Dienstag, 8. März 2016

Auf dem Weg in die kälteste Großstadt der Welt



Samstag Nachmittag: Bulat und sein Vater kommen mit dem Auto, um mich zum Flughafen zu bringen. Dafür nehme ich wie üblich ein Päckchen für Bulats Schwester Mascha nach Moskau mit. Diesmal soll meine Reise nicht direkt nach Moskau gehen, sondern zunächst nach Jakutsk im Norden, mit einem Umstieg: eine halbe Flugstunde nach Irkutsk Westen, dann ein paar Stunden warten auf dem Flughafen dort und dann weiter zum Zielort, der Hauptstadt der Republik Jakutien.
Meinen wieder einmal besoffen vor seiner Wohnung im Treppenhaus liegenden Nachbarn nicht weiter beachtend, verlasse ich das Haus und wundere mich über die Wärme: es sind nur wenige Grad unter Null, an einigen Stellen hat sie Sonne den Schnee auf der Straße in Eis oder Matsch verwandelt, von den Hausdächern tropft es. Unterwegs zeigt mir Bulat auf seinem Smartphone eine Rund-SMS, die das Katastrophenschutzministerium an die Bevölkerung geschickt hat: Bitte nehmen Sie ihrer eigenen Sicherheit zuliebe von Fahrten mit dem Auto aufs Eis Abstand.
Bulats Vater fährt vorsichtig und achtet auf das Piepen seines Radarfallen-Warngerätes, denn in der Stadt wird oft geblitzt und kontrolliert, die Strafen tun wirklich weh. Ich frage mich in Anbetracht der SMS, ob ich nicht für diesen Winter den Zeitpunkt für eine Eiswanderung auf dem Baikal schon verpasst habe. Plötzlich wird unser Toyota aus der Bahn geschleudert, dreht sich um 180 Grad und rauscht seitlich über den Straßenrand hinaus, wo er in einem Wall aufgetürmten Schnees steckenbleibt. Nach einem kurzen Schockmoment steigen wir aus und sehen: 15 Meter unterhalb liegt ein weiteres Fahrzeug im Graben, auf der Straße vor uns steht ein beschädigter, offensichtlich mit einem Auto auf der Gegenfahrbahn zusammengestoßener Pkw. Eine frisch gebildete Glatteisstelle genau in einer Kurve ist schuld. Zack – direkt vor unseren Augen wirbelt es das nächste Auto herum, ein unheimlicher Anblick. Jetzt erst kommt Verkehrspolizei und sperrt die Stelle ab. Gerade möchte ich ein Taxi rufen, um noch rechtzeitig zum Flughafen zu kommen, da hält auch schon ein Lkw und zieht uns ohne viele Worte aus dem Schneewall heraus. Kein weiterer Schaden, kurz durchatmen, weiter geht’s.
Am Flughafen wartet die nächste Überraschung. Vor dem Gebäude ist es verdächtig leer, es gehen nicht nur keine Kühe dort spazieren, sondern es stehen auch kaum Autos auf dem Parkplatz. Im Gebäude bin ich der einzige Passagier. Vergeblich suche ich auf der Abflugtafel meine Reise nach Irkutsk und wende mich etwas verwirrt an die Auskunft. Der Flug ist leider um 12 Stunden verspätet, heißt es. Offensichtlich haben die anderen Fluggäste irgendwie davon erfahren, im Unterschied zu mir. Etwas verwirrt schaue ich auf den Ausdruck meines elektronischen Tickets. Und was ist dann mit meinem Anschlussflug nach Jakutsk heute Nacht? Ein Vertreter der Fluggesellschaft ist inzwischen gekommen und schaut mich mitleidig an. Den bekommen Sie auf keinen Fall mehr, sagt er. Wann geht er denn? Drei Uhr dreißig? Er schaut auf seine Uhr. Wenn Sie sich jetzt in den Bus setzen, könnten Sie es noch schaffen. In sieben Stunden sind Sie da, genau pünktlich zur Registrierung.
Also fahren wir vom Flughafen zum Bahnhof, vorsichtig, um nicht Opfer der nächsten Glatteisstelle zu werden, und tatsächlich gibt es einen Kleinbus nach Irkutsk, der gerade abfährt. So kommt es, dass ich die ersten 500 Kilometer meiner Reise nicht in einer halben Flugstunde, sondern in 7 Busstunden zurücklege. Wir fahren am Baikal-Ufer entlang. Landschaft zu genießen gibt es nachts leider keine, dafür ist viel Zeit, um mit Mitmenschen ins Gespräch zu kommen. Vor mir sitzt Irina, eine ältere Dame, die beim SAGS arbeitet. SAGS steht für Sapis aktov grazhdanskovo sostojania, etwa: Personenstandsregistrierung, das russische Standesamt. Im Unterschied zum deutschen Standesamt werden hier auch Geburten und Todesfälle, Scheidungen und Namensänderungen registriert. Etwa tausend Hochzeiten gibt es in der Behörde pro Jahr, erfahre ich, von denen etwa die Hälfte später wieder geschieden werden. Ich komme doch hoffentlich auch bald vorbei? Aber Irina arbeitet nur noch bis Mai dort, das schaffe ich mit der Heirat wohl nicht, meine ich und wir beide lachen.
Wie üblich gibt es eine Imbisspause. Wie lange stehen wir hier, frage ich den Fahrer. Solange, wie du brauchst, um einen Tee zu trinken! Beim Tee lerne ich Lana kennen, eine lustige temperamentvolle Jakutin mit scharf geschnittenem, asiatischem Gesicht. Sie muss genau wie ich das Flugzeug nach Jakutsk schaffen. Lana hat eine Pistole im Gepäck, sie ist Sportschützin, mehrfache Medaillenträgerin, seit dem fünften Lebensjahr reitet sie und seit der 7. Klasse geht sie auf die Jagd. Wenn sie auf Jakutisch mit ihren Freuden telefoniert, verstehe ich natürlich nichts, die Laute ö und ü geben einen Hinweis auf die Sprachfamilie – Jakutisch ist eine Turksprache.
Um 2 Uhr nachts sind wir am Flughafen in Irkutsk, pünktlich zum Beginn der Registrierung für unseren Flug mit Jakutia Airlines. Mit uns steigt eine große Gruppe Männer mit tiefbraun gebrannten Gesichtern ins Flugzeug, usbekische Gastarbeiter. Lana rümpft die Nase und hat die üblichen Vorurteile vieler Russen gegenüber den Bewohnern der zentralasiatischen Republiken. Wenn die Bausaison beginnt, kommen sie in Scharen zu uns, meint sie, das sei nicht gut.
Nach zwei Flugstunden und einer praktisch schlaflosen Nacht begrüßt mich das in der Morgendämmerung weiß leuchtende breite Band der zugefrorenen Lena, der Pilot setzt zur Landung in der kältesten Großstadt der Welt an. Auf dem Flügel der Maschine ist ein stilisierter Diamant abgebildet, Symbol der an Bodenschätzen reichen Republik Jakutien. Bei uns ist die beste Luft von ganz Sibirien, Du wirst sehen, stimmt mich Lana ein. Unter minus 45 Grad bekommen die unteren Schulklassen kältefrei, erzählt sie mir, unter minus 50 Grad fällt die Schule für alle aus. Doch jetzt, Anfang März, ist der echte Winter schon vorbei. Als wir landen, sind es nur noch minus zwanzig Grad, es ist nicht mehr weit bis zum Frühling.

Das Flugzeug von Jakutia Airlines setzt über der zugefrorenen Lena zur Landung in Jakutsk an. Auf dem Flügel ein Diamantensymbol- die Region ist reich an Bodenschätzen