23. Dezember: Als ein Großteil der russischen Bevölkerung
vor dem Fernseher die jährliche große Pressekonferenz verfolgt, auf der
Präsident Putin mehrere Stunden lang die Fragen von Journalisten aus aller Welt
beantwortet, gebe ich mit Pianistin Nina ein Konzert bei uns am Institut.
Fauré, Schubert und Grieg, vierzig Minuten lang, man darf die Leute nicht mit
zu viel klassischer Life-Musik überfordern. Artiger Applaus der etwa 20
anwesenden Studenten und Dozenten.
24. Dezember: Deutschland steht auf und bereitet sich auf
den wichtigsten Abend des Jahres vor. In Ulan-Ude ist es schon Nachmittag, Nina
und ich wiederholen unser Konzertprogramm, diesmal in der Wohnung von Tatjana
Stepanovna, einer aristokratischen alten Dame, welterfahren (in diesem Jahr ist
sie zum Tangotanzen nach Argentinien geflogen) und vornehm; sie versieht jedes
unserer Stücke mit einer kleinen musikhistorischen Einleitung und erinnert das
Publikum an die Tradition der Petersburger Musikalischen Salons. Ein paar gute
Freunde sind eingeladen, nach einer Teepause werden wir gebeten, den ersten
Satz der Grieg-Sonate zu wiederholen.
25. Dezember: Die Geschenke sind ausgepackt, die
Weihnachtsgans verdaut. Mitternacht im weihnachtlichen Deutschland heißt
Morgendämmerung in Sibirien – Niso und ich stehen an der Registrierungsschlange
am Flughafen. Flug S7-116 wird uns in sechseinhalb Stunden nach Moskau bringen,
für meine Freundin der erste Besuch in der russischen Hauptstadt und die erste
Flugreise seit ihrer Kindheit überhaupt. -
In der russischen Presse stehen viele Merkwürdigkeiten
über Deutschland. „Die Idee, die DDR wieder zurückzuholen, gewinnt an
Bedeutung“, war vor einiger Zeit in der Argumenty
nedely zu lesen, als ob man so etwas tatsächlich diskutieren würde. Nicht
weniger Seltsames schreiben deutsche Zeitungen über Russland. Beim Aufräumen
fiel mir ein Stapel von Artikeln aus der ZEIT in die Hände, die ich in diesem
Jahr gelesen und aufgehoben hatte. Mögliche Wahlfälschungen bei den Dumawahlen
werden beschrieben, die dann am Wahltag überhaupt nicht stattfinden; ein
erfolgloser oppositioneller Abgeordneter wird auf der Suche nach Wählerstimmen
begleitet ( „Hinter Putins Fassaden“, 15.9.). Die Moskauer Korrespondentin
sucht „authentische Oppositionelle“ und ist traurig darüber, dass die
„Opposition nicht opponiert“. Es kann doch nicht sein, dass eine überwiegende
Mehrheit im Volk eine Partei und einen starken Präsidenten unterstützt! („Warum
wird Putin so geliebt?“, 1.9.) Man bemitleidet ein Meinungsforschungsinstitut,
das aufgrund einer neuen Gesetzgebung nun dazu gezwungen ist, öffentlich
anzuzeigen, dass es mit ausländischen Geldern arbeitet ( „Der ausländische
Agent“, 27.10.). In einem dreiseitigen Dossier werden mit Bewunderung und
offensichtlicher Anteilnahme die Aktionen eines Geistesgestörten geschildert,
der sich mit seinen Hoden (!) an den Roten Platz nagelt, um gegen
vermeintlichen „Staatsterror“ zu protestieren
(„Dieser Mann will ins Gefängnis“, 9.6.), was mich an die Diskussion um Pussy Riot erinnert: Leute, die im
öffentlichen Raum Schwachsinn veranstalten und dafür zur Verantwortung gezogen
werden, feiert die deutsche Presse und erhebt sie geradezu zu Helden gegen das
autoritäre „System Putin“. Warum? Es gibt viel spannendere Dinge, die man über
das größte Land der Erde schreiben könnte, als dort immer nur die eigenen westlichen
Werte zu suchen und sie nicht zu finden.
Auftritt mit Pianistin Nina an meinem Institut (oben) und in einer Prvatwohnung in der Art eines "Musikalischen Salons" (unten) |