurde
etwa im 10-Sekunden-Takt zu- und abgeschaltet. Das Geräusch der sich ständig
an- und ausschaltenden Heizung hatte sich unter unsere Träume gemischt. Wir
begeben uns zum kollektiven Frühstück, wo wir die einzigen Ausländer sind. Um
uns herum sitzen wettergegerbte Burschen mit rotbraunen, tief gefurchten
Gesichtern – Berufsfischer, gegen die wir natürlich keine Chance haben werden.
Aber egal, dabeisein ist alles, zumal wir mit Nachdruck eingeladen wurden und
der Veranstalter uns kostenlos teilnehmen lässt. Durch ein unglaubliches Meer
an Schlamm und Schneeresten begeben wir uns ans Ufer und auf den gefrorenen
See.
8 Uhr: Der Startschuss fällt zum
„Baikal-Angeln 2016“! Vor uns liegt ein etwa 100 mal 5 Meter großes
Eis-Grundstück, eines von zweihundert. Jedes Team besteht aus 4 Personen, deren
Aufgabe es ist, innerhalb der nächsten 5 Stunden soviel Fisch wie möglich aus
dem See zu holen. Wir wurden ausgestattet mit vier kleinen Angeln, Krebschen
zum Anfüttern und Würmern zum An-den-Haken-Spießen, einem Eisbohrer, zwei
Klapphockern und einer großen Flagge der Europäischen Union, die wir als erstes
in die Mitte pflanzen. Das Bohren eines Loches geht erstaunlich schnell, es
zeigt sich, dass das Eis über einen Meter dick ist. Das kleine Bleigewicht an
der Angelschnur stößt schon nach weniger als zwei Metern auf den Grund – wir
befinden uns in einer sehr flachen Bucht des Baikals.
10 Uhr: Mühsam hat sich die Sonne
nach oben gearbeitet, aber durch die Wolken hindurch will sie nicht so richtig
wärmen, und es weht ein gleichmäßiger, kalter Wind namens Bargusin vom
Nordosten her aus Richtung des gleichnamigen Tales. In regelmäßigen Abständen
kommen kräftige Männer mit dicken Westen und der Aufschrift „Richter“ vorbei
und kontrollieren, ob auch alles mit rechten Dingen zugeht und wir nicht etwa
gekauften Fisch aus dem Rucksack holen und als unseren Fang ausgeben. Die
sorgfältige Überwachung ist begründet, denn es geht um eine Menge: erster Preis
des Baikal-Angelns ist ein Geländewagen, zweiter Preis ein Schneemobil. Wir
fangen nichts, sind aber damit offensichtlich nicht die einzigen – ein kleiner
Trost. Einer der Richter hat Mitleid mit uns, zeigt, wie man die Angel richtig
auf- und ab bewegt und erklärt, dass man das immer wieder neu zufrierende Loch
regelmäßig vom Eis befreien muss.
11 Uhr: Der kalter Wind und die
erzwungene unbewegliche Haltung, vor dem Eisloch sitzend, sind kein Vergnügen.
Nacheinander geben meine beiden Kolleginnen auf und gehen ins Warme. Ich nehme
mir vor, bis zum Ende durchzuhalten, und darf dafür kurz dem Präsidenten der
Republik Burjatien die Hand schütteln, der gegen Mittag mit seinem Team die
Runde macht und kurz an der EU-Flagge stehenbleibt.
13 Uhr: Ende des „Baikal-Angelns
2016“! Die fast tausend Teilnehmer stehen in fröhlichen Grüppchen zusammen auf
dem Eis, trinken Wodka und sind bester Laune, auch wenn sie – so wie wir –
nichts gefangen haben. Was sind die Sibirer doch für geduldige, abgehärtete
Leute, denke ich und begebe mich mit durchfrorenen Händen und vom Wind
zerbissenen Gesicht zurück an Land. Unterwegs betrachte ich neugierig einige
Aufsteller mit Fotos von ins Eis eingebrochenen Autos, die die Bevölkerung vor
leichtsinnigen Ausflügen abschrecken sollen.
15 Uhr: Von einer
Borschtsch-Suppe in einem auf schlammigem Grund aufgestellten Zelt gestärkt,
verfolgen wir die Zeremonie der Preisverleihung, ein endlos langes Spektakel,
sämtliche Sponsoren werden auf die Bühne gerufen, der burjatische Präsident
hält eine Rede, Ehrenpreise ohne Ende… doch was ist das? Hören wir recht? Das
„Kommanda Jevrosojus“ wird auf die Bühne gebeten, Mannschaft Europäische Union,
das sind wir! Staunend nehmen wir eine Urkunde in Empfang, „für die Treue zum
Baikal-Angeln“ (wohl, weil es in allen Jahren davor auch ein solches Team
gab)und einen Gaskocher als Preis. Ich selbst mache mich stets lustig über den
grundlosen, so typisch russischen Urkundenregen, der bei jeder Veranstaltung
über die Teilnehmer niedergeht, aber nun muss ich gestehen: es fühlt sich
irgendwie gut an. Nichts geleistet, egal, Hauptsache ein Preis! Den ersten
Platz bekommt eine Mannschaft, die über fünf Kilogramm gefangen hat. Insgesamt
wurden von allen 200 Teams in den 5 Stunden mit der Angel 70 Kilo Fisch aus dem
See geholt, vor allem kleinere Barsche.
Geduldiges Sitzen am Eisloch |
Kollegin Natalia bohrt ein Loch in die über ein Meter dicke Eisdecke |
Stolz weht die EU-Flagge auf dem Baikalsee |
Auch Anfüttern mit Krebschen half nichts - wir fingen keinen einzigen Fisch |
"Das Eis verzeiht keine Fehler" - Fotos zur Volksaufklärung und -abschreckung |