Auf der Rückfahrt im Zug von
Wladiwostok nach Ulan-Ude gab es ein Ereignis, das mich an einen Vorfall auf
der Hinfahrt erinnerte.
Gerade als ich am Einschlummern
war, hörte ich von unterhalb ein zischendes und glucksendes Geräusch, als ob
jemand eine Flüssigkeit ausgießt, und zwar nicht irgendeine Flüssigkeit,
sondern – Bier. Wenige Minuten später tauchten vier Köpfe uniformierter
Polizisten neben meiner oben gelegenen Pritsche auf. Woher sie das so schnell
mitbekommen hatten?
„Ihren Pass bitte. Im Zug ist der
Konsum alkoholischer Getränke nicht gestattet. Dafür wird Ihnen die Weiterfahrt
verweigert.“
Oh Gott, nicht schon wieder,
dachte ich.
„Und wie komme ich dann nach
Hause?“, meinte einer der offensichtlich noch ganz nüchternen Männer, die sich
gerade ein Abendbierchen gönnen wollten.
„Es gibt eine einmalige
Verwarnung. Beim zweiten Mal fliegen Sie raus. Wo wollen Sie hin? Krasnojarsk?
Das ist weit. Die Fahrkarte war teuer.“
„Verstanden“, hörte ich den Mann
unterwürfig antworten.
Der Polizist war mit seiner
Belehrungsansage noch nicht fertig. Sein Kollege notierte inzwischen die
Passdaten. „Im Zug ist der Konsum alkoholischer Getränke nicht gestattet. Sie
dürfen nur in speziell dafür vorgesehenen Plätzen eingenommen werden, das
heißt, im Restaurantwagen.“
„Im Restaurantwagen, verstanden.“
Dem Mann war offensichtlich viel daran gelegen, mit diesem Zug bis Krasnojarsk
zu kommen.
„Und auch dort nur in mäßigen
Mengen!“ Noch einmal erhob der Ordnungshüter seine Stimme. „Auch Fahrgästen,
die sich im Zustand alkoholischen Rausches befinden, wird die Weiterfahrt
verweigert. Richtig besaufen können Sie sich dann nach der Ankunft zuhause.“
„Ja, zuhause. Verstanden.“ Die
vier Köpfe neben meiner Pritsche verschwanden.
„Trinken wir weiter?“, hörte ich
nach einer Weile ein Flüstern. Neben dem Fenster rauschten in der finsteren
Nacht die schattenhaften Umrisse des Taigawaldes vorbei. „Bist du verrückt“,
kam eine andere Stimme, „die schmeißen uns wirklich raus“. Eine Weile hörte ich
es noch unzufrieden brabbeln, dann kehrte Ruhe ein.
In Chabarowsk hatten wir eine
Stunde Aufenthalt, die ich nutzte, um meinen Bekannten Spartak zu treffen.
Spartak ist Schweißer von Beruf und hat seit unserem letzten Treffen in Potsdam
2012 in Sankt Petersburg und Weißrussland gearbeitet – am Bau von
Kernkraftwerken: einem russischen schwimmenden Kernkraftwerk „Michael
Lomonossov“, eine Art Mini-Reaktor auf einem Schiff, der vor der Küste von
Tschuchotka zum Einsatz kommen soll, und dem einzigen sich im Bau befindlichen
weißrussischen Kernkraftwerk nahe der lettischen Grenze. Kernkraft ist für den
jungen Mann die Energie der Zukunft, ökologische Bedenken hält er für
herbeigeredet – eine für Russland ganz typische Meinung. „Atomausstieg“ würde
hier niemand ernsthaft diskutieren.
Der Fahrplan unseres Zuges, der
wie üblich vor der Tür des Zugbegleiters gegenüber dem Heißwasser-Kessel hing,
war besonders lang und kleingedruckt: es handelte sich um den durchgehenden Zug
von Wladiwostok nach Moskau. 9288 Kilometer in 7 Tagen, mit ungefähr
einhundertdreißig Zwischenhalten, wobei sieben Zeitzonen durchquert werden.
Ulan-Ude kommt etwa nach dem ersten Drittel der Strecke. Die Wagen waren jene
des alten Typs, bei denen sich die Toiletten direkt nach unten auf die Gleise
öffnen und deshalb vor jedem längeren Halt abgeschlossen (und erst eine Weile
nach Verlassen des Bahnhofes wieder geöffnet) werden (Sanitarnaja zona – „Sanitäre Zone“). Schön ist, dass man
tatsächlich noch an den Wagenenden die Fenster öffnen und aus dem fahrenden Zug
hinaus fotografieren konnte.
Bei einem fünfzehnminütigen Halt
in einer kleinen Siedlung im sibirischen Nirgendwo machte ich ein Foto von
einer Frau am Bahnsteig, die bei minus fünfzehn Grad Piroggen und gekochte Eier
verkaufte. Als ich mich anschickte, den Zug zu fotografieren, hörte ich die
keifende Stimme der Zugbegleiterin aus dem Nachbarwagen.
„Junger Mann, müssen Sie das hier
alles aufnehmen? Das ist verboten.“
Ich sah mich verwundert um: außer
dem Bahnsteig, einer Brücke über die Gleise und ein paar Häusern vor dem
Hintergrund endloser schneebedeckter Hügel gab es keinerlei Objekte, weder mit
noch ohne strategische Bedeutung. „Zu Sowjetzeiten war es vielleicht verboten,
jetzt nicht mehr“, meinte ich etwas schnippisch.
„Es war verboten, es ist verboten
und es wird immer verboten sein“, kam die Antwort. „Ich nehme ihnen gleich den
Fotoapparat weg.“ Ich hatte keine Lust auf Diskussion und stieg wieder in den
Wagen.
Einen Teil der Fahrt verbrachte
ich im Restaurantwagen, um einem unsympathischen Nachbarn auszuweichen, der
gegenüber meines Platzes, auf der anderen Seite des Ganges wohnte und mit mir
ständig ein Gespräch anknüpfen wollte, worauf ich aber keine Lust hatte. Obwohl
ich gut Russisch kann, gibt es immer mal wieder Missverständnisse, die wohl auf
meiner nachlässigen Aussprache beruhen. „Ich hätte gern einen Schwarztee und
ein Brötchen.“ – „Wodka haben wir nicht.“ Zum Glück ließ sich das schnell
klären.
Normalerweise ist es im Winter in
russischen Fernzügen ausgesprochen warm. Am letzten Abend unserer
zweieinhalbtägigen Fahrt sank die Wagentemperatur auf unter 20 Grad ab.
Offensichtlich war die Heizung kaputt. Die Leute hüllten sich in Decken, und
ich fragte mich, was uns wohl für eine Nacht bevorsteht. Nach einer Weile stieg
die Temperatur wieder – die Zugbegleiterin hatte begonnen, einen sich am
Wagenende befindlichen Reserve-Heizkessel mit Kohle zu befüttern, der für den
Fall da ist, dass die elektrische Heißwassererhitzung ausfällt.
Mit 70 km/h durch Sibirien |
Reiseproviant-Verkauf bei minus fünfzehn Grad |
Innen im Zug: Eis an den Fensterrändern |
Ein Dorf im Vorbeifahren, mit rauchenden Schornsteinen |