Dienstag, 22. Dezember 2015

Ust-Bargusin

An der Wand in meinem Zimmer hängen zwei Karten vom Baikal. Manchmal stehe ich davor und lasse meine Gedanken in die Dörfer an der Küste des Sees schweifen, die ich bereits besucht habe: Babuschkin im Süden mit dem alten Leuchtturm und dem Fähranleger, der Ort, an dem früher die vom anderen Ufer kommende Fähre anlegte, als es die Süd-Umrundung mit der Eisenbahn noch nicht gab. Das in einer flachen, sandigen Bucht gelegene Oimur, wo mich eine Großmutter mit ihrem Enkel zu sich nach Hause eingeladen hatte. Gremjatschinsk, der erste Ort am See entlang des nach Norden führenden Bargusin-Traktes, mit schönen, leider etwas verschmutzten Stränden und einem fantastischen Aussichtsberg. Gorjatschinsk, wo in einem Sanatorium eine heiße Quelle aus der Erde kommt und man seine Füße in den warmen Heilschlamm stecken kann. Das in eine malerische Bucht eingebetteteMaximicha mit tollem Blick auf die Berge der Halbinsel Heilige Nase. Nördlich davon: Ust-Bargusin, an der Mündung des Flusses Bargusin, der letzte Ort an der Baikal-Küste, bevor die Straße das Ufer verlässt und in den Bergen verschwindet –mein Ausflugsziel am letzten Wochenende.
Nach knapp 300 Kilometern erreicht der Minibus Ust-Bargusin, mit 8000 Einwohnern deutlich größer als die anderen Dörfer. Ich laufe durch die breiten, rechts und links von gleichförmigen, niedrigen Holzhäusern gesäumten Straßen. Unter meinen Füßen knirscht der Schnee, alles ist von einer weißen Decke überzogen. Vor 70 Jahren war hier noch gar nichts: der Ort wurde erst 1952 von einer niedriger am Fluss gelegenen Stelle aufwärts verlegt, weil man Überschwemmungen fürchtete. Garstige Hunde kläffen mich an, gelegentlich das Aufkreischen einer Motorsäge, sonst herrscht Stille. Aus den Schornsteinen der meisten Häuser steigt dünner weißer Rauch, kaum ein Mensch ist auf der Straße: es sind minus zwölf Grad und unangenehmer Wind.
Am Ufer des Bargusin angekommen, wundere ich mich über die vielen kleinen Schachteln, die auf dem zugefrorenen Fluss wie in einer Reihe stehen. Ich gehe übers Eis zu ihnen heran und stelle fest: es sind etwa mannshohe, beheizte Buden aus Holz oder Karton, oft mit Fenstern aus einer Art gekammerten Isolier-Plastik, in denen Fischer über ihren Eislöchern sitzen. Sie sind mit Kufen ausgestattet und werden per Auto auf den Fluss gezogen. Ringsum ist alles schneebedeckt, nur gelegentlich verrät eine blankgescheuerte, glänzend schwarze Stelle, dass ich mich nicht auf einer Wiese, sondern auf einem Fluss befinde. Manchmal sind Lufteinschlüsse oder Risse im Eis, die eine beruhigende Dicke von fast einem Meter erahnen lassen. Zehn Zentimeter würden für Fußgänger schon ausreichen. Der peitschende, Schneestaub vor sich herblasende Wind beißt ins Gesicht – ich verziehe mich in eine leerstehende der Fischerbuden und trinke heißen Tee aus der Thermoskanne.
Ein Phänomen am Baikal-Ufer sind die bizarren Hügel, zu denen sich das Eis auftürmt. Sokúj nennen die Einheimischen diese Formationen, die mit jedem Wellenschlag etwas höher werden und sich mit dem beginnenden Winter immer weiter entlang der sich vorschiebenden Eisgrenze auf den See hinaus verlagern. Ende Januar ist der See dann komplett zugefroren und kann mit LKWs befahren werden – für Touristen beginnt die Zeit der Eiswanderungen.
Von meiner Unterkunft aus habe ich einen fantastischen Blick auf die neue Brücke über den Bargusin-Fluss und die dahinterliegenden Berge der Heiligen Nase. In dem einfachen Gästehaus bin ich einziger Gast. Vor dem Ins-Bett-gehen höre ich irgendwo in der Wand eine Maus knuspern. Macht nichts, denke ich und schlafe erschöpft von meiner Wanderung ein. Wenig später höre ich es direkt an meinem Ohr rascheln und spüre auf meiner Hand ein Kitzeln: das Nagetier hat mir einen Besuch abgestattet. Den Rest der Nacht verbringe ich unruhig und in großer Angst vor der Maus, rücke mein Bett so, dass sie möglichst nicht heraufkommt und lasse das Licht an, weil sie sich wahrscheinlich nur im Dunkeln umherzuspazieren traut. „Und, haben Sie gut geschlafen?“, fragt mich die diensthabende Mitarbeiterin am nächsten Morgen in der Selbstversorger-Küche, als ich gerade meine Schnellkochnudeln mit heißem Wasser aufgieße. Ich erzähle ihr von der Maus. „Ja, unsere Katze ist faul geworden“, meint sie entschuldigend. „Liegt im Kamin herum, anstatt zu arbeiten!“
Beim Spaziergang durch den Ort komme ich an einem kleinen Marktstand vorbei, an dem drei ältere Damen Fisch verkaufen, tiefgefrorenen, geräucherten und gesalzenen. Ich erstehe zwei gefroreneOmul, der berühmteste Fisch des Baikalsees, den es nur hier gibt. „Und jetzt kaufen Sie bei mir aber auch was“, meint die zweite Dame. Ich tue ihr den Gefallen und nehme zwei geräucherte Omul. „Und ich?“, ruft die dritte Dame mir hinterher, als ich mich gerade entfernen will. Ich entscheide mich nach kurzem Überlegen für einen fetten Barsch von ihr. Jetzt habe ich genug Fisch bis zum Jahresende!
Um kurz nach Mittag stelle ich mich an die Fernstraße, um jemanden zu finden, der mich nach Ulan-Ude zurück mitnimmt. Alle fünf Minuten kommt ein Auto vorbei. Die Fahrer einiger voller Fahrzeuge machen eine entschuldigende Handbewegung. Andere beschreiben mit ihren Fingern einen Kreis, um mir zu zeigen, dass sie an der nächsten Biegung wieder in den Ort hineinfahren. Nach etwa einer Stunde lässt mich jemand in seinen Jeep einsteigen. Ich habe Glück: ein sympathischer Mann und interessanter Gesprächspartner, Förster von Beruf. Der größte Teil des gefällten Holzes geht nach China, erzählt er. Vorher wird es hier noch zu Brettern zersägt, da der Zoll auf unbearbeitete Baumstämme sehr hoch ist – auf diese Weise werden Arbeitsplätze in der Region gehalten. Ob mir schon aufgefallen wäre, dass die Siedlungen hier ungefähr in einem Abstand von 30 Kilometern zueinander liegen? Das ist die Entfernung, die zu Zarenzeiten die Postpferde zurücklegen konnten, ehe sie ausgetauscht werden mussten. Der Fahrer kommt aus dem Bargusin-Tal, noch ein gutes Stück weiter im Norden, in geheimnisvoller Abgeschiedenheit eingekesselt zwischen Bergen – eine spannende Gegend und mein nächstes Reiseziel, doch das – um es mit Michael Ende zu sagen – ist eine andere Geschichte und wird ein andermal erzählt werden.

Gleichförmige Holzhäuser an breiten Straßen: die Siedlung Ust-Bargusin
 
Früher waren die Zeiten besser: Ruine einer Fischfabrik
Alter Fischkutter vor dem Hintergrund der "Heiligen Nase"
Eisangeln bei Minusgraden - in diesen beheizten Buden hält man es aus
Lufteinschlüsse lassen die Dicke der Eisdecke des Flusses erahnen
Wunderschön: Eis-Auftürmungen am Baikal-Ufer
Blick nach Norden - der Bargusin-Trakt verschwindet in der Ferne in den Bergen
Im Kamin pennen, statt sich um die Maus in meinem Zimmer zu kümmern: die Katze des Gästehauses
Die Zeiten ändern sich, die Plakate nicht immer: "Ruhm den sowjetischen Frauen - den aktiven Erbauern des Kommunismus!"