An der Wand in meinem Zimmer hängen zwei
Karten vom Baikal. Manchmal stehe ich davor und lasse meine Gedanken in die
Dörfer an der Küste des Sees schweifen, die ich bereits besucht habe: Babuschkin im Süden mit dem alten
Leuchtturm und dem Fähranleger, der Ort, an dem früher die vom anderen Ufer
kommende Fähre anlegte, als es die Süd-Umrundung mit der Eisenbahn noch nicht
gab. Das in einer flachen, sandigen Bucht gelegene Oimur, wo mich eine Großmutter mit ihrem Enkel zu sich nach Hause
eingeladen hatte. Gremjatschinsk, der
erste Ort am See entlang des nach Norden führenden Bargusin-Traktes, mit
schönen, leider etwas verschmutzten Stränden und einem fantastischen
Aussichtsberg. Gorjatschinsk, wo in einem
Sanatorium eine heiße Quelle aus der Erde kommt und man seine Füße in den
warmen Heilschlamm stecken kann. Das in eine malerische Bucht eingebetteteMaximicha mit tollem Blick auf die Berge
der Halbinsel Heilige Nase. Nördlich davon: Ust-Bargusin,
an der Mündung des Flusses Bargusin, der letzte Ort an der Baikal-Küste, bevor
die Straße das Ufer verlässt und in den Bergen
verschwindet –mein Ausflugsziel am letzten Wochenende.
Nach knapp 300 Kilometern erreicht der Minibus
Ust-Bargusin, mit 8000 Einwohnern deutlich größer als die anderen Dörfer. Ich
laufe durch die breiten, rechts und links von gleichförmigen, niedrigen
Holzhäusern gesäumten Straßen. Unter meinen Füßen knirscht der Schnee, alles
ist von einer weißen Decke überzogen. Vor 70 Jahren war hier noch gar nichts:
der Ort wurde erst 1952 von einer niedriger am Fluss gelegenen Stelle aufwärts
verlegt, weil man Überschwemmungen fürchtete. Garstige Hunde kläffen mich an,
gelegentlich das Aufkreischen einer Motorsäge, sonst herrscht Stille. Aus den
Schornsteinen der meisten Häuser steigt dünner weißer Rauch, kaum ein Mensch
ist auf der Straße: es sind minus zwölf Grad und unangenehmer Wind.
Am Ufer des Bargusin angekommen, wundere ich
mich über die vielen kleinen Schachteln, die auf dem zugefrorenen Fluss wie in
einer Reihe stehen. Ich gehe übers Eis zu ihnen heran und stelle fest: es sind
etwa mannshohe, beheizte Buden aus Holz oder Karton, oft mit Fenstern aus einer
Art gekammerten Isolier-Plastik, in denen Fischer über ihren Eislöchern sitzen.
Sie sind mit Kufen ausgestattet und werden per Auto auf den Fluss gezogen.
Ringsum ist alles schneebedeckt, nur gelegentlich verrät eine blankgescheuerte,
glänzend schwarze Stelle, dass ich mich nicht auf einer Wiese, sondern auf
einem Fluss befinde. Manchmal sind Lufteinschlüsse oder Risse im Eis, die eine
beruhigende Dicke von fast einem Meter erahnen lassen. Zehn Zentimeter würden
für Fußgänger schon ausreichen. Der peitschende, Schneestaub vor sich
herblasende Wind beißt ins Gesicht – ich verziehe mich in eine leerstehende der
Fischerbuden und trinke heißen Tee aus der Thermoskanne.
Ein Phänomen am Baikal-Ufer sind die bizarren
Hügel, zu denen sich das Eis auftürmt. Sokúj
nennen die Einheimischen diese Formationen, die mit jedem Wellenschlag etwas
höher werden und sich mit dem beginnenden Winter immer weiter entlang der sich
vorschiebenden Eisgrenze auf den See hinaus verlagern. Ende Januar ist der See
dann komplett zugefroren und kann mit LKWs befahren werden – für Touristen
beginnt die Zeit der Eiswanderungen.
Von meiner Unterkunft aus habe ich einen
fantastischen Blick auf die neue Brücke über den Bargusin-Fluss und die
dahinterliegenden Berge der Heiligen Nase.
In dem einfachen Gästehaus bin ich einziger Gast. Vor dem Ins-Bett-gehen höre
ich irgendwo in der Wand eine Maus knuspern. Macht nichts, denke ich und
schlafe erschöpft von meiner Wanderung ein. Wenig später höre ich es direkt an
meinem Ohr rascheln und spüre auf meiner Hand ein Kitzeln: das Nagetier hat mir
einen Besuch abgestattet. Den Rest der Nacht verbringe ich unruhig und in
großer Angst vor der Maus, rücke mein Bett so, dass sie möglichst nicht
heraufkommt und lasse das Licht an, weil sie sich wahrscheinlich nur im Dunkeln
umherzuspazieren traut. „Und, haben Sie gut geschlafen?“, fragt mich die diensthabende
Mitarbeiterin am nächsten Morgen in der Selbstversorger-Küche, als ich gerade
meine Schnellkochnudeln mit heißem Wasser aufgieße. Ich erzähle ihr von der
Maus. „Ja, unsere Katze ist faul geworden“, meint sie entschuldigend. „Liegt im
Kamin herum, anstatt zu arbeiten!“
Beim Spaziergang durch den Ort komme ich an
einem kleinen Marktstand vorbei, an dem drei ältere Damen Fisch verkaufen,
tiefgefrorenen, geräucherten und gesalzenen. Ich erstehe zwei gefroreneOmul,
der berühmteste Fisch des Baikalsees, den es nur hier gibt. „Und jetzt kaufen
Sie bei mir aber auch was“, meint die zweite Dame. Ich tue ihr den Gefallen und
nehme zwei geräucherte Omul. „Und ich?“, ruft die dritte Dame mir hinterher,
als ich mich gerade entfernen will. Ich entscheide mich nach kurzem Überlegen
für einen fetten Barsch von ihr. Jetzt habe ich genug Fisch bis zum Jahresende!
Um kurz nach Mittag stelle ich mich an die
Fernstraße, um jemanden zu finden, der mich nach Ulan-Ude zurück mitnimmt. Alle
fünf Minuten kommt ein Auto vorbei. Die Fahrer einiger voller Fahrzeuge machen
eine entschuldigende Handbewegung. Andere beschreiben mit ihren Fingern einen Kreis,
um mir zu zeigen, dass sie an der nächsten Biegung wieder in den Ort
hineinfahren. Nach etwa einer Stunde lässt mich jemand in seinen Jeep einsteigen.
Ich habe Glück: ein sympathischer Mann und interessanter Gesprächspartner,
Förster von Beruf. Der größte Teil des gefällten Holzes geht nach China,
erzählt er. Vorher wird es hier noch zu Brettern zersägt, da der Zoll auf
unbearbeitete Baumstämme sehr hoch ist – auf diese Weise werden Arbeitsplätze
in der Region gehalten. Ob mir schon aufgefallen wäre, dass die Siedlungen hier
ungefähr in einem Abstand von 30 Kilometern zueinander liegen? Das ist die
Entfernung, die zu Zarenzeiten die Postpferde zurücklegen konnten, ehe sie
ausgetauscht werden mussten. Der Fahrer kommt aus dem Bargusin-Tal, noch ein
gutes Stück weiter im Norden, in geheimnisvoller Abgeschiedenheit eingekesselt
zwischen Bergen – eine spannende Gegend und mein nächstes Reiseziel, doch das –
um es mit Michael Ende zu sagen – ist eine andere Geschichte und wird ein
andermal erzählt werden.
Gleichförmige Holzhäuser an breiten Straßen: die Siedlung Ust-Bargusin |
Früher waren die Zeiten besser: Ruine einer Fischfabrik |
Alter Fischkutter vor dem Hintergrund der "Heiligen Nase" |
Eisangeln bei Minusgraden - in diesen beheizten Buden hält man es aus |
Wunderschön: Eis-Auftürmungen am Baikal-Ufer |
Blick nach Norden - der Bargusin-Trakt verschwindet in der Ferne in den Bergen |