Montag, 26. Dezember 2016

Auf nach Westen

23. Dezember: Als ein Großteil der russischen Bevölkerung vor dem Fernseher die jährliche große Pressekonferenz verfolgt, auf der Präsident Putin mehrere Stunden lang die Fragen von Journalisten aus aller Welt beantwortet, gebe ich mit Pianistin Nina ein Konzert bei uns am Institut. Fauré, Schubert und Grieg, vierzig Minuten lang, man darf die Leute nicht mit zu viel klassischer Life-Musik überfordern. Artiger Applaus der etwa 20 anwesenden Studenten und Dozenten.

24. Dezember: Deutschland steht auf und bereitet sich auf den wichtigsten Abend des Jahres vor. In Ulan-Ude ist es schon Nachmittag, Nina und ich wiederholen unser Konzertprogramm, diesmal in der Wohnung von Tatjana Stepanovna, einer aristokratischen alten Dame, welterfahren (in diesem Jahr ist sie zum Tangotanzen nach Argentinien geflogen) und vornehm; sie versieht jedes unserer Stücke mit einer kleinen musikhistorischen Einleitung und erinnert das Publikum an die Tradition der Petersburger Musikalischen Salons. Ein paar gute Freunde sind eingeladen, nach einer Teepause werden wir gebeten, den ersten Satz der Grieg-Sonate zu wiederholen. 

25. Dezember: Die Geschenke sind ausgepackt, die Weihnachtsgans verdaut. Mitternacht im weihnachtlichen Deutschland heißt Morgendämmerung in Sibirien – Niso und ich stehen an der Registrierungsschlange am Flughafen. Flug S7-116 wird uns in sechseinhalb Stunden nach Moskau bringen, für meine Freundin der erste Besuch in der russischen Hauptstadt und die erste Flugreise seit ihrer Kindheit überhaupt. -

In der russischen Presse stehen viele Merkwürdigkeiten über Deutschland. „Die Idee, die DDR wieder zurückzuholen, gewinnt an Bedeutung“, war vor einiger Zeit in der Argumenty nedely zu lesen, als ob man so etwas tatsächlich diskutieren würde. Nicht weniger Seltsames schreiben deutsche Zeitungen über Russland. Beim Aufräumen fiel mir ein Stapel von Artikeln aus der ZEIT in die Hände, die ich in diesem Jahr gelesen und aufgehoben hatte. Mögliche Wahlfälschungen bei den Dumawahlen werden beschrieben, die dann am Wahltag überhaupt nicht stattfinden; ein erfolgloser oppositioneller Abgeordneter wird auf der Suche nach Wählerstimmen begleitet ( „Hinter Putins Fassaden“, 15.9.). Die Moskauer Korrespondentin sucht „authentische Oppositionelle“ und ist traurig darüber, dass die „Opposition nicht opponiert“. Es kann doch nicht sein, dass eine überwiegende Mehrheit im Volk eine Partei und einen starken Präsidenten unterstützt! („Warum wird Putin so geliebt?“, 1.9.) Man bemitleidet ein Meinungsforschungsinstitut, das aufgrund einer neuen Gesetzgebung nun dazu gezwungen ist, öffentlich anzuzeigen, dass es mit ausländischen Geldern arbeitet ( „Der ausländische Agent“, 27.10.). In einem dreiseitigen Dossier werden mit Bewunderung und offensichtlicher Anteilnahme die Aktionen eines Geistesgestörten geschildert, der sich mit seinen Hoden (!) an den Roten Platz nagelt, um gegen vermeintlichen „Staatsterror“ zu protestieren  („Dieser Mann will ins Gefängnis“, 9.6.), was mich an die Diskussion um Pussy Riot erinnert: Leute, die im öffentlichen Raum Schwachsinn veranstalten und dafür zur Verantwortung gezogen werden, feiert die deutsche Presse und erhebt sie geradezu zu Helden gegen das autoritäre „System Putin“. Warum? Es gibt viel spannendere Dinge, die man über das größte Land der Erde schreiben könnte, als dort immer nur die eigenen westlichen Werte zu suchen und sie nicht zu finden.  

Auftritt mit Pianistin Nina an meinem Institut (oben) und in einer Prvatwohnung in der Art eines "Musikalischen Salons" (unten)
Eisblumen vor meinem Bürofenster, auf der andern Straßenseite die Hauptpost, die ich in der letzten Zeit öfters traurig mit leeren Händen verließ, vergeblich nach Mutters Paket aus Deutschland fragend