Gestern früh verließ ich das Haus und spürte: irgendetwas ist anders als sonst. Nachdem ich einige
Schritte auf die Straße hinaus gelaufen war, schaute ich unwillkürlich an mir
hinunter – hatte ich vielleicht vor lauter professoraler Zerstreutheit vergessen,
Hosen anzuziehen und war halb nackt aus dem Haus gegangen? Eine unerwartete
Kälte fuhr mir in die Beine, zwackte im Gesicht und beim Einatmen in der Lunge.
Als ich wenig später an einem Thermometer vorbeikam, bestätigte sich meine
Vermutung: es hatte nachts einen heftigen Temperatursturz gegeben. Die digitale
Anzeige zeigte minus vierunddreißig. In einigen Gegenden der Stadt ist es sogar
noch kälter, erzählten mir die Studenten. Wenn die Temperatur auf unter minus
dreißig fällt, ist für die Grundschüler schulfrei. Wenn die Kälte sich vierzig
Minusgraden annähert, fällt die Schule für alle aus. Gestern war wohl in
Ulan-Ude letzteres der Fall.
Am Montag hatte ich
zum ersten Mal mit dem Cello das Haus verlassen. Damit es nicht auskühlt, hatte
ich über die dünne Hülle zusätzlich meinen Schlafsack gestülpt. Auf der Straße
trafen mich einige verwunderte Blicke – es sah wohl so aus, als ob ich eine
eingewickelte Leiche transportiere. Im Foyer des philharmonischen Saales
warteten 30 Drittklässler, mit denen ich zwei deutsche Weihnachtslieder sang und
ihnen ein Bach-Präludium auf dem Cello vorspielte. Zuvor hatten die Schüler ein
„virtuelles Konzert“ erlebt – die Aufzeichnung einer Aufführung des
Weihnachtsoratoriums mit dem Thomanerchor in Leipzig, groß an eine Leinwand
projiziert. Diese vertrauten Klänge hier zu hören, hat mich sehr berührt, und
mir ist wieder einmal bewusst geworden, welche unglaubliche Ausstrahlung in
alle Welt hinein der „Klassik-Standort Deutschland“ hat. Viele Menschen hier
würden davon träumen, einmal eines der Konzerte zu erleben, für die die
Deutschen nur mal eben ein paar Schritte vor die Haustür machen müssen.
Von der
Ernsthaftigkeit, Präzision und Perfektion, mit der in Deutschland klassische
Musik gemacht wird, ist man hier weit entfernt. Konzerte bestehen oft aus einem
Potpourri von kurzen Stücken, umrahmt von glitzernden, blinkenden Dekorationen,
unterbrochen von Ansagen und anderem Firlefanz, zwischendurch wird plötzlich
etwas aus der Konserve gespielt – als ob der Atem der Musiker nicht für ein
längeres Werk reicht oder man es dem Publikum nicht zutraut.
Heute habe ich der
seit 42 Jahren im Opernorchester spielenden Cellistin Tatjana Sanchojeva 32000
Rubel vorbeigebracht. Damit ist das Cello, was ich von ihr ausgeliehen habe, in
mein Eigentum übergegangen. Für einen solchen Preis (Kurs 1:75) bekommt man in
Deutschland kein solches Instrument. Auch wenn es völlig verschrammt und
reparaturbedürftig ist und der Steg korrigiert werden muss, damit der Bogen
beim Spiel auf der A-Saite nicht die Zarge berührt – ich finde den Klang abgerundet,
es hört sich gut eingespielt an, irgendwie „mit Seele“.
Tatjana gab mir einen Instrumenten-Pass mit Fotos und einer genauen
Beschreibung dazu, damit es bei der Ausfuhr aus Russland keine Zollprobleme
gibt. „Dieses Instrument fällt nicht unter das Gesetz über die Ausfuhr
wertvoller kultureller Güter“, steht darauf.
Von russischen
Bekannten habe ich zwei SMS auf Deutsch bekommen: „Herzlichen Glückwunsch zu
Weihnachten!“ Klingt ungewöhnlich (um nicht zu sagen: ist keine zulässige
Formulierung), aber warum nicht? Der 24.12. war für mich ein ausgefüllter
Arbeitstag: am Morgen Unterricht, ab Mittag Lehrstuhlsitzung, abends zwei
Doppelstunden schriftliche Kontrollarbeit mit den Masterstudenten. Ich wollte,
dass die Studenten die Klausuren auf A4-Papier schreiben und suchte vergeblich
in der Stadt nach einem Schreibwarenladen, der linierte A4-Ringblöcke verkauft.
Wenn überhaupt A4, dann gibt es nur karierte – etwas so Exotisches wird selten
nachgefragt, russische Unis sind eine A5-Kultur (ein größeres Format würde
nicht in die schicken Handtäschchen der Studentinnen passen). - Nach dem
offiziellen Teil der Lehrstuhlsitzung begann der inoffizielle Teil mit
ausgiebigem Essen und Trinken, reihum standen die Kollegen auf, hielten kurze
Ansprachen und es wurde auf das erfolgreich abgeschlossene Semester angestoßen.
Das für mich
persönlich schönste Weihnachtsgeschenk war der gestrige Auftritt „meines“
Chores im Ballsaal der Universität im Rahmen eines Konzertabends unseres Institutes.
Die Sänger – zehn Studentinnen, sieben Dozentinnen und ein Schüler - waren alle
in schickes Schwarz gekleidet, die Institutsdirektorin Polina Purbujevna hatte
allen einen blauen Schal als Accessoire dazu spendiert und mir farbig auf
diesen abgestimmtes blaues Papier im Büro vorbeigebracht, damit ich die Noten
darauf ausdrucke – der optische Eindruck muss stimmen. „Unser klassischer Chor
funktioniert ohne Technik“, klärte ich das Publikum auf, „auch wenn der Strom
ausfällt, kein Licht, kein Kühlschrank, kein Mikrofon – wir singen!“
Allgemeines Lachen. Unser 20minütiger Auftritt war ein schöner Erfolg: „Bruder
Jakob“ in fünf Sprachen (darunter wahrscheinlich die Welt-Uraufführung auf
Burjatisch, für Polina Purbujevna ein wichtiger politischer Moment), „O
Tannenbaum“ auf Deutsch, Englisch und Russisch, „Hejo, spann den Wagen an“
unter anderem auf Französisch (damit sich die Französisch-Kollegen mit ihrer
schönen Sprache auch wahrgenommen fühlen), den wunderschönen Taize-Kanon „Da
pacem cordium“ und mehr. Ich hatte mein erstes richtiges Debüt als Dirigent – in
Deutschland wohl undenkbar, Burjatien machts möglich!
Auf meiner
verglasten Terrasse, wo ich Wäsche aufhänge, ist es kaum wärmer als draußen. Es
fühlt sich eigenartig an, gefrorene Kleidungsstücke von der Schnur zu nehmen. Kaum
zu glauben, dass wir hier am Südrand von Sibirien sind – was ist dann
eigentlich in Jakutsk oder Magadan los? Viel kälter wird es auch im Januar oder
Februar nicht mehr. Sogar die Eisbahnen in der Stadt haben geschlossen – weil
es zu kalt ist zum
Schlittschuhlaufen.
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Minus vierunddreißig Grad im Zentrum der Stadt |
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Meine Kolleginnen (und ein Kollege) am Lehrstuhl für Deutsch und Französisch |
Ganz persönlicher Weihnachts-Höhepunkt für mich: Auftritt mit dem Chor |