Samstag, 12. Dezember 2015

Christstollen in Sibirien



Was haben die Worte ART, GIFT, ALSO, GAS, WILL und HELL gemeinsam? Es gibt sie auf Deutsch und auf Englisch, aber ihre Bedeutung in beiden Sprachen ist völlig verschieden. Darauf habe ich meine Studenten des 4. Studienjahres hingewiesen, die Deutsch nur als zweite Fremdsprache studieren. Überhaupt geht der Trend in Russland hin zu Englisch als erster Fremdsprache, und deutsche Didaktiker machen sich schon seit längerer Zeit Gedanken: wie kann man Russen das Deutschlernen erleichtern, die schon Englisch können? Was können sie von dort übernehmen, und was besser nicht? Aus russischer Perspektive sind sich Deutsch und Englisch ziemlich ähnlich: die Bildung der Zeitformen in der Vergangenheit mit Hilfsverb, die Existenz von bestimmten und unbestimmten Artikeln und die Unterscheidung zwischen schwachen und starken Verben gibt es im Russischen nicht. Manchmal übertreiben es die Studenten dann mit der Ähnlichkeit und fragen mich, was für eine „Meinung“ dieses oder jenes Wort hat oder sagen „Mein Bruder bekommt ein Doktor“ (statt „wird Arzt“). Dann frage ich mich, ob Englischkenntnisse bei Deutschlernen wirklich helfen oder nicht eher stören – beides kann wahrscheinlich der Fall sein.

Am Freitag gingen mit einer Feier am Institut die „Tage der deutschen Sprache“ zuende. Im Foyer wurde eine geschmückte Tanne aufgestellt und es fand ein Weihnachtsmarkt statt, auf dem Plätzchen und Glühwein verkauft wurden. Ich steuerte selbstgebackte Plätzchen bei (simple Rundform, mangels Förmchen) und den Christstollen meiner Großeltern (per Paket zugeschickt, original aus dem Erzgebirge) – eine halbe Scheibe für 15 Rubel, der Absatz ging gut, in Russland gibt es nichts Vergleichbares. Das Geld kommt dem Lehrstuhl zugute. Vor dem Verkauf zeigte ich den schweren Stollenlaib meinen Kolleginnen, die beeindruckt an dem dicken Zuckerguss schnupperten. - Als Moderator hatte ich die Aufgabe, gefühlte tausend Urkunden und Preise für die vielen Darbietungen und Wettbewerbe der vergangenen Woche unter die Studenten zu verteilen. Toll, mit welchem Eifer die Studis Loriots „Frühstücksei“ oder den „Sprechenden Hund“ einstudiert und aufgeführt hatten. Bühnendarbietungen, Theater spielen, singen und tanzen – das machen die jungen Leute hier gern und gut. Ein Höhepunkt war der Auftritt meines Chores, der sich aus Platzmangel im Foyer kurzerhand in die Garderobe stellte, „Bruder Jakob“ auf 5 Sprachen, "O Tannenbaum" zweistimmig und „Hejo, spann den Wagen an“, eigentlich ein Herbstlied, aber in Deutschland fühlt sich der Dezember manchmal auch noch an wie Herbst.
Es ist eigenartig, dass es keine richtige Organisations-Routine zu geben scheint auch bei Veranstaltungen, die schon viele Jahre in Folge stattfinden. Irgendwie wird alles zurechtimprovisiert und in letzter Minute fertiggebastelt, als wäre es ganz neu und als gäbe es keine Erfahrungen aus den Vorjahren. Systematisch mal etwas auswerten und dann verbessern? Fehlanzeige. Ganz behutsam und diplomatisch versuche ich, ein paar strukturierende Ideen einzubringen, niemand darf sich übergangen fühlen, es soll kein Stress verbreitet werden. Die Urkunden nicht fünf Minuten vor der Verleihung schreiben, sondern einen Tag vorher, ist zum Beispiel so ein revolutionärer Gedanke. Ich muss mich erst noch auf die russische Nicht-Organisation einstellen, meinte ich zu Carolyn, meiner Kollegin aus Alaska. Ja, aber gewöhn dich nicht zu sehr daran, sagte sie und lachte. Womit sie Recht hat. Sonst komme ich womöglich nach meiner Rückkehr in Deutschland nicht mehr klar.

An unserem Institut gibt es den Studiengang „Journalismus“. Eine Gruppe von Journalistik-Studenten im zweiten Studienjahr lernt dort Deutsch. Um sich ein bisschen in ihrem künftigen Beruf zu üben und einen Artikel für die Uni-Zeitung zu produzieren, machten sie ein Interview mit mir. „Ihr Deutschen seid wirklich ein tolles Volk. Ihr habt zwei Weltkriege verloren und euch nach kurzer Zeit wieder so aufgerappelt, dass ihr besser lebt als die meisten eurer Nachbarn. Wie habt ihr das gemacht? Was ist das Geheimnis eures Erfolges?“ Auf diese Frage wusste ich nicht, was ich antworten sollte. Ich fand sie bemerkenswert, denn sie spiegelt die Haltung vieler Menschen in Russland wieder, die – mehr oder weniger verdeckt – in Begegnungen mit Deutschen eine Rolle spielt, eine Art unterschwellige Bewunderung. Wir Russen haben den Krieg gewonnen, und? Wer lebt heute besser, wir oder ihr? 

Urkundenverleihung zum Abschluss der "Tage der Deutschen Sprache" im Foyer des Instituts
Echter Christstollen aus dem Erzgebirge - leider steht das Schild hier am falschen Kuchen

Chorauftritt mit den Sängern in der Garderobe - im Fenster sieht man die Neujahrestanne auf dem zentralen Platz
Studenten führen den Loriot-Sketch "Der sprechende Hund"auf...
...spielen "Tabu"...
... und singen deutsche Lieder