Samstag Nachmittag: Bulat und
sein Vater kommen mit dem Auto, um mich zum Flughafen zu bringen. Dafür nehme
ich wie üblich ein Päckchen für Bulats Schwester Mascha nach Moskau mit. Diesmal
soll meine Reise nicht direkt nach Moskau gehen, sondern zunächst nach Jakutsk
im Norden, mit einem Umstieg: eine halbe Flugstunde nach Irkutsk Westen, dann
ein paar Stunden warten auf dem Flughafen dort und dann weiter zum Zielort, der
Hauptstadt der Republik Jakutien.
Meinen wieder einmal besoffen vor
seiner Wohnung im Treppenhaus liegenden Nachbarn nicht weiter beachtend,
verlasse ich das Haus und wundere mich über die Wärme: es sind nur wenige Grad
unter Null, an einigen Stellen hat sie Sonne den Schnee auf der Straße in Eis
oder Matsch verwandelt, von den Hausdächern tropft es. Unterwegs zeigt mir
Bulat auf seinem Smartphone eine Rund-SMS, die das
Katastrophenschutzministerium an die Bevölkerung geschickt hat: Bitte nehmen
Sie ihrer eigenen Sicherheit zuliebe von Fahrten mit dem Auto aufs Eis Abstand.
Bulats Vater fährt vorsichtig und
achtet auf das Piepen seines Radarfallen-Warngerätes, denn in der Stadt wird
oft geblitzt und kontrolliert, die Strafen tun wirklich weh. Ich frage mich in
Anbetracht der SMS, ob ich nicht für diesen Winter den Zeitpunkt für eine
Eiswanderung auf dem Baikal schon verpasst habe. Plötzlich wird unser Toyota
aus der Bahn geschleudert, dreht sich um 180 Grad und rauscht seitlich über den
Straßenrand hinaus, wo er in einem Wall aufgetürmten Schnees steckenbleibt. Nach
einem kurzen Schockmoment steigen wir aus und sehen: 15 Meter unterhalb liegt
ein weiteres Fahrzeug im Graben, auf der Straße vor uns steht ein beschädigter,
offensichtlich mit einem Auto auf der Gegenfahrbahn zusammengestoßener Pkw. Eine
frisch gebildete Glatteisstelle genau in einer Kurve ist schuld. Zack – direkt vor
unseren Augen wirbelt es das nächste Auto herum, ein unheimlicher Anblick.
Jetzt erst kommt Verkehrspolizei und sperrt die Stelle ab. Gerade möchte ich
ein Taxi rufen, um noch rechtzeitig zum Flughafen zu kommen, da hält auch schon
ein Lkw und zieht uns ohne viele Worte aus dem Schneewall heraus. Kein weiterer
Schaden, kurz durchatmen, weiter geht’s.
Am Flughafen wartet die nächste
Überraschung. Vor dem Gebäude ist es verdächtig leer, es gehen nicht nur keine
Kühe dort spazieren, sondern es stehen auch kaum Autos auf dem Parkplatz. Im
Gebäude bin ich der einzige Passagier. Vergeblich suche ich auf der Abflugtafel
meine Reise nach Irkutsk und wende mich etwas verwirrt an die Auskunft. Der
Flug ist leider um 12 Stunden verspätet, heißt es. Offensichtlich haben die
anderen Fluggäste irgendwie davon erfahren, im Unterschied zu mir. Etwas
verwirrt schaue ich auf den Ausdruck meines elektronischen Tickets. Und was ist
dann mit meinem Anschlussflug nach Jakutsk heute Nacht? Ein Vertreter der
Fluggesellschaft ist inzwischen gekommen und schaut mich mitleidig an. Den
bekommen Sie auf keinen Fall mehr, sagt er. Wann geht er denn? Drei Uhr
dreißig? Er schaut auf seine Uhr. Wenn Sie sich jetzt in den Bus setzen,
könnten Sie es noch schaffen. In sieben Stunden sind Sie da, genau pünktlich
zur Registrierung.
Also fahren wir vom Flughafen zum
Bahnhof, vorsichtig, um nicht Opfer der nächsten Glatteisstelle zu werden, und
tatsächlich gibt es einen Kleinbus nach Irkutsk, der gerade abfährt. So kommt
es, dass ich die ersten 500 Kilometer meiner Reise nicht in einer halben
Flugstunde, sondern in 7 Busstunden zurücklege. Wir fahren am Baikal-Ufer
entlang. Landschaft zu genießen gibt es nachts leider keine, dafür ist viel
Zeit, um mit Mitmenschen ins Gespräch zu kommen. Vor mir sitzt Irina, eine
ältere Dame, die beim SAGS arbeitet. SAGS steht für Sapis aktov grazhdanskovo sostojania, etwa:
Personenstandsregistrierung, das russische Standesamt. Im Unterschied zum
deutschen Standesamt werden hier auch Geburten und Todesfälle, Scheidungen und
Namensänderungen registriert. Etwa tausend Hochzeiten gibt es in der Behörde
pro Jahr, erfahre ich, von denen etwa die Hälfte später wieder geschieden
werden. Ich komme doch hoffentlich auch bald vorbei? Aber Irina arbeitet nur
noch bis Mai dort, das schaffe ich mit der Heirat wohl nicht, meine ich und wir
beide lachen.
Wie üblich gibt es eine
Imbisspause. Wie lange stehen wir hier, frage ich den Fahrer. Solange, wie du
brauchst, um einen Tee zu trinken! Beim Tee lerne ich Lana kennen, eine lustige
temperamentvolle Jakutin mit scharf geschnittenem, asiatischem Gesicht. Sie
muss genau wie ich das Flugzeug nach Jakutsk schaffen. Lana hat eine Pistole im
Gepäck, sie ist Sportschützin, mehrfache Medaillenträgerin, seit dem fünften
Lebensjahr reitet sie und seit der 7. Klasse geht sie auf die Jagd. Wenn sie
auf Jakutisch mit ihren Freuden telefoniert, verstehe ich natürlich nichts, die
Laute ö und ü geben einen Hinweis auf die Sprachfamilie – Jakutisch ist eine
Turksprache.
Um 2 Uhr nachts sind wir am
Flughafen in Irkutsk, pünktlich zum Beginn der Registrierung für unseren Flug
mit Jakutia Airlines. Mit uns steigt
eine große Gruppe Männer mit tiefbraun gebrannten Gesichtern ins Flugzeug,
usbekische Gastarbeiter. Lana rümpft die Nase und hat die üblichen Vorurteile
vieler Russen gegenüber den Bewohnern der zentralasiatischen Republiken. Wenn
die Bausaison beginnt, kommen sie in Scharen zu uns, meint sie, das sei nicht
gut.
Nach zwei Flugstunden und einer
praktisch schlaflosen Nacht begrüßt mich das in der Morgendämmerung weiß
leuchtende breite Band der zugefrorenen Lena, der Pilot setzt zur Landung in
der kältesten Großstadt der Welt an. Auf dem Flügel der Maschine ist ein
stilisierter Diamant abgebildet, Symbol der an Bodenschätzen reichen Republik
Jakutien. Bei uns ist die beste Luft von ganz Sibirien, Du wirst sehen, stimmt
mich Lana ein. Unter minus 45 Grad bekommen die unteren Schulklassen kältefrei,
erzählt sie mir, unter minus 50 Grad fällt die Schule für alle aus. Doch jetzt,
Anfang März, ist der echte Winter schon vorbei. Als wir landen, sind es nur
noch minus zwanzig Grad, es ist nicht mehr weit bis zum Frühling.
Das Flugzeug von Jakutia Airlines setzt über der zugefrorenen Lena zur Landung in Jakutsk an. Auf dem Flügel ein Diamantensymbol- die Region ist reich an Bodenschätzen |