Gestern Abend kam ich mir sehr deutsch vor. Bei einem
Konzert namens „Künstlerischer Abend von Larisa Sanzhieva“ hatte ich meinen
ersten Auftritt im Opernhaus. Auf dem Cello habe ich zwei Stücke der bekannten
burjatischen Komponistin gespielt, sie selbst hat mich dabei am Klavier
begleitet. Eine große Ehre für mich! Die ganze Zeit über hatte ich aber auch das
Gefühl: nein, Russland ist nicht mein Land, in Deutschland wäre das unmöglich!
Und in meinem Kopf formulierten sich vier Thesen über die Russen, ziemlich platte und provokante freilich, aber ihre gedankliche
Verfertigung erleichterte mir am gestrigen Abend, meinem großen Moment im Opernhaus!,
ein wenig das Dasein:
1. Russen sind
unpünktlich und kennen kein Maß. Der Beginn des Konzertes im Opernhaus war
für 18 Uhr angesetzt. Um 18:15 Uhr ging es los, weil man noch auf das Eintreffen
des burjatischen Kulturministers wartete. Der erste Teil bis zur Pause ging
geschlagene zwei Stunden – aber nicht etwa, weil es sich um ein Gesamtkunstwerk
à la Wagner handelte, das diese Zeit erfordern würde. 23 einzelne Stücke in
verschiedensten Besetzungen wurden dargeboten, unterbrochen von
Glückwunschansprachen, Dankesreden und Blumenüberreichungen. Nach der Pause
ging es in diesem Stil weiter, allerdings war ich da längst zu Hause.
2. Russen haben kein
Gefühl für die Vereinbarkeit von Stilrichtungen und kennen die Grenze zwischen
Kunst und Kitsch nicht. Klassik, Volksmusik, Pop, alles wird bunt
durcheinandergemischt, anspruchsvolle Klänge neben billigstes Gedudel gnadenlos
nebeneinandergestellt. Larissa ist eine sehr produktive Komponistin und scheint
in allen Genres tätig zu sein. Ebenso fehlt ein Gefühl für den Wert echter
Musik: Hier authentisches Musizieren, und im nächsten Augenblick schon die
Konserve bis zum Anschlag aufgedreht. Ähnliche Geschmacklosigkeiten finden sich
bei der Innenausstattung von Wohnungen (Ziegel-Imitate an den Wänden) oder in
der Architektur (kitschige Pseudoschlösschen neben historische Holzbauten).
3. Russen können nicht
organisieren. Nachdem ich mit Larisa das Opernhaus durch den Hintereingang
betreten hatte, legte die sonst so sanfte Frau sich mit den Pförtnern an, weil
es gerade nicht möglich war, ein freies Einspielzimmer zu bekommen. Ich habe
hier einen Gast aus Deutschland, das ist doch peinlich, hörte ich sie wettern.
Kurz vor meinem Auftritt stellte sich heraus, dass es niemanden gab, der mir
einen Stuhl auf die Bühne stellt. Ich kann das Podium ja schließlich nicht mit
Cello, Notenständer und Stuhl gleichzeitig betreten! Ob ich nicht irgendeinen
Studenten finden könne, der das für mich macht, meinte die Komponistin ratlos.
Wann überhaupt wer probt, war ein zufälliges Chaos, eine endgültige Reihenfolge
der Stücke gab es erst am Konzerttag. Erstaunlich ist allerdings: Am Ende
klappt es dann doch meistens irgendwie.
4. Russen lieben effektvolles,
bombastisches Inszenieren und große, blumige Worte, wirkliche Qualität spielt keine
Rolle. Auf einer russischen Bühne glänzt und glitzert es, wer auftritt, ist
superschick angezogen, es geht laut und wortgewaltig zu. Unsere beiden Stücke
hatten wir im Vorfeld eigentlich nicht geprobt, sondern nur ein paar Mal
durchgespielt – es läuft so einigermaßen, das genügt! Entscheidend ist, dass
auf dem Plakat hinter meinem Namen steht „aus Deutschland“, und dass ich eine
schicke Fliege trage auf der Bühne. Musikalische Qualität scheint weder für den
Veranstalter noch für das Publikum ein Kriterium zu sein.
Aus dem Munde eines Russen, den es nach Deutschland
verschlagen hat, würde es vielleicht so klingen: Deutsche sind zeitlich unflexibel und haben keine Ausdauer, können
Ernst und Unterhaltung nicht verbinden, sind unfähig zum Improvisieren und
kleinkariert, vermögen ihre Emotionen nicht auszudrücken und haben keinen Sinn
für große Wirkungen. Aber ich bin Deutscher, und, ich muss es gestehen:
gestern Abend war ein Moment, da kam ich mir meinen Mitmenschen als solcher
irgendwie überlegen vor.