Lenins Kopf schräg gegenüber meines Institutes
hat eine weiße Mütze aus Schnee bekommen – es sieht aus wie eine jüdische
Kippa. Davor wurden meterhohe Eisblöcke aufgestellt, an denen Männer mit
Motorsägen beschäftigt sind – es entstehen tolle Kunstwerke.
Nach meiner Rückkehr aus Wladiwostok fand ich
am Schwarzen Brett im Lehrerzimmer einen neuen Aushang vor. „Liebe Kollegen! Weihnachtsliedersingen
auf Englisch und Deutsch unter der Leitung von Thomas Ranft“, las ich dort zu
meiner großen Verwunderung, „Proben jeden Dienstag um 16:20 Uhr,
Konzertauftritt am 25.12. anlässlich der Instituts-Weihnachtsfeier“. Englische
Lieder? Auftritt? Nun, dachte ich, wenn es da steht, dann ist es wohl so, und
rief die Institutsdirektorin an, die den Aushang unterschrieben hatte, um
Näheres zu erfahren.
Polina Purbujevna, die unserem Institut
vorsteht, ist eine nette ältere Burjatin, bekannt für ihre spontanen Ideen und
ihren burjatischen Lokalpatriotismus. Bei einem beiläufigen Gespräch im
Treppenhaus hatte ich ihr gegenüber kurz den Deutschen Chor erwähnt, und sie
hat ihn in meiner Abwesenheit gleich einmal in ihre Planungen einbezogen.
Dienstag 16:20 ist ja tatsächlich mein Probentermin, aber englische Lieder muss
ich erstmal suchen, und ob wir in drei Wochen wirklich auftrittsreif sind?
Zur gestrigen Probe kamen aufgrund des
Aushanges nicht nur 15 Studenten, sondern auch acht Dozenten einschließlich der
Institutsdirektorin. Über die große Anzahl freute ich mich außerordentlich. Zum
Glück fand ich eine englische Version von „O Tannenbaum“ („O hemlocktree“), und
„Bruder Jakob“ sangen wir nicht nur auf Deutsch und Englisch, sondern gleich
noch auf Französisch und Russisch. Nachdem wir damit durch waren, sprang Polina
Purbuevna auf und lief nach vorne an die Tafel. „Und jetzt auf Burjatisch!“,
rief sie, „Das muss sein, das ist doch auch eine politische Frage!“ – „Gibt es
den Text schon, oder wollen Sie das jetzt spontan übersetzen?“, meinte ich so
höflich wie möglich. Letzteres war der Fall, aber ich konnte die energische
Dame davon überzeugen, dass das so schnell wohl kaum geht, weil die Silben ja
in den Rhythmus passen müssen und wir die burjatische Version dann gern das
nächste Mal dazunehmen.
Dinge werden hier gern spontan und
überraschend geplant, oder sie werden überhaupt nicht geplant, oder sie werden
irgendwie ansatzweise geplant, aber nicht bis zu Ende durchdacht. Es bleibt
immer eine unbestimmte „Grauzone“ – das ergibt sich dann schon. Ich bin gerade
dabei zu lernen, dass es tatsächlich so ist und es sich am Ende irgendwie
ergibt und Dinge auch funktionieren, wenn man sie im Kopf nicht genau
vorstrukturiert und vorausdenkt.
Eine andere Veranstaltung außerhalb meines
regulären Stundenplanes ist der „Deutsche Abend“, den ich alle 14 Tage am
Sonntag Abend zusammen mit zwei jungen Damen, Nastja und Olga, in den Räumen
der Musikschule „Sila Muzyki“ (Kraft der Musik) organisiere. Die
letzten Male haben wir deutsche Kurzfilme mit russischen Untertiteln geschaut,
eine vom Goethe-Institut zusammengestellte DVD. Da ich von Filmen keine Ahnung
habe, war es für mich genauso neu wie für die etwa 10 Teilnehmer. – Die
Musikschule, wo unser Abend stattfindet, ist ein ganz besonderer Ort, es ist
nämlich die einzige private Einrichtung ihrer Art in der Stadt. In den
städtischen Musikschulen wird nach einem festgelegten Programm unterrichtet und
es werden auch nur Kinder aufgenommen. Zu „Sila Muzyki“ können alle kommen, die
wollen, und den Unterrichtsinhalt mitbestimmen.
Der „Deutsche Abend“ in 14 Tagen soll
weihnachtlich sein, das heißt für mich: Plätzchenbacken und Sterne basteln. Vor
einer Woche habe ich einen Mitte Oktober abgeschickten Brief von Mutter und
Schwester von der Post geholt mit Sternebastel-Spezialpapier, das sollte also
klappen. Eine „Adventszeit“ im deutschen Sinne mit Weihnachtsmarkt gibt es in
Russland nicht. Auf dem zentralen Platz in Ulan-Ude steht schon eine große
Tanne – für das Neujahresfest.
Hier entsteht Eiskunst. Im Hintergrund Lenin mit Schneekappe |
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Beim Deutschen Abend |