Dienstag, 15. Dezember 2015

Theater, Tannenbaum und Tanz



Über meine Wohnsituation kann ich mich nicht beschweren. Ich wohne im Zentrum, nicht weit von meiner Arbeitsstelle, in unmittelbarer Nachbarschaft von Orten der Kunst und Kultur.
Fünf Fußminuten entfernt Richtung stadtauswärts befindet sich das Molodjozhnуj Chudozhestvennyj Teatr, das Jugendkunsttheater. Zweimal hatte ich Gelegenheit, die gemütlichen, verwinkelten Erdgeschossräume zu besuchen und auf der kleinen Bühne eine Vorstellung zu erleben. Die räumliche Nähe zu den Schauspielern schafft eine besondere Atmosphäre. Die Auftritte waren intensiv, voller Wirkungen und Effekte, perfekt einstudiert – überhaupt gefällt es mir meistens gut, wie in Russland Theater gespielt wird, mit einem Gespür für Ästhetik und Spannung, nicht nur so lasch dahinimprovisiert. „Welches Land?“, fragte mich nach meinen ersten drei Worten an der Kasse die Administratorin Svetlana (wie würde man dieses Amt auf Deutsch bezeichnen?) und startete sofort mit einem Redeschwall über ihren letzten Deutschlandaufenthalt. Sie gab mir eine Eintrittskarte, obwohl längst alles ausverkauft war, zog mich am Ärmel in einen mit großen Sofas ausgestatteten Aufenthaltsraum, bot mir Tee an, machte mich mit allen bekannt und erzählte von der großen Vergangenheit des Theaters, als es noch finanzielle Förderung von der Stadt gab. Inzwischen ist kaum noch Geld da und es reicht nicht einmal für den Druck eines Aushanges mit dem Spielplan. Diesen muss man im Internet suchen, oder das Theater und die Leute eben einfach kennen. Die Eintrittskarten, die benutzt werden, sind noch aus Sowjetzeiten, es steht geschrieben „Kulturministerium der Burjatischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik, Preis 1 Rubel“; man macht einfach einen Stempel mit dem aktuellen Datum und dem tatsächlichen Preis darauf.
Weitere acht Minuten in der gleichen Richtung liegt ein großes graues Gebäude mit einem exotisch geschwungenen Dach, das Burjatische Dramatheater. Hier wird auf Burjatisch gespielt, die Sprache der Nationalität, die die Hälfte der Bewohner Burjatiens ausmacht, die Menschen, deren exotisches Aussehen einen Touristen hier sofort merken lassen, dass er sich in Asien befindet. Wer sie nicht versteht wie ich, kann sich – manchmal – an der Garderobe einen Apparat mit Kopfhörern geben lassen und sich während des Stückes eine synchrone Übersetzung ins Russische anhören. Burjatisch ist eng mit dem Mongolischen verwandt, eine raue Sprache mit vielen „ach“-Lauten und Vokalen. Vor allen auf den Dörfern ist sie sehr lebendig, hier in Ulan-Ude sprechen es bei weitem nicht alle Burjaten, obwohl es an der Schule ein obligatorisches Fach ist. Geschrieben wird die Sprache mit russischen Buchstaben, ergänzt um einige weitere, um die zusätzlichen Vokale darzustellen.
Unser regulärer „Deutscher Abend“ in der Musikschule am letzten Sonntag war ein Weihnachtsabend mit Tannenbaum, Plätzchen und Glühwein. Jeder sollte ein Geschenk mitbringen, es unter dem Baum abstellen und durfte sich dann eines nehmen – nur nicht sei eigenes. Zuvor mussten sich unter einer Decke befindliche Gegenstände ertastet und erraten werden, die etwas mit Deutschland zu tun haben: Kinderüberraschungseier, ein Bierkrug vom Oktoberfest, ein kleines Modell der Frauenkirche oder Euro- und Mark-Münzen. „Die deutsche Art zu feiern gefällt mir richtig gut“, meinte Burjatin Regina zu mir, die mit ihrer kleinen Tochter Sarana gekommen war und selber auch gut Deutsch spricht. „Intelligente Spiele, nur schwach alkoholische Getränke, und es geht so ruhig und kultiviert zu…“ Dieses Lob hat mir sehr geschmeichelt.
Im gleichen Gebäude wie die Musikschule, zwei Eingänge weiter, befindet sich die Tanzschule Fabrika Tanza. Gelegentlich verschlägt es mich dorthin zum Tangokurs. In der Männerumkleide hängt ein markiger Spruch: „Derjenige ist kein Mann, der nicht die Tanzstunde für sich und seine Partnerin bezahlen kann!“ In Russland gibt es recht klare Vorstellungen davon, was die Herren zu tun haben. „Blumen auch ohne Grund schenken – Merkmal eines echten Mannes“, hängt ein großes Plakat an einer Haltestelle (im Russischen reimt sich der Spruch). Im Tanzunterricht wird Wert auf Haltung und Schönheit gelegt, ganz anders als die sportliche, kaugummikauende Lässigkeit in manchen Kursen in Deutschland.
Vor der Rückkehr in meine Wohnung bin ich gestern nach der Arbeit erstmalig auf der vereisten Selenga spazieren gegangen. Dick eingepackte Angler sitzen an Eislöchern, einige sind gleich mit dem Auto in die Flussmitte gefahren und haben ihre Zelte aufgebaut. Die Kälte hier ist sehr trocken, minus zehn fühlt sich nicht unangenehm an, zumal kaum Wind weht.

Neujahresgrüße vor dem Burjatischen Dramatheater - auf Burjatisch und Russisch
Auf der vereisten Selenga - in die Flussmitte fahren viele Angler gleich mit dem Auto
Markiger Spruch in einer Tanzschule