Samstag, 26. Dezember 2015

Minus vierunddreißig



Gestern früh verließ ich das Haus und spürte: irgendetwas ist anders als sonst. Nachdem ich einige Schritte auf die Straße hinaus gelaufen war, schaute ich unwillkürlich an mir hinunter – hatte ich vielleicht vor lauter professoraler Zerstreutheit vergessen, Hosen anzuziehen und war halb nackt aus dem Haus gegangen? Eine unerwartete Kälte fuhr mir in die Beine, zwackte im Gesicht und beim Einatmen in der Lunge. Als ich wenig später an einem Thermometer vorbeikam, bestätigte sich meine Vermutung: es hatte nachts einen heftigen Temperatursturz gegeben. Die digitale Anzeige zeigte minus vierunddreißig. In einigen Gegenden der Stadt ist es sogar noch kälter, erzählten mir die Studenten. Wenn die Temperatur auf unter minus dreißig fällt, ist für die Grundschüler schulfrei. Wenn die Kälte sich vierzig Minusgraden annähert, fällt die Schule für alle aus. Gestern war wohl in Ulan-Ude letzteres der Fall.
Am Montag hatte ich zum ersten Mal mit dem Cello das Haus verlassen. Damit es nicht auskühlt, hatte ich über die dünne Hülle zusätzlich meinen Schlafsack gestülpt. Auf der Straße trafen mich einige verwunderte Blicke – es sah wohl so aus, als ob ich eine eingewickelte Leiche transportiere. Im Foyer des philharmonischen Saales warteten 30 Drittklässler, mit denen ich zwei deutsche Weihnachtslieder sang und ihnen ein Bach-Präludium auf dem Cello vorspielte. Zuvor hatten die Schüler ein „virtuelles Konzert“ erlebt – die Aufzeichnung einer Aufführung des Weihnachtsoratoriums mit dem Thomanerchor in Leipzig, groß an eine Leinwand projiziert. Diese vertrauten Klänge hier zu hören, hat mich sehr berührt, und mir ist wieder einmal bewusst geworden, welche unglaubliche Ausstrahlung in alle Welt hinein der „Klassik-Standort Deutschland“ hat. Viele Menschen hier würden davon träumen, einmal eines der Konzerte zu erleben, für die die Deutschen nur mal eben ein paar Schritte vor die Haustür machen müssen.
Von der Ernsthaftigkeit, Präzision und Perfektion, mit der in Deutschland klassische Musik gemacht wird, ist man hier weit entfernt. Konzerte bestehen oft aus einem Potpourri von kurzen Stücken, umrahmt von glitzernden, blinkenden Dekorationen, unterbrochen von Ansagen und anderem Firlefanz, zwischendurch wird plötzlich etwas aus der Konserve gespielt – als ob der Atem der Musiker nicht für ein längeres Werk reicht oder man es dem Publikum nicht zutraut.
Heute habe ich der seit 42 Jahren im Opernorchester spielenden Cellistin Tatjana Sanchojeva 32000 Rubel vorbeigebracht. Damit ist das Cello, was ich von ihr ausgeliehen habe, in mein Eigentum übergegangen. Für einen solchen Preis (Kurs 1:75) bekommt man in Deutschland kein solches Instrument. Auch wenn es völlig verschrammt und reparaturbedürftig ist und der Steg korrigiert werden muss, damit der Bogen beim Spiel auf der A-Saite nicht die Zarge berührt – ich finde den Klang abgerundet, es hört sich gut eingespielt an, irgendwie „mit Seele“. Tatjana gab mir einen Instrumenten-Pass mit Fotos und einer genauen Beschreibung dazu, damit es bei der Ausfuhr aus Russland keine Zollprobleme gibt. „Dieses Instrument fällt nicht unter das Gesetz über die Ausfuhr wertvoller kultureller Güter“, steht darauf.
Von russischen Bekannten habe ich zwei SMS auf Deutsch bekommen: „Herzlichen Glückwunsch zu Weihnachten!“ Klingt ungewöhnlich (um nicht zu sagen: ist keine zulässige Formulierung), aber warum nicht? Der 24.12. war für mich ein ausgefüllter Arbeitstag: am Morgen Unterricht, ab Mittag Lehrstuhlsitzung, abends zwei Doppelstunden schriftliche Kontrollarbeit mit den Masterstudenten. Ich wollte, dass die Studenten die Klausuren auf A4-Papier schreiben und suchte vergeblich in der Stadt nach einem Schreibwarenladen, der linierte A4-Ringblöcke verkauft. Wenn überhaupt A4, dann gibt es nur karierte – etwas so Exotisches wird selten nachgefragt, russische Unis sind eine A5-Kultur (ein größeres Format würde nicht in die schicken Handtäschchen der Studentinnen passen). - Nach dem offiziellen Teil der Lehrstuhlsitzung begann der inoffizielle Teil mit ausgiebigem Essen und Trinken, reihum standen die Kollegen auf, hielten kurze Ansprachen und es wurde auf das erfolgreich abgeschlossene Semester angestoßen.
Das für mich persönlich schönste Weihnachtsgeschenk war der gestrige Auftritt „meines“ Chores im Ballsaal der Universität im Rahmen eines Konzertabends unseres Institutes. Die Sänger – zehn Studentinnen, sieben Dozentinnen und ein Schüler - waren alle in schickes Schwarz gekleidet, die Institutsdirektorin Polina Purbujevna hatte allen einen blauen Schal als Accessoire dazu spendiert und mir farbig auf diesen abgestimmtes blaues Papier im Büro vorbeigebracht, damit ich die Noten darauf ausdrucke – der optische Eindruck muss stimmen. „Unser klassischer Chor funktioniert ohne Technik“, klärte ich das Publikum auf, „auch wenn der Strom ausfällt, kein Licht, kein Kühlschrank, kein Mikrofon – wir singen!“ Allgemeines Lachen. Unser 20minütiger Auftritt war ein schöner Erfolg: „Bruder Jakob“ in fünf Sprachen (darunter wahrscheinlich die Welt-Uraufführung auf Burjatisch, für Polina Purbujevna ein wichtiger politischer Moment), „O Tannenbaum“ auf Deutsch, Englisch und Russisch, „Hejo, spann den Wagen an“ unter anderem auf Französisch (damit sich die Französisch-Kollegen mit ihrer schönen Sprache auch wahrgenommen fühlen), den wunderschönen Taize-Kanon „Da pacem cordium“ und mehr. Ich hatte mein erstes richtiges Debüt als Dirigent – in Deutschland wohl undenkbar, Burjatien machts möglich!
Auf meiner verglasten Terrasse, wo ich Wäsche aufhänge, ist es kaum wärmer als draußen. Es fühlt sich eigenartig an, gefrorene Kleidungsstücke von der Schnur zu nehmen. Kaum zu glauben, dass wir hier am Südrand von Sibirien sind – was ist dann eigentlich in Jakutsk oder Magadan los? Viel kälter wird es auch im Januar oder Februar nicht mehr. Sogar die Eisbahnen in der Stadt haben geschlossen – weil es zu kalt ist zum Schlittschuhlaufen.

Minus vierunddreißig Grad im Zentrum der Stadt
Meine Kolleginnen (und ein Kollege) am Lehrstuhl für Deutsch und Französisch
Ganz persönlicher Weihnachts-Höhepunkt für mich: Auftritt mit dem Chor