Über meine
Wohnsituation kann ich mich nicht beschweren. Ich wohne im Zentrum, nicht weit
von meiner Arbeitsstelle, in unmittelbarer Nachbarschaft von Orten der Kunst
und Kultur.
Fünf Fußminuten
entfernt Richtung stadtauswärts befindet sich das Molodjozhnуj Chudozhestvennyj Teatr, das Jugendkunsttheater.
Zweimal hatte ich Gelegenheit, die gemütlichen, verwinkelten Erdgeschossräume
zu besuchen und auf der kleinen Bühne eine Vorstellung zu erleben. Die
räumliche Nähe zu den Schauspielern schafft eine besondere Atmosphäre. Die
Auftritte waren intensiv, voller Wirkungen und Effekte, perfekt einstudiert –
überhaupt gefällt es mir meistens gut, wie in Russland Theater gespielt wird,
mit einem Gespür für Ästhetik und Spannung, nicht nur so lasch
dahinimprovisiert. „Welches Land?“, fragte mich nach meinen ersten drei Worten
an der Kasse die Administratorin Svetlana (wie würde man dieses Amt auf Deutsch
bezeichnen?) und startete sofort mit einem Redeschwall über ihren letzten
Deutschlandaufenthalt. Sie gab mir eine Eintrittskarte, obwohl längst alles
ausverkauft war, zog mich am Ärmel in einen mit großen Sofas ausgestatteten
Aufenthaltsraum, bot mir Tee an, machte mich mit allen bekannt und erzählte von
der großen Vergangenheit des Theaters, als es noch finanzielle Förderung von
der Stadt gab. Inzwischen ist kaum noch Geld da und es reicht nicht einmal für
den Druck eines Aushanges mit dem Spielplan. Diesen muss man im Internet
suchen, oder das Theater und die Leute eben einfach kennen. Die Eintrittskarten, die benutzt werden, sind noch aus
Sowjetzeiten, es steht geschrieben „Kulturministerium der Burjatischen Autonomen
Sozialistischen Sowjetrepublik, Preis 1 Rubel“; man macht einfach einen Stempel
mit dem aktuellen Datum und dem tatsächlichen Preis darauf.
Weitere acht
Minuten in der gleichen Richtung liegt ein großes graues Gebäude mit einem
exotisch geschwungenen Dach, das Burjatische
Dramatheater. Hier wird auf Burjatisch gespielt, die Sprache der
Nationalität, die die Hälfte der Bewohner Burjatiens ausmacht, die Menschen,
deren exotisches Aussehen einen Touristen hier sofort merken lassen, dass er
sich in Asien befindet. Wer sie nicht versteht wie ich, kann sich – manchmal –
an der Garderobe einen Apparat mit Kopfhörern geben lassen und sich während des
Stückes eine synchrone Übersetzung ins Russische anhören. Burjatisch ist eng
mit dem Mongolischen verwandt, eine raue Sprache mit vielen „ach“-Lauten und
Vokalen. Vor allen auf den Dörfern ist sie sehr lebendig, hier in Ulan-Ude
sprechen es bei weitem nicht alle Burjaten, obwohl es an der Schule ein
obligatorisches Fach ist. Geschrieben wird die Sprache mit russischen
Buchstaben, ergänzt um einige weitere, um die zusätzlichen Vokale darzustellen.
Unser regulärer
„Deutscher Abend“ in der Musikschule am letzten Sonntag war ein Weihnachtsabend
mit Tannenbaum, Plätzchen und Glühwein. Jeder sollte ein Geschenk mitbringen,
es unter dem Baum abstellen und durfte sich dann eines nehmen – nur nicht sei
eigenes. Zuvor mussten sich unter einer Decke befindliche Gegenstände ertastet
und erraten werden, die etwas mit Deutschland zu tun haben:
Kinderüberraschungseier, ein Bierkrug vom Oktoberfest, ein kleines Modell der
Frauenkirche oder Euro- und Mark-Münzen. „Die deutsche Art zu feiern gefällt
mir richtig gut“, meinte Burjatin Regina zu mir, die mit ihrer kleinen Tochter
Sarana gekommen war und selber auch gut Deutsch spricht. „Intelligente Spiele,
nur schwach alkoholische Getränke, und es geht so ruhig und kultiviert zu…“
Dieses Lob hat mir sehr geschmeichelt.
Im gleichen Gebäude
wie die Musikschule, zwei Eingänge weiter, befindet sich die Tanzschule Fabrika Tanza. Gelegentlich verschlägt
es mich dorthin zum Tangokurs. In der Männerumkleide hängt ein markiger Spruch:
„Derjenige ist kein Mann, der nicht die Tanzstunde für sich und seine Partnerin
bezahlen kann!“ In Russland gibt es recht klare Vorstellungen davon, was die
Herren zu tun haben. „Blumen auch ohne Grund schenken –
Merkmal eines echten Mannes“, hängt ein großes Plakat an einer Haltestelle (im
Russischen reimt sich der Spruch). Im Tanzunterricht wird Wert auf Haltung und
Schönheit gelegt, ganz anders als die sportliche, kaugummikauende Lässigkeit in
manchen Kursen in Deutschland.
Vor der Rückkehr in
meine Wohnung bin ich gestern nach der Arbeit erstmalig auf der vereisten Selenga spazieren gegangen. Dick
eingepackte Angler sitzen an Eislöchern, einige sind gleich mit dem Auto in die
Flussmitte gefahren und haben ihre Zelte aufgebaut. Die Kälte hier ist sehr
trocken, minus zehn fühlt sich nicht unangenehm an, zumal kaum Wind weht.
Neujahresgrüße vor dem Burjatischen Dramatheater - auf Burjatisch und Russisch |
Auf der vereisten Selenga - in die Flussmitte fahren viele Angler gleich mit dem Auto |
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Markiger Spruch in einer Tanzschule |