Montag, 30. November 2015

Wladiwostok - Ulan-Ude



Auf der Rückfahrt im Zug von Wladiwostok nach Ulan-Ude gab es ein Ereignis, das mich an einen Vorfall auf der Hinfahrt erinnerte.
Gerade als ich am Einschlummern war, hörte ich von unterhalb ein zischendes und glucksendes Geräusch, als ob jemand eine Flüssigkeit ausgießt, und zwar nicht irgendeine Flüssigkeit, sondern – Bier. Wenige Minuten später tauchten vier Köpfe uniformierter Polizisten neben meiner oben gelegenen Pritsche auf. Woher sie das so schnell mitbekommen hatten?
„Ihren Pass bitte. Im Zug ist der Konsum alkoholischer Getränke nicht gestattet. Dafür wird Ihnen die Weiterfahrt verweigert.“
Oh Gott, nicht schon wieder, dachte ich.
„Und wie komme ich dann nach Hause?“, meinte einer der offensichtlich noch ganz nüchternen Männer, die sich gerade ein Abendbierchen gönnen wollten.
„Es gibt eine einmalige Verwarnung. Beim zweiten Mal fliegen Sie raus. Wo wollen Sie hin? Krasnojarsk? Das ist weit. Die Fahrkarte war teuer.“
„Verstanden“, hörte ich den Mann unterwürfig antworten.
Der Polizist war mit seiner Belehrungsansage noch nicht fertig. Sein Kollege notierte inzwischen die Passdaten. „Im Zug ist der Konsum alkoholischer Getränke nicht gestattet. Sie dürfen nur in speziell dafür vorgesehenen Plätzen eingenommen werden, das heißt, im Restaurantwagen.“
„Im Restaurantwagen, verstanden.“ Dem Mann war offensichtlich viel daran gelegen, mit diesem Zug bis Krasnojarsk zu kommen.
„Und auch dort nur in mäßigen Mengen!“ Noch einmal erhob der Ordnungshüter seine Stimme. „Auch Fahrgästen, die sich im Zustand alkoholischen Rausches befinden, wird die Weiterfahrt verweigert. Richtig besaufen können Sie sich dann nach der Ankunft zuhause.“
„Ja, zuhause. Verstanden.“ Die vier Köpfe neben meiner Pritsche verschwanden.
„Trinken wir weiter?“, hörte ich nach einer Weile ein Flüstern. Neben dem Fenster rauschten in der finsteren Nacht die schattenhaften Umrisse des Taigawaldes vorbei. „Bist du verrückt“, kam eine andere Stimme, „die schmeißen uns wirklich raus“. Eine Weile hörte ich es noch unzufrieden brabbeln, dann kehrte Ruhe ein.
In Chabarowsk hatten wir eine Stunde Aufenthalt, die ich nutzte, um meinen Bekannten Spartak zu treffen. Spartak ist Schweißer von Beruf und hat seit unserem letzten Treffen in Potsdam 2012 in Sankt Petersburg und Weißrussland gearbeitet – am Bau von Kernkraftwerken: einem russischen schwimmenden Kernkraftwerk „Michael Lomonossov“, eine Art Mini-Reaktor auf einem Schiff, der vor der Küste von Tschuchotka zum Einsatz kommen soll, und dem einzigen sich im Bau befindlichen weißrussischen Kernkraftwerk nahe der lettischen Grenze. Kernkraft ist für den jungen Mann die Energie der Zukunft, ökologische Bedenken hält er für herbeigeredet – eine für Russland ganz typische Meinung. „Atomausstieg“ würde hier niemand ernsthaft diskutieren.
Der Fahrplan unseres Zuges, der wie üblich vor der Tür des Zugbegleiters gegenüber dem Heißwasser-Kessel hing, war besonders lang und kleingedruckt: es handelte sich um den durchgehenden Zug von Wladiwostok nach Moskau. 9288 Kilometer in 7 Tagen, mit ungefähr einhundertdreißig Zwischenhalten, wobei sieben Zeitzonen durchquert werden. Ulan-Ude kommt etwa nach dem ersten Drittel der Strecke. Die Wagen waren jene des alten Typs, bei denen sich die Toiletten direkt nach unten auf die Gleise öffnen und deshalb vor jedem längeren Halt abgeschlossen (und erst eine Weile nach Verlassen des Bahnhofes wieder geöffnet) werden (Sanitarnaja zona – „Sanitäre Zone“). Schön ist, dass man tatsächlich noch an den Wagenenden die Fenster öffnen und aus dem fahrenden Zug hinaus fotografieren konnte.
Bei einem fünfzehnminütigen Halt in einer kleinen Siedlung im sibirischen Nirgendwo machte ich ein Foto von einer Frau am Bahnsteig, die bei minus fünfzehn Grad Piroggen und gekochte Eier verkaufte. Als ich mich anschickte, den Zug zu fotografieren, hörte ich die keifende Stimme der Zugbegleiterin aus dem Nachbarwagen.
„Junger Mann, müssen Sie das hier alles aufnehmen? Das ist verboten.“
Ich sah mich verwundert um: außer dem Bahnsteig, einer Brücke über die Gleise und ein paar Häusern vor dem Hintergrund endloser schneebedeckter Hügel gab es keinerlei Objekte, weder mit noch ohne strategische Bedeutung. „Zu Sowjetzeiten war es vielleicht verboten, jetzt nicht mehr“, meinte ich etwas schnippisch.
„Es war verboten, es ist verboten und es wird immer verboten sein“, kam die Antwort. „Ich nehme ihnen gleich den Fotoapparat weg.“ Ich hatte keine Lust auf Diskussion und stieg wieder in den Wagen.
Einen Teil der Fahrt verbrachte ich im Restaurantwagen, um einem unsympathischen Nachbarn auszuweichen, der gegenüber meines Platzes, auf der anderen Seite des Ganges wohnte und mit mir ständig ein Gespräch anknüpfen wollte, worauf ich aber keine Lust hatte. Obwohl ich gut Russisch kann, gibt es immer mal wieder Missverständnisse, die wohl auf meiner nachlässigen Aussprache beruhen. „Ich hätte gern einen Schwarztee und ein Brötchen.“ – „Wodka haben wir nicht.“ Zum Glück ließ sich das schnell klären.
Normalerweise ist es im Winter in russischen Fernzügen ausgesprochen warm. Am letzten Abend unserer zweieinhalbtägigen Fahrt sank die Wagentemperatur auf unter 20 Grad ab. Offensichtlich war die Heizung kaputt. Die Leute hüllten sich in Decken, und ich fragte mich, was uns wohl für eine Nacht bevorsteht. Nach einer Weile stieg die Temperatur wieder – die Zugbegleiterin hatte begonnen, einen sich am Wagenende befindlichen Reserve-Heizkessel mit Kohle zu befüttern, der für den Fall da ist, dass die elektrische Heißwassererhitzung ausfällt.
Mit 70 km/h durch Sibirien
Reiseproviant-Verkauf bei minus fünfzehn Grad
Innen im Zug: Eis an den Fensterrändern
Ein Dorf im Vorbeifahren, mit rauchenden Schornsteinen