Mittwoch, 30. März 2016

Eindrücke aus dem Unterrichtsalltag



Manchmal sind meine Arbeitstage sehr lang. Heute zum Beispiel bin ich um 8 Uhr morgens aus dem Haus gegangen und um 20 Uhr abends zurückgekommen.
Die meisten Studierenden benutzen keine Wörterbücher in Papierform mehr, sondern haben Wörterbuch-Apps auf ihrem Handy. Für mich als Lehrer ist es oft nicht nachzuvollziehen, ob sie im Unterricht gerade im Handy ein Wort nachschauen oder in vkontakte oder Whatsapp eine Nachricht schreiben. In manchen Kursen bin ich jetzt dazu übergegangen, die Telefonbenutzung völlig zu verbieten. „Versuchen Sie mal, 90 Minuten ohne Smartphone zu leben“, war meine Ansage heute vor einer Stunde. Brav räumten es die Studis vom Tisch, einige holten es zwischendurch wieder heimlich hervor.
Eigentlich besteht die hohe Kunst der Pädagogik darin, ohne solche Verbote auszukommen. Man könnte zum Beispiel Übungen so konzipieren, dass das Smartphone darin eingesetzt werden muss, um bestimmte Informationen zu recherchieren. Oder solche Aufgaben einsetzen, die auf eine Art und Weise interaktiv und mit Bewegung verbunden sind, dass überhaupt keine Zeit und Gelegenheit bleibt, privat zu chatten und sich abzulenken. Ja, die ideale Unterrichtsstunde sollte so spannend sein, dass die Studierenden gar keine Lust auf etwas anderes haben als das, was gerade Thema ist. Aber das ist eher Theorie. Die ideale Unterrichtsstunde gibt es nur selten.
Heute habe ich drei sehr unterschiedliche Gruppen unterrichtet. Die erste Gruppe – die mit dem Handyverbot – studiert Deutsch nur als zweite Fremdsprache und ist für mich nicht leicht, weil die Leute so total unterschiedlich sind. Katja ist still und brav, kommt zu jeder Stunde, redet wenig, aber sehr korrekt. Sveta ist sehr aktiv, antwortet meistens als erste und fragt nach Zusatzaufgaben. Sie kommt auch tatsächlich zu mir ins Büro und fragt um Erlaubnis, eine Stunde fehlen zu dürfen. Wladimir erscheint selten und bringt manchmal eine etwas schleimig-unechte Entschuldigung für sein Fehlen an. Natalja hat keinerlei Talent für Sprachen (wer sie wohl zum Sprachstudium gezwungen hat?), aber versucht trotzdem mit rührendem Eifer, einige Sätze hervorzubringen. Die große Lena findet mich irgendwie cool, sagt offen, dass sie die Uni eigentlich Scheiße findet und beklagt sich über das Chaos und die Zustände in anderen Fächern. Die kleine Lena wirkt (wie überhaupt viele Studenten) sehr jung, eher wie eine Neuntklässlerin, antwortet störrisch und mit finsterem Gesicht und spielt den ganzen Tag in ihrer Freizeit Computer. Die charmante Sascha (diese Verkleinerungsform steht im Russischen sowohl für Alexandra als auch für Alexander) ist höflich, diszipliniert und fleißig. Letztere drei haben gerade auf einer Dorfschule ein Praktikum als Englischlehrkraft gemacht. Es war interessant, meinen sie, aber als Lehrerin arbeiten will nach dem Studium keine – wohl vor allem auch deshalb, weil der Beruf miserabel bezahlt wird. - Alle drei Wochen taucht Jana auf. Dann gibt es noch Tujana, eine angehende Gynäkologin, die ein Praktikum in einer Klinik macht und ganz freiwillig im Kurs erscheint – so etwas kommt auch vor.
Die zweite heutige Gruppe unterrichte ich im Fach Übersetzen, und zwar vom Russischen ins Deutsche. Zu jeder Stunde sollen sie ein Stück eines Zeitungsartikels schriftlich übersetzt haben, und wir besprechen den Text dann im Unterricht. Die vier Studenten wirken sehr erwachsen und extrem diszipliniert. Ich habe die Gruppe nur alle zwei Wochen, abwechselnd mit einer russischen Kollegin, und halte mich auch an deren „Unterrichtsformat“: 90 Minuten sitze ich auf meinem Platz, stehe nie auf, um etwas an die Tafel zu schreiben; wir gehen Satz für Satz durch, ich höre mir die verschiedenen Varianten an und korrigiere. Die Abwechslung geht eigentlich gegen Null… und niemanden stört es, alle sitzen brav, schreiben und hören fleißig mit der typischen leicht unterwürfigen russischen Geduld. Bemerkenswert.
Die dritte Gruppe waren die Master-Studenten. Im letzten Semester war es meine Lieblingsgruppe: motivierte, aufmerksame junge Damen mit gutem Deutsch. Seit diesem Jahr ist der Kurs komisch, wegen Schwangerschaft und Heirat gibt es zwei Ausfälle, und die anderen kommen sehr unregelmäßig. Es ist schwer, eine Stunde zu planen, wenn ich nicht weiß – werden zwei oder fünf Leute kommen, oder vielleicht auch nur eine? Überhaupt ist es interessant, dass das Gefühl „die Stunde war heute erfolgreich“ nicht unbedingt mit der von mir investierten Vorbereitungszeit zusammenhängt. Lehren hängt von so vielen Faktoren ab und ist immer auch unberechenbar.
Ich rege mich gern über die „typisch russische Pädagogik“ auf. Mit dem anderen Extrem bin ich allerdings auch nicht glücklich. In der letzten Woche war eine Multiplikatorin (neudeutsch für eine Idee an ein großes Publikum weitergebende Person) eines großen deutschen Sprachinstitutes bei uns und hat ein Seminar über moderne Unterrichtsmethoden durchgeführt. Das Thema hieß „Stationenlernen“. Es war die ganze Zeit die Rede von Teamarbeit, Lernerzentrierung, Kreativität, Freiheit, Austausch, Abwechslung und multimedialer Lernumgebung. Sich mal längere Zeit in einen Text vertiefen, einer Person geduldig zuhören, die Autorität eines Lehrenden akzeptieren? Fehlanzeige. Inhalte spielen entweder überhaupt keine Rolle mehr oder werden häppchenweise und spielerisch verpackt serviert. Das liegt mir auch nicht. Wie so oft, ist vielleicht ein Mittelweg zwischen dem Osten und dem Westen, zwischen russischem Von-oben-einbläuen und westlicher Ausdiskutiererei am besten.
Der vorgestrige Ostermontag ging unmerklich an mir vorüber… und auch die etwas schwermütige Stimmung, die mich oft um Ostern herum befällt, ist praktisch ausgeblieben. Das orthodoxe Osterfest findet in diesem Jahr vier Wochen später statt, der Ostersonntag fällt in Russland mit dem 1. Mai, dem Tag der Arbeit, zusammen.

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