Montag, 4. April 2016

Auf der Heiligen Nase



Anfang April ist eine besondere Zeit am Baikal: es ist nicht mehr besonders kalt, nachmittags kann die Temperatur auf über 10 Grad steigen, aber die Eisdecke ist noch mächtig genug, um auf der endlosen Seefläche herumzulaufen oder zu fahren. Soeben bin ich zurückgekehrt von meiner ersten Zeltübernachtung an der Küste des Baikals, das erste richtige Outdoor-Erlebnis seit meinem Umzug nach Ulan-Ude im August des letzten Jahres, möglich geworden deshalb, weil ich im Januar meine Expeditions-Ausrüstung aus Deutschland nachgeholt hatte, neben Zelt vor allem noch Daunenschlafsack, Propangaskocher und Exped-Matratze.
Nach knapp 300 Kilometer langer Kleinbus-Fahrt Richtung Norden, nach Ust-Bargusin, betrat ich zu Fuß den Zabaikalskij-Nationalpark, nicht ohne zuvor am offensichtlich ganzjährig besetzten Kontrollposten 200 Rubel Eintritt entrichtet zu haben. Die sandige Straße führte auf die Halbinsel Heilige Nase, die auf der Karte aussieht wie ein großer Vogelkopf mit dünnem Hals und spitzem Schnabel. Fast zwei Kilometer hohe Berge boten sich dem Blick in der Ferne dar und eine unglaublich romantische Dünenlandschaft mit knorrigen Kiefern entlang der Küste zu meiner Linken. Genial, hier irgendwo werde ich mein Zelt aufbauen, dachte ich. Es war kurz nach Mittag, die Sonne schien, ein laues Lüftchen wehte.
Nach wenigen Minuten Fußmarsch hielt ein Volvo neben mir. Ob ich wirklich die 45 Kilometer zu Fuß gehen wolle, fragte mich gut gelaunt der Fahrer und bedeutete mir einzusteigen. 45 Kilometer wohin denn, fragte ich zurück. Na, in die Tschirvikui-Bucht, raus aufs Eis, in die Eisfischer-Dörfer, die da auf dem See stehen. Ich sei eigentlich kein Angler, gab ich zurück, aber da mir der Mann sympathisch war, nahm ich trotzdem in seinem bis oben hin bepackten Auto Platz und wir machten uns bekannt: Wjatscheslav aus Irkutsk, von dort seit 12 Stunden ununterbrochen unterwegs zum Eisfischen mit Kumpels und wahrscheinlich über einen Gesprächspartner froh, um nicht vollends am Steuer einzuschlafen. Nach einer knappen Stunde schien die Straße zu enden, wir hielten an der Küste der vereisten, schneebedecken Tschirvikui-Bucht. Weiter ging der Weg über den See, ich stieg aus und fotografierte die drei ins Eis gerammten Verkehrsschilder: maximal 10 km/h, Mindestabstand 70 Meter, Höchstgewicht 5 Tonnen. Wjatsheslav hatte unterdessen eine Wodkaflasche und zwei Trinkbecher hervorgeholt. Bevor man aufs Eis fährt, müsse man unbedingt trinken. Wenigstens symbolisch. Wir stießen an, tauchten die Finger in den Wodka und schnippten ein paar Tropfen in alle vier Himmelsrichtungen – für die Geister, so will es ein burjatischer Brauch.
In einigen hundert Metern Abstand zur Küste fuhren wir übers Eis, links die winzigen Dörfer Katun und Kurbulik zurücklassend, rechts, weiter draußen auf dem See, waren regelrechte Jurten-Siedlungen aufgebaut, in denen passionierte Eisangler tage- und wochenlang ihre Zeit verbringen. Ich gehöre nicht dazu und bat Wjatsheslav, mich in der Schlangenbucht an einer Thermalquelle abzusetzen. Eine der drei Stellen, wo das heiße Wasser aus der Erde tritt und sich in eine Art hölzerne Badewanne unter freiem Himmel ergießt, erwählte ich zum Zeltplatz. Die meiste Zeit über hatte ich die Schlangenbucht ganz für mich allein. Natürlich badete ich auch in dem schweflig-salzig riechenden Wasser. Großartig die totale Stille, nur unterbrochen von Spechthacken und vom Knarren und Grollen des arbeitenden Eises: gelegentlich öffneten und schlossen sich kleine Spalten, hunderte Meter lang, für Fußgänger und Autos ungefährlich – aber das Geräusch hallte über die ganze Bucht, manchmal klang es wie ein Schuss.
Den Rückweg übers Eis legte ich wieder per Anhalter zurück. Interessanterweise nehmen mich meistens Leute mit, die keinen Platz mehr im Auto haben. Sie rücken dann einfach noch etwas enger zusammen, so dass es überhaupt keinen Platz mehr gibt. Aber was für ein Unterschied ist es schon, kein Platz oder überhaupt kein Platz? In Monachowo ließ ich mich absetzen, früher war es wohl mal ein Fischerdorf, jetzt stehen ein paar neuere Häuser der Nationalparkverwaltung dort. Ob es hier eine Übernachtungsmöglichkeit gäbe, fragte ich, zu faul, mein Zelt ein zweites Mal aufzubauen.
Gäbe es, meinte eine Nationalpark-Angestellte zu mir und führte mich zu einem Wohncontainer an der schlammigen Straße.
Drin sah es sauber aus, die vier Pritschen erinnerten mich an ein großes Eisenbahnwagen-Coupé.
So heize ich den Holzofen, und das sei der Gasherd. Mit Gas könne ich umgehen? Gut, ich solle es mir bequem machen.
Was es denn kosten würde, wollte ich noch wissen.
Nichts, meinte die Dame und zuckte die Achseln. Der junge Mann, der hier noch wohnt, käme erst morgen wieder, ich hätte den Container für mich allein.
Und schon war sie verschwunden. Das ist sie, dachte ich, die typisch russische Unkompliziertheit und Großzügigkeit, mit einem kleinen Beigeschmack von Gleichgültigkeit allerdings auch: Hier, nimm alles was du brauchst – wirst schon irgendwie zurechtkommen.
Zu meiner Überraschung gab es abends sogar Strom, obwohl ich weder Überlandleitungen sehen noch ein Dieselaggregat hören konnte. Am Morgen war der Strom wieder weg. Es gäbe ein paar Solarzellen, klärte mich beim Verabschieden die Nationalpark-Mitarbeiterin auf und schloss von außen die Tür ab, ohne auch nur nachzuschauen, wie ich drinnen alles verlassen hatte. Ich bedankte mich und machte mich auf den Weg, ein Stündchen Fußmarsch, eine halbe Stunde per Anhalter, eine halbe Stunde warten, vier Stunden Kleinbus, und schon war ich wieder in Ulan-Ude.

Am Ufer der Tschirvikui-Bucht, im waldbedeckten Niemandsland gegenüber der Stelle, wo ich mein Zelt aufgeschlagen hatte, wohnte 2007/2008 Werner Beck ein Jahr lang in einer Jurte, ein verrückter Deutscher, der über seine Erlebnisse ein tolles Buch geschrieben hat: „Auszeit am Baikalsee“. Ein Lektüre-Tipp!

Auf dem Weg zur Halbinsel Heilige Nase Fast 2 km hohe Berge
"Wir warnen!" Anschauliche Abschreckung am Beginn der Eis-Straße
Romantische Inselchen "Lochmatyj" (die Zerzauste) und "Golyj" (die Nackte)
Ganz für mich allein Die heiße Quelle in der Schlangenbucht
Endlich! Meine erste Zeltnacht am Baikalsee
Nur wenige Meter bis zum heißen Bad Mein Zelt neben der Thermalquelle
Beeindruckend, aber ungefährlich Einige Zentimeter breite, wieder zugefrorene Spalten
Eine Insel nur für mich Abstecher auf "Die Nackte"
Verkehrsregeln auf dem Eis Maximal 10 km/h und 5 Tonnen, 70 Meter Sicherheitsabstand
Die Natur als Künstlerin Das Risse-Geflecht lässt die Dicke der Eisschicht erahnen