Mittwoch, 2. Dezember 2015

Adventsüberraschung

Lenins Kopf schräg gegenüber meines Institutes hat eine weiße Mütze aus Schnee bekommen – es sieht aus wie eine jüdische Kippa. Davor wurden meterhohe Eisblöcke aufgestellt, an denen Männer mit Motorsägen beschäftigt sind – es entstehen tolle Kunstwerke.
Nach meiner Rückkehr aus Wladiwostok fand ich am Schwarzen Brett im Lehrerzimmer einen neuen Aushang vor. „Liebe Kollegen! Weihnachtsliedersingen auf Englisch und Deutsch unter der Leitung von Thomas Ranft“, las ich dort zu meiner großen Verwunderung, „Proben jeden Dienstag um 16:20 Uhr, Konzertauftritt am 25.12. anlässlich der Instituts-Weihnachtsfeier“. Englische Lieder? Auftritt? Nun, dachte ich, wenn es da steht, dann ist es wohl so, und rief die Institutsdirektorin an, die den Aushang unterschrieben hatte, um Näheres zu erfahren.
Polina Purbujevna, die unserem Institut vorsteht, ist eine nette ältere Burjatin, bekannt für ihre spontanen Ideen und ihren burjatischen Lokalpatriotismus. Bei einem beiläufigen Gespräch im Treppenhaus hatte ich ihr gegenüber kurz den Deutschen Chor erwähnt, und sie hat ihn in meiner Abwesenheit gleich einmal in ihre Planungen einbezogen. Dienstag 16:20 ist ja tatsächlich mein Probentermin, aber englische Lieder muss ich erstmal suchen, und ob wir in drei Wochen wirklich auftrittsreif sind?
Zur gestrigen Probe kamen aufgrund des Aushanges nicht nur 15 Studenten, sondern auch acht Dozenten einschließlich der Institutsdirektorin. Über die große Anzahl freute ich mich außerordentlich. Zum Glück fand ich eine englische Version von „O Tannenbaum“ („O hemlocktree“), und „Bruder Jakob“ sangen wir nicht nur auf Deutsch und Englisch, sondern gleich noch auf Französisch und Russisch. Nachdem wir damit durch waren, sprang Polina Purbuevna auf und lief nach vorne an die Tafel. „Und jetzt auf Burjatisch!“, rief sie, „Das muss sein, das ist doch auch eine politische Frage!“ – „Gibt es den Text schon, oder wollen Sie das jetzt spontan übersetzen?“, meinte ich so höflich wie möglich. Letzteres war der Fall, aber ich konnte die energische Dame davon überzeugen, dass das so schnell wohl kaum geht, weil die Silben ja in den Rhythmus passen müssen und wir die burjatische Version dann gern das nächste Mal dazunehmen.
Dinge werden hier gern spontan und überraschend geplant, oder sie werden überhaupt nicht geplant, oder sie werden irgendwie ansatzweise geplant, aber nicht bis zu Ende durchdacht. Es bleibt immer eine unbestimmte „Grauzone“ – das ergibt sich dann schon. Ich bin gerade dabei zu lernen, dass es tatsächlich so ist und es sich am Ende irgendwie ergibt und Dinge auch funktionieren, wenn man sie im Kopf nicht genau vorstrukturiert und vorausdenkt.
Eine andere Veranstaltung außerhalb meines regulären Stundenplanes ist der „Deutsche Abend“, den ich alle 14 Tage am Sonntag Abend zusammen mit zwei jungen Damen, Nastja und Olga, in den Räumen der Musikschule „Sila Muzyki“ (Kraft der Musik) organisiere. Die letzten Male haben wir deutsche Kurzfilme mit russischen Untertiteln geschaut, eine vom Goethe-Institut zusammengestellte DVD. Da ich von Filmen keine Ahnung habe, war es für mich genauso neu wie für die etwa 10 Teilnehmer. – Die Musikschule, wo unser Abend stattfindet, ist ein ganz besonderer Ort, es ist nämlich die einzige private Einrichtung ihrer Art in der Stadt. In den städtischen Musikschulen wird nach einem festgelegten Programm unterrichtet und es werden auch nur Kinder aufgenommen. Zu „Sila Muzyki“ können alle kommen, die wollen, und den Unterrichtsinhalt mitbestimmen.
Der „Deutsche Abend“ in 14 Tagen soll weihnachtlich sein, das heißt für mich: Plätzchenbacken und Sterne basteln. Vor einer Woche habe ich einen Mitte Oktober abgeschickten Brief von Mutter und Schwester von der Post geholt mit Sternebastel-Spezialpapier, das sollte also klappen. Eine „Adventszeit“ im deutschen Sinne mit Weihnachtsmarkt gibt es in Russland nicht. Auf dem zentralen Platz in Ulan-Ude steht schon eine große Tanne – für das Neujahresfest.
Hier entsteht Eiskunst. Im Hintergrund Lenin mit Schneekappe
Beim Deutschen Abend