Freitag, 18. Dezember 2015

Wenn der Fluss nicht vereiste, sprünge ich gern hinein



Wenn der Fluss nicht vereist gewesen würde, schwümme ich gern eine Runde darin. Wenn er nicht geeist hätte, schwämme ich! Ach was, schwömme! Werde geschwimmt habe! Der Konjunktiv im Deutschen ist eine kniffelige Sache, sehr formenreich und mit Logik schwer zu erschließen. Deshalb hat mich meine Kollegin Irina gebeten, ein Spezial-Seminar zu diesem Thema abzuhalten, für Studenten und auch für Lehrkräfte. Ich bin gespannt, wie viele Leute heute Nachmittag zu meiner eigens dem Konjunktiv gewidmeten Doppelstunde kommen.
Im Deutschen werden irreale Ereignisse in der Gegenwart anders ausgedrückt als in der Vergangenheit. Es gibt sehr wohl einen Unterschied zwischen „wenn ich Geld hätte“ und „wenn ich Geld gehabt hätte“. Im Russischen klingt das genau gleich. Verständlich, dass die Studenten damit durcheinanderkommen. Für die Lehrkräfte ist manchmal nicht so ganz einfach zu entscheiden, welche Formen eher theoretisch existieren und welche ein typischer Deutscher tatsächlich verwendet. Niemand sagt „Wenn ich Auto führe, machte ich bestimmt ein paar Fehler im Verkehr“. Man umschreibt es mit „würde“. Selbst ich als Deutsch-Experte erlaube mir, nicht zu wissen, ob es im Konjunktiv II eigentlich „begänne“ oder „begönne“ heißt – es ist veraltet und sollte nicht unterrichtet werden.
Vor einigen Tagen war ich an der Schule Nr. 57 und besuchte dort den Deutschunterricht meiner Studentin Seseg. Die junge Dame studiert zwar selbst noch an der Uni, arbeitet aber schon gleichzeitig 20 Stunden in der Woche als Deutsch- und Englischlehrerin. Schule Nr. 57 liegt eine halbe Busstunde außerhalb des Zentrums in der Siedlung Energetik, auf einem Hügel gelegen und von Wald umgeben. Seseg ist dort aufgewachsen und auch selbst an diese Schule gegangen. Englisch ist für alle die erste Fremdsprache, als zweite kann gewählt werden zwischen Deutsch und Burjatisch. Ich wohnte – als unauffälliger Beobachter hinten sitzend – dem Unterricht in der 5. Klasse bei, den Seseg ganz ruhig und liebevoll gestaltete (wobei sie zu den Schülern „wie geht es Ihnen“ statt „euch“ sagte – die „euch“-Formen sind für Russen schwer), und gab anschließend für die versammelten 5. bis 7. Klassen eine Stunde selbst. Die Schüler waren in schicke Schuluniformen gekleidet, recht artig und ich fand, sie ließen sich als Gruppe sehr leicht führen – vielleicht ist das der asiatische Kollektivismus, eher noch als im Westen steht man einem Gesamtorganismus gegenüber und nicht in erster Linie lauter Ich-Individuen.
Wenn ich keine warmen Schuhe anzöge, frören meine Füße. Die Schuhe einiger Leute hier sehen sehr exotisch und schön aus: sie tragen Untý, eine Art Eskimostiefel aus Rentierfell.

Studentin Lena in Untý

 
Die fünfte Klasse der Schule Nr. 57 in der Deutschstunde
Meine Studentin Seseg als Deutschlehrerin