Mittwoch, 7. Dezember 2016

So sind sie, die Russen!

Gestern Abend kam ich mir sehr deutsch vor. Bei einem Konzert namens „Künstlerischer Abend von Larisa Sanzhieva“ hatte ich meinen ersten Auftritt im Opernhaus. Auf dem Cello habe ich zwei Stücke der bekannten burjatischen Komponistin gespielt, sie selbst hat mich dabei am Klavier begleitet. Eine große Ehre für mich! Die ganze Zeit über hatte ich aber auch das Gefühl: nein, Russland ist nicht mein Land, in Deutschland wäre das unmöglich! Und in meinem Kopf formulierten sich vier Thesen über die Russen, ziemlich platte und provokante freilich, aber ihre gedankliche Verfertigung erleichterte mir am gestrigen Abend, meinem großen Moment im Opernhaus!, ein wenig das Dasein:

1. Russen sind unpünktlich und kennen kein Maß. Der Beginn des Konzertes im Opernhaus war für 18 Uhr angesetzt. Um 18:15 Uhr ging es los, weil man noch auf das Eintreffen des burjatischen Kulturministers wartete. Der erste Teil bis zur Pause ging geschlagene zwei Stunden – aber nicht etwa, weil es sich um ein Gesamtkunstwerk à la Wagner handelte, das diese Zeit erfordern würde. 23 einzelne Stücke in verschiedensten Besetzungen wurden dargeboten, unterbrochen von Glückwunschansprachen, Dankesreden und Blumenüberreichungen. Nach der Pause ging es in diesem Stil weiter, allerdings war ich da längst zu Hause.

2. Russen haben kein Gefühl für die Vereinbarkeit von Stilrichtungen und kennen die Grenze zwischen Kunst und Kitsch nicht. Klassik, Volksmusik, Pop, alles wird bunt durcheinandergemischt, anspruchsvolle Klänge neben billigstes Gedudel gnadenlos nebeneinandergestellt. Larissa ist eine sehr produktive Komponistin und scheint in allen Genres tätig zu sein. Ebenso fehlt ein Gefühl für den Wert echter Musik: Hier authentisches Musizieren, und im nächsten Augenblick schon die Konserve bis zum Anschlag aufgedreht. Ähnliche Geschmacklosigkeiten finden sich bei der Innenausstattung von Wohnungen (Ziegel-Imitate an den Wänden) oder in der Architektur (kitschige Pseudoschlösschen neben historische Holzbauten).

3. Russen können nicht organisieren. Nachdem ich mit Larisa das Opernhaus durch den Hintereingang betreten hatte, legte die sonst so sanfte Frau sich mit den Pförtnern an, weil es gerade nicht möglich war, ein freies Einspielzimmer zu bekommen. Ich habe hier einen Gast aus Deutschland, das ist doch peinlich, hörte ich sie wettern. Kurz vor meinem Auftritt stellte sich heraus, dass es niemanden gab, der mir einen Stuhl auf die Bühne stellt. Ich kann das Podium ja schließlich nicht mit Cello, Notenständer und Stuhl gleichzeitig betreten! Ob ich nicht irgendeinen Studenten finden könne, der das für mich macht, meinte die Komponistin ratlos. Wann überhaupt wer probt, war ein zufälliges Chaos, eine endgültige Reihenfolge der Stücke gab es erst am Konzerttag. Erstaunlich ist allerdings: Am Ende klappt es dann doch meistens irgendwie.

4. Russen lieben effektvolles, bombastisches Inszenieren und große, blumige Worte, wirkliche Qualität spielt keine Rolle. Auf einer russischen Bühne glänzt und glitzert es, wer auftritt, ist superschick angezogen, es geht laut und wortgewaltig zu. Unsere beiden Stücke hatten wir im Vorfeld eigentlich nicht geprobt, sondern nur ein paar Mal durchgespielt – es läuft so einigermaßen, das genügt! Entscheidend ist, dass auf dem Plakat hinter meinem Namen steht „aus Deutschland“, und dass ich eine schicke Fliege trage auf der Bühne. Musikalische Qualität scheint weder für den Veranstalter noch für das Publikum ein Kriterium zu sein.

Aus dem Munde eines Russen, den es nach Deutschland verschlagen hat, würde es vielleicht so klingen: Deutsche sind zeitlich unflexibel und haben keine Ausdauer, können Ernst und Unterhaltung nicht verbinden, sind unfähig zum Improvisieren und kleinkariert, vermögen ihre Emotionen nicht auszudrücken und haben keinen Sinn für große Wirkungen. Aber ich bin Deutscher, und, ich muss es gestehen: gestern Abend war ein Moment, da kam ich mir meinen Mitmenschen als solcher irgendwie überlegen vor.