Mittwoch, 16. März 2016

Frühling

In Moskau war ich Teilnehmer einer dreitägigen Germanistik-Konferenz, auf der ich viele meiner Kollegen traf, die ebenso wie ich in anderen russischen Städten Deutsch unterrichten und Studierende beraten, die nach Deutschland wollen. Die meisten von ihnen sind in Westrussland. Ich bin der „östlichste Vorposten“, weiter rechts auf der Karte ist von meiner Organisation zurzeit niemand. „Vielen Dank für Ihr Engagement für die deutsche Sprache in Russland in schwierigen Zeiten“, sagte der Leiter unserer Moskauer Außenstelle in seiner Eröffnungsrede. Englisch ist russlandweit unangefochten die Fremdsprache Nummer eins. Und nun geht es für uns darum, für das Deutsche den zweiten Platz zu sichern, gegen die Konkurrenz von Spanisch, Französisch und Chinesisch zum Beispiel – oder darum, russischen Politikern und Eltern zu erklären, dass es überhaupt Sinn hat und wichtig ist, neben Englisch noch eine Fremdsprache zu lernen.

Auf der Konferenz gab es die verschiedensten Vorträge und Diskussionsrunden, manche für mich spannend, andere fade und unverständlich. Sprachwissenschaftliche Fragestellungen finde ich oft interessant, kniffelige Übersetzungsfragen, grammatische Zusammenhänge. Kultur- und Literaturwissenschaft sind mir zu schwammig, die Begriffe zu nebulös und aufgeblasen. Ich habe inzwischen eine Allergie gegen das bei Kulturwissenschaftlern (und auch Psychologen und Pädagogen) beliebte Wort „konstruiert“ entwickelt. Nicht nach Wahrheit und Wirklichkeit wird mehr gesucht, sondern es ist oft nur noch davon die Rede, wer von wem welche „Bilder konstruiert“, an deren „Dekonstruktion“ dann die Wissenschaft ihre Freude hat. Russische Seele, russische und deutsche Besonderheiten, die Bedeutung des Ostens? Alles Konstruktion, Vorurteile, überkommene Vorstellungen. Auf eigenartige Weise verschwindet so die reale Welt, es gibt nichts Wesenhaftes mehr. Mit dem unter deutschen Geisteswissenschaftlern heute sehr verbreiteten Konstruktivismus hatte ich Gelegenheit mich in meinem Pädagogik-Fernstudium in Deutschland ausführlich auseinanderzusetzen. Eine eigenartige Autisten-Philosophie, die die Menschen als in ihrer eigenen Vorstellungswelt gefangen ansieht, alle überlieferten Kategorien hinterfragt und zerlegt, ohne etwas substanziell Neues an deren Stelle zu setzen. Am meisten schockiert hatte mich in einem Lehrbuch der Satz „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“… aber das hat mit Germanistik auch schon nichts mehr zu tun.

Die aktuellen Spannungen zwischen Russland und dem Westen waren auf der Konferenz völlig ausgeklammert. Unter Fachkollegen vermeidet man politische Diskussionen und versteht sich weiterhin. Die deutsch-russische Zusammenarbeit im Bereich Bildung und Wissenschaft ist erstaunlich krisenresistent.

In der Woche meiner Abwesenheit hat sich in Ulan-Ude einiges verändert. Der Frühling hat begonnen: Schnee und Eis auf den Fußwegen sind größtenteils verschwunden und haben sich in Matsch verwandelt, die Temperaturen schwanken um die null Grad. Eine Fahrt mit dem Minibus (marshrutka) kostet nun 20 statt 17 Rubel (Kurs zurzeit etwa 1:80). Letzte Woche hat die Reinigungsfrau das empfindliche, billige Schloss meiner Bürotür kaputtgemacht, weil sie den Schlüssel schon nach einer halben Umdrehung herausgezogen hat. Als ich heute zum Arbeitsplatz kam, baute ein Schlosser gerade ein neues Schloss ein. Die seien ja wirklich sehr reparaturanfällig, meinte ich zu ihm. Jaja, entgegnete der einfache, sehr dörflich wirkende Burjate, strategische Waffen bauen, das können die Russen, aber keine Türschlösser. Ich bemerkte seine Bierfahne, obwohl es erst 11 Uhr morgens war. Das Trinken hätten die Burjaten auch von den Russen gelernt, fügte er entschuldigend hinzu, als könne er meine Gedanken lesen, früher habe es das bei ihnen nicht gegeben.

Mit meiner gestrigen Chorprobe – jetzt mit gestimmtem Klavier zur Unterstützung – war ich sehr zufrieden. „Go down, Moses“ klappte auf Anhieb gut, weil die Melodie bekannt ist, „Evening rise“, ein indianischer Kanon, klingt wunderschön, und auch der „Zug der Schwäne“ (ein Christengemeinschafts-Kinderlager-Klassiker) macht Freude. Anfang April wollen wir beim Uni-Festival „Studentscheskaja wjesná“ (Studentischer Frühling) auftreten.

Blick in den Hinterhof vor meiner Haustür (oben) und auf das erste Stück meines täglichen Arbeitsweges entlang der Frunse-Straße (unten)
"Strategische Waffen können sie bauen, aber keine Türschlösser" - meine Bürotür nach dem Schlosswechsel