Samstag, 5. Dezember 2015

Deutsch und Russisch



„Leider konnte ich nicht zu deiner Feier kommen.“ „Das tut mir leid! Vielleicht schaffst du es ja das nächste Mal!“ - -„Ich wohne mit meinen Eltern.“--„Ich habe darüber nur gestern erfahren.“ -- „Er hat mich darüber gefragt.“

Umgeben von deutschsprechenden Russen, merke ich, wie sich mein deutsches Sprachgefühl beginnt abzuschleifen und zu verändern. Ich fange an, über meine eigene Muttersprache nachzudenken: Muss es nicht heißen schade und bei den Eltern? Davon erfahren? Danach gefragt?
Tut mir leid, dass ich nicht kommen konnte. – Hier ist „tut mir leid“ angebracht, weil ich selbst dafür verantwortlich bin, es ist meine eigene Tat.
„Mein Uropa ist gestorben!“ – „Oh, das tut mir leid!“
Ist das Deutsch? Wenn schon, dann „tut mir leid für dich“, was aber sehr altmodisch klingt.
Oft lassen sich Fehler durch wörtliche Übernahmen aus dem Russischen erklären:
„Das ist schmeckt.“ – „Das ist leider.“ – „Das ist nicht unbedingt.“ – „Ich gratuliere Sie!“ – „Ich habe darüber vergessen.“ – „Er hat darüber nicht gedacht.“ – „Ich konnte gestern nicht zum Unterricht kommen, ich musste mit den Kindern sitzen.“ Russen sitzen gern: sie sagen auch „im Internet sitzen“ oder „in der Schlange sitzen“.

Mit den Masterstudenten haben wir uns mit „Falschen Freunden des Übersetzers“ beschäftigt. – Halt! Wer ist wir? Ich und die Studenten! Also nochmal: Mit den Masterstudenten habe ich mich mit „Falschen Freunden des Übersetzers“ beschäftigt. Ein anschlag im Russischen ist ein ausverkaufter Saal, kein Attentat. Ein butterbrot ist ein belegtes Brot, da kann auch Wurst oder Käse drauf sein, nicht nur Butter. Und ein paket ist nicht etwa ein Paket, sondern eine Tüte.

Trug Tim eine so helle Hose nie mit Gurt? Was ist das Besondere an diesem Satz? Es ist ein Palindrom – man kann ihn vorwärts und rückwärts lesen. Hausaufgabe für die Studenten war, russische Palindrome zu finden, und siehe da, es gibt eine ganze Menge: Он в аду давно. Oder: Ешь немытого ты меньше. Vorwärts und rückwärts auf den Buchstaben genau gleich, einschließlich der Weichheitszeichen (ь)! Klassische Themen für den Unterricht sind natürlich Zungenbrecher und Sprichwörter oder Redewendungen. Ich kenne die Stadt wie meine Westentasche! Russen würden sagen: Ich kenne sie wie meine fünf Finger. Liebe geht durch den Magen! Auf Russisch: Der Weg zum Herzen des Mannes verläuft durch den Magen. Deutsche machen aus einer Mücke, Russen aus einer Fliege einen Elefanten.
Spaß macht es, Wortpaare zu finden, die gleich gesprochen, aber sich in Schreibung und Bedeutung unterscheiden: fiel – viel, Meer – mehr, wahr – war. Oder die sich nur durch die Länge des Vokals unterscheiden: Der Ofen ist offen. Die Miete in Berlin-Mitte ist hoch. Die Hölle ist eine Höhle.
Endlos lange Wörter bilden kann man besonders gut im Deutschen. Jeder kennt wohl den Donaudampfschifffahrtskapitänsgesellschaftsvorstandssitzungsbegrüßungssekt, oder so ähnlich. Im Russischen würde man lauter Genitive aneinanderreihen: der Sekt der Begrüßung der Sitzung des Vorstandes… Aber einige lange Wörter gibt es doch: …
Ein schönes Thema für fortgeschrittene Studenten ist „Dialekte im Deutschen“. Auf der Internetseite der Deutschen Welle habe ich tolle Sendungen über einzelne deutsche Dialekte gefunden mit Texten zum Mitlesen. Das Sächsische zeichnet sich dadurch aus, dass die hochdeutsche Grammatik weitgehend erhalten bleibt und nur die Aussprache deutlich davon abweicht. Das war selbst mir als Sachsen nicht klar! Hingegen das Schwäbische: Der Mann wo gestern gekommen isch…
Gern lasse ich die Studenten im Unterricht Dialoge lesen, zum Beispiel Loriot-Sketche. Ich hoffe, dass durch das laute Lesen „mit Emotionen“ die Sprache ein wenig aus dem Kopf ins Blut geht. Oder ich lasse Vater-und-Sohn-Bildergeschichten beschreiben. Es macht zumindest Spaß- und vielleicht ist es ja tatsächlich auch nützlich. Wie Sprachenlernen genau funktioniert, weiß eigentlich keiner so genau. Die Diskussionen unter den Pädagogen finde ich reichlich schwammig. Man macht im Unterricht etwas, und etwas kommt bei den Lernern dabei heraus, aber wie das miteinander zusammenhängt, ist nicht so ganz klar.

Meine Kollegen am Lehrstuhl sprechen gut Deutsch, aber natürlich machen sie Fehler. Manchmal würde ich sie gern berichtigen, aber das ist nicht so einfach. Sprache ist etwas sehr sensibles und persönliches, und unter erwachsenen Kollegen gehört wohl ein besonderes Vertrauensverhältnis dazu, sich gegenseitig auf Mängel in der Sprache hinzuweisen. Nachdem unsere Stadtführerin in Wladiwostok ungefähr zehnmal das Wort Jahrhundert mit deutlicher Betonung auf der ersten Silbe gesagt hatte, tat es mir richtig in den Ohren weh, aber gesagt habe ich nichts. Dabei würde ich mich auch freuen, wenn mir jemand meine Fehler im Russischen vorhält, aber in der Regel macht das niemand.

Neulich habe ich ein Buch mit Erzählungen von Viktoria Tokareva gelesen, eine sehr bekannte und erfolgreiche russische Gegenwartsschriftstellerin. Es geht vor allem um Liebe, Heirat und Krankheiten, wobei typisch russische Werte deutlich werden („aus guter Familie sein“, „Fortsetzen des eigenen Geschlechts“, „sie war 30, es wurde höchste Zeit zu heiraten“) und auch (allerdings von der Autorin unreflektiert) verbreitete Vorurteile und Stereotype einfließen („Er war Deutscher. Man musste ihn nicht überprüfen. Er hielt immer sein Wort“, leicht abfällige Haltung gegenüber Ukrainern und ihrer Sprache), auch über sich selbst („Der Barkeeper hatte sich daran gewöhnt, dass sich alle Russen besaufen wie Schweine“). Dank der moderne Sprache und der eher kurzen Sätze konnte ich durch die Lektüre für mein Russisch etwas dazulernen. Ansonsten würde ich sagen: keine große Literatur. Seltsam, dass deutsche Literaten Tokareva als ernstzunehmende Autorin betrachten und sogar der Reclam-Verlag eine ihrer Erzählungen in einen Sammelband aufgenommen hat.
Meistens lese ich deutsche Bücher, schließlich bin ich als deutscher Kulturmittler hier. Der Handapparat in meinem Büro, den ich von meiner Vorgängerin übernommen habe, bietet reichlich Auswahl. Gerade bin ich inmitten der „Unendlichen Geschichte“, Phantásien, Atreju und die Uralte Morla – Teil Eins der Verfilmung ist einer von zwei Filmen, an den ich mich (neben „Ronja Räubertochter“) aus meiner ansonsten weitgehend film- und fernsehfreien Kindheit gut erinnern kann.