Sonntag, 6. Dezember 2015

Die Entdeckung der Langsamkeit



In seinem berühmten Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ schildert Sten Nadolny die Biographie des Forschers und Seemanns John Franklin. Er beschreibt ihn – historisch nicht verbürgt – als einen sehr langsamen Menschen, was ihm das Leben nicht leicht macht, in manchen Situationen aber auch Vorteile hat. Manchmal scheint es mir, dass ich am Baikalsee bin, um die Langsamkeit zu entdecken – nicht meine eigene, sondern vielmehr die der Burjaten.
Auf eine eigenartige Weise laufen manche Dinge hier in einem Schneckentempo ab, das für mich eine echte Geduldsprobe darstellt. An der Kasse in der Mensa stehe ich eine gefühlte Ewigkeit in der Schlange, während die Kassiererin seelenruhig die Beträge eintippt, Wechselgeld heraussucht und zwischendurch beim Austeilen des Essens hilft. In Deutschland wären die Wartenden längst ausgerastet. Reaktionen auf Fragen oder Anliegen kommen verzögert, indirekt, ausweichend oder gar nicht. Neulich habe ich in einem kleineren Haushaltswarengeschäft nach einem Thermometer gefragt. „Nur Zimmerthermometer“, meinte die Dame an der Kasse und wies mit einer trägen Handbewegung in Richtung des Regals, wo ich sie zu suchen hatte. Ich fand dort genau das, was ich brauchte: eines für die Installation außen am Fenster bis minus 40 Grad. „Sie haben ja doch Außenthermometer“, meinte ich beim Bezahlen, „oder ist das keins?“ Die Frau ließ ihren Blick über das Thermometer gleiten, streifte mich dann mit ausdrucksloser Mine und wendete sich wieder der Kasse zu. Unser Dialog war damit zu Ende. Ich hätte jetzt so etwas wie „Oh ja, Sie haben recht“ erwartet, oder „Das nennt man bei uns auch Zimmerthermometer“, oder irgendetwas, nur nicht nichts. Achselzuckend verließ ich den Laden, freute mich über den Kauf und wunderte mich über den unergründlichen Reichtum mir fremder Kulturen dieser Erde.
Beim Betreten meines Arbeitsplatzes, des Institutes für Philologie und Massenkommunikation, treffe ich im Foyer fast immer drei Leute an. Links vom Eingang, hinter einer Glasscheibe, sitzt der Wächter. Rechts daneben die Garderobenfrau. Und rechts hinten, in einer Art verglastem Kiosk, eine Dame, die Getränke und Teigwaren verkauft.
Der Wächter schaut sich die ein- und ausgehenden Studenten an. Außerdem bewacht er das Brett mit den Raumschlüsseln, von denen er gelegentlich den Dozenten einen aushändigt. Hin und wieder macht er einen Rundgang durch das Gebäude. Meistens schaut er fern. Mitunter liest er Zeitung. Des Öfteren nickt er im Sitzen ein. Der Wächter wohnt 24 Stunden in seinem Glaskasten und schläft auch dort, dann kommt der Schichtwechsel. Vier Burjaten im Rentenalter, die einander ablösen.
Einige der Studenten und Lehrkräfte geben ihre Jacken und Mäntel an der Garderobe ab. Dann ist der Einsatz der Garderobenfrau gefragt: sie steht vom Fernseher auf, nimmt das Kleidungsstück in Empfang und händigt die Garderobenmarke aus, etwa 20 Mal am Tag, am Samstag halb so oft. Da ich meine chinesische Daunenjacke immer mit ins Büro nehme, habe ich mit der älteren Dame noch nicht gesprochen, im Gegensatz zum Wächter, mit dem ich meinen Arbeitstag manchmal mit einem morgendlichen Plausch beginne.
Zwischen den Doppelstunden ist die Snackverkäuferin am Zug, eine noch jüngere, hagere, schweigsame, etwas streng blickende Frau.In den 10minütigen Pausen stehen die Studenten Schlange. Auch ich kaufe bei ihr gern ein süßes Mohnbrötchen und eine quarkgefüllte Pirogge, meistens zu Unterrichtszeiten, um nicht anzustehen. In den 90 Minuten bin ich dann der einzige Kunde. Sie steht auf, legt ihr Smartphone zur Seite und der Hauch eines Lächelns umspielt ihr Gesicht, da sie mich schon aus Stammkunden kennt. Sie nimmt das Brötchen liebevoll aus der Tüte und legt es auf eine Serviette, dann nimmt sie die Pirogge aus einer anderen Tüte und legt sie daneben. Dann nimmt sie in den Taschenrechner. Sie tippt ein: vierzehn plus fünfzehn. Macht neunundzwanzig. Ich reiche einen Fünfzigrubelschein. Sie tippt ein: minus fünfzig. Das heißt, ich bekomme einundzwanzig Rubel Wechselgeld. Spasiba! Pozhaluista. Das Ganze dauert nicht zehn Sekunden, die etwa ein deutscher Bäckereifachverkäufer benötigt, um zwei Brötchen zu verkaufen, sondern drei Minuten. Warum auch nicht? Vielleicht ist das burjatische Tempo die in Wahrheit dem Menschen angemessene Geschwindigkeit, und unser westeuropäischer Leistungsstress eigentlich eine Krankheit?
Ein großes Rätsel – nicht nur in Burjatien, sondern in Russland generell – sind für mich die unzähligen Arbeitsplätze, die im Grunde aus Nichtstun bestehen. Die Menschen sitzen oder stehen herum und passen auf irgendetwas auf oder vollführen alle dreißig Minuten zwei Handbewegungen. Den Rest der Zeit schauen sie mit ausdruckslosem Gesicht vor sich hin oder auf den Fernseher oder sprechen mit dem Kollegen, der auf ganz ähnliche Weise nichts tut. Was geht in den Menschen vor? Haben sie irgendeine Meinung zu ihrer Arbeit? Ist das nicht unwürdig? So darf man doch einen Menschen nicht beschäftigen, indem man ihn zwingt, seine Lebenszeit sinnlos abzusitzen! Aber es scheint niemanden zu stören, ja, niemand scheint es zu bemerken. Vielleicht vollziehen sich in Wirklichkeit in der asiatischen Seele geheimnisvolle meditative Prozesse, die mir als oberflächlichem Europäer unzugänglich sind und nur wie Herumsitzen scheinen. Ein deutscher Arbeitgeber würde wahrscheinlich die drei Vollzeit-Arbeitsplätze im Foyer meines Institutes auf eine Viertelstelle zusammenstreichen und gleichzeitig noch das morgendliche Treppenwischen in diese mit hineinpacken. Wäre das besser? Krankt nicht die deutsche Gesellschaft an zu viel Stress in vielen Berufen, an irrsinnigem Tempo, an seelenloser Hektik, und Millionen Leute sind arbeitslos? Arbeitslosigkeit gibt es in Russland praktisch nicht. Jeder kann arbeiten. Zum Beispiel (zusammen mit zwei bis drei Kollegen) im Foyer des Heimatkundemuseums darauf achten, dass niemand mit Tasche die Räume betritt. Als Teil des Teams, dass die Wächter im Einkaufszentrum überwacht, oder als Mitglied der Mannschaft, die die Fahrkartenverkäuferinnen in der Straßenbahn kontrolliert. 40-Stunden-Woche, Gehalt wahrscheinlich umgerechnet 90 Euro monatlich. Einer der acht anderen Großfamilienmitglieder hat einen halbwegs gut bezahlten Job bei einer Bank, zusammen reicht das dann irgendwie. Zumal der Posten „Miete“ entfällt, da die Wohnung natürlich geerbt wurde.
Vielleicht ist es etwas übertrieben, aber so ungefähr stelle ich mir das vor. Es ist schwer, in die Menschen hineinzuschauen. Das akademische Umfeld, in dem ich mich bewege, ist kein Abbild der Durchschnittsgesellschaft.
Manchmal höre ich von der einen oder anderen älteren Kollegin eine gut gemeinte Anspielung auf mein Nicht-Verheiratetsein. Der erste Deutsche, der vor über 10 Jahren hier arbeitete, hat sich eine Studentin zur Frau genommen. Meine Vorgängerin hat einen russischen Mann und zwei Kinder. Dann wäre es doch ganz im Sinne der Tradition, wenn ich nicht auch hier heirate? Viele Burjatinnen sind zweifellos hübsch, aber auch seltsam träge, schüchtern oder phlegmatisch-verschlossen, da nützt auch die Schönheit nichts. Eine interessante Ausnahme bildet meine burjatische Bekannte Mascha. Die kleine, drahtige Geigerin wohnt in Moskau, fährt dort jeden Tag mit zehntausenden von hektischen Hauptstädtern in der U-Bahn von einem Ende der Stadt zum anderen (wobei sie ihre Energie loswird, wie sie sagt) und denkt gar nicht daran, nach Ulan-Ude zurückzukehren. Wahrscheinlich kann sie mit dem Phlegma ihrer Landsleute nichts anfangen – Langsamkeit zu entdecken ist eben nicht jedermanns Sache.