Mittwoch, 9. Dezember 2015

Kulturschock und Rock



Unter Leuten, die sich mit interkultureller Kommunikation beschäftigen, erfreut sich die sogenannte Kulturschock-Kurve einer gewissen Bekanntheit. Sie beschreibt modellhaft, welche psychischen Prozesse sich oft in Menschen abspielen, die für eine längere Zeit ins Ausland gehen und dann wieder zurückkehren. Die Kulturschock-Kurve hat die Form des Buchstabens „W“ und kann als eine Art „innerer Stimmungsverlauf“ gelesen werden. Nach der Ankunft im neuen Land geht es einem gut, man empfindet Euphorie und Entdeckerstimmung, ist überwältigt von der Exotik oder aber bildet sich ein, dass die Menschen ja eigentlich doch gar nicht so anders sind als in der Heimat. Nach einer Weile stellt man fest: irgendwie sind die Dinge doch anders, die Kultur ist komisch, die Menschen verstehen mich nicht und ich sie nicht. Die Kurve bricht nach unten ein. Etwas später arbeitet man sich aus dem Tal heraus und erlangt ein tieferes Verständnis des Gastlandes: die mittlere Spitze des „W“ ist erreicht.
Irgendwann geht es wieder in die Heimat zurück. Nach der Ankunft findet der Rückkehrer: prima, ist ja alles beim Alten, meine Muttersprache, ich kenne Menschen, Orte und Traditionen. Die Kurve bricht nach gewisser Zeit nach unten ein, wenn man bemerkt: aber ich habe mich verändert – und diese Veränderung kann ich meinen Bekannten gar nicht richtig mitteilen, sie reden mit mir, als wäre ich überhaupt nicht im Ausland gewesen. Das ist der sogenannte „Wiedereintritts-Kulturschock“. Nach einiger Zeit arbeitet man sich natürlich auch aus diesem Tief heraus – das rechte Ende des „W“ ist erreicht.
Der „Schock“ ist hier im übertragenen Sinne zu verstehen. Ein Kulturschock vollzieht sich oft unmerklich und in kleineren Schritten. Das trifft auch auf den russisch-deutschem Austausch zu, für Länder also, die sich auf den ersten Blick in vielem gar nicht so unähnlich sind – wohl aber auf den zweiten. Einen ordentlichen "Wiedereintritts-Schock“ hatte ich einige Tage nach meiner Rückkehr aus Chabarowsk 2011, als ich mit Virusinfektion eine Zeit elend im Bett lag, das Gefühl hatte, mit niemandem die Erlebnisse des letzten Jahres teilen zu können und mich grundsätzlich fragte, was ich jetzt wieder in Potsdam zu tun habe.
Organisationen, die Mitarbeiter ins Ausland schicken, veranstalten Seminare, um die „Kulturschock-Tiefs“ abzumildern. Je mehr man sich auf das Land und seine Besonderheiten einstellt, desto größer ist die Chance, dass man den Auslandseinsatz bis zu Ende durchhält. Auf solchen Seminaren erzählen Referenten auch oft vom „Eisberg-Modell“. Der größte Teil eines Eisberges ist unter Wasser. Übertragen heißt das: das wahrnehmbare Verhalten der Menschen ist nur ein ganz kleiner Teil dessen, was sich bei ihnen unter der Oberfläche abspielt, dessen, was tief verwurzelt ist an Vorstellungen und Wertehaltungen. Das im Kopf zu haben, hilft, eine Kollision des unterirdischen Teils meines eigenen „Eisbergs“ mit dem meines ausländischen Partners zu vermeiden.
Auch nach jahrelanger Russlanderfahrung ist es mir nicht gelungen, meine „Kulturschock-Kurve“ vollständig zu glätten. Zurzeit bin ich vielleicht in der Nähe der nach dem Einreise-Hoch folgenden Talsohle. Ich bin etwas genervt und gestresst, vermisse die mir vertrauten Menschen in der Heimat und freue mich auf den Deutschland-Urlaub Anfang Januar. Wie manche Dinge in Burjatien laufen, verstehe ich nicht. Wenn eine Veranstaltung um 15 Uhr beginnt, dann heißt das, dass der Veranstalter um kurz nach 15 Uhr kommt. Nachdem in Ruhe alles aufgebaut ist und festgestellt wurde, dass die Technik (z.B. der Beamer) nicht funktioniert, geht es dann – irgendwie zurechtimprovisiert – um 15:30 Uhr los, während langsam die letzten Teilnehmer eintreffen. Was ist denn das für ein Dilletantismus, möchte ich da meine Kollegen gern fragen, macht ihr das zum ersten Mal? Aber natürlich frage ich nicht. Ich ärgere mich, schweige und versuche mich daran zu erinnern, was „interkulturelle Kompetenz“ bedeutet. Und wenn es weder die Lehrkräfte noch die (wenigen) pünktlich gekommenen Studenten stört, die eine halbe Stunde in schweigender Unterwürfigkeit herumsitzen, dann bin es ja wohl tatsächlich nur ich, der an seiner Haltung etwas ändern sollte.
Gerade finden bei uns am Institut die „Tage der deutschen Sprache“ statt: verschiedene Wettbewerbe für die Studenten und am Freitag dann ein Weihnachtsmarkt im Foyer mit Siegerehrung und Abschlusskonzert. Es gab einen geografischen Wettbewerb (Städte, Landschaften usw. in eine stumme Deutschlandkarte einzeichnen), wir haben „Tabu“ gespielt (Wörter umschreiben), die Studenten haben selbst geschriebene Märchen vorgelesen, und heute erwarten uns Aufführungen eines Loriot-Sketches, den die Studenten einstudieren sollten. In Russland generell äußerst wichtig ist das reichliche und großzügige Verteilen von Preisen und Urkunden. Und wenn es nur drei schnell heruntergerasselte Zungenbrecher (Fischers Fritze usw.) sind, Dauer des Auftritts: 20 Sekunden – ein schickes Papier muss sein, auf dem dann steht „Zweiter Preis im Phonetik-Wettbewerb“. Hier muss ich mir wohl meine deutsche Sachlichkeit abgewöhnen, mein Leistungsdenken. Preise gibt es, weil es sich gut anfühlt und die Motivation hebt. Je mehr, desto besser. (Etwas schwierig wird es dann nur in internationalen Wettbewerben, aber das ist ein anderes Kapitel.)
Aber natürlich bleiben Dinge, die Spaß machen. Mit den Masterstudentinnen habe ich ein wenig Valenztheorie besprochen. In jedem Satz gibt es ein Verb. Und damit der Satz korrekt wird, kann man sich anschauen, was das Verb für Partner braucht. Einige sind bescheiden, ihnen genügt ein einziger Partner im Nominativ: Sie schläft. Sehr viele brauchen zwei, einen im Nominativ und einen im Akkusativ (er putzt das Fenster) oder im Dativ (ich helfe dir). Bei den dreiwertigen Verben gibt es alles dies auf einmal (der Sohn schreibt der Schwester einen Brief). Einige wenige, aber sehr häufige Verben verbinden sich mit zwei Nominativen (er ist und bleibt ein Dummkopf), auch ein Nominativ und zwei Akkusative kommen vor (sie nennt mich einen Trottel, wie auch bei dem unüblich gewordenen Wort lehren: er lehrt die Schüler die deutsche Sprache). Und schließlich ein Meer von Verben, die ihren Partner auf Abstand halten, indem sie zwischen sich und ihn eine Präposition einschieben: Ich denke über mein Leben nach, während ich auf den Bus warte. Für die nächste Stunde aufgespart habe ich einige ganz aristokratische Verben, die sich den Genitiv auserwählt haben (er erfreut sich bester Gesundheit), meistens noch in Kombination mit einem Akkusativ (die Polizei verdächtigt ihn des Diebstahls). – Die russische Grammatik funktioniert ähnlich, nur dass hier noch zwei weitere Partner zur Auswahl stehen (Instrumental und Präpositiv). Solche etwas theoretischen Betrachtungen kann ich nur mit dieser Fortgeschrittenen-Gruppe anstellen, die schon gut sprechen kann.
Am letzten Sonntag war ich in einem Sportstadion auf einem Rockkonzert der Gruppe DDT. Sie gehört zu den Klassikern der russischen Rock-Szene noch aus Perestroika-Zeiten. „Toll, dass ihr gekommen seid und auch in diesen schwierigen Zeiten nicht an der Eintrittskarte gespart habt“, rief Leadsänger Juri Schewtschuk den jubelnden Fans zu, lobte das sonnige Ulan-Ude (im Vergleich zum trüben St. Petersburg) und erzählte von seiner aus dem Takt gekommenen inneren Uhr beim Herumjetten durch die verschiedenen Zeitzonen Russlands. Gegen Ende des Konzertes dann ein fast schon politisches Statement: „Für die Liebe und gegen Kriegspropaganda – und zwar die auf beiden Seiten!“ Die eher zurückhaltenden und trägen Burjaten steigerten ihre Begeisterungsbekundungen dann immerhin noch soweit, dass es für zwei Zugaben reichte.
Woran denken die Studenten bei "Deutschland" als erstes, und was ist ihr deutsches Lieblingswort?