Donnerstag, 29. Dezember 2016

Moskau





27. Dezember: Staatstrauer in Russland, die Flaggen sind auf Halbmast gehängt. Über dem Schwarzen Meer ist ein Flugzeug abgestürzt mit fast hundert Menschen an Bord, Mitglieder des wichtigsten russischen Armee-Musikensembles. Meine Mutter und Schwester kommen erst am Abend in Moskau an, mit einem Tag Verspätung. Die Annullierung des Aeroflot-Fluges Dresden-Sheremetjevo am Vortag könnte mit der Katastrophe in einem Zusammenhang stehen. Niso und ich treffen in Moskau Mascha, die den Dirigenten des Ensembles kannte und bei ihm ein Probespiel hatte. Wir begleiten sie zum Blumenablegen vor dem Probensaal. Ein Meer von roten Rosen und Nelken, eine betroffene, schweigende Menschenmenge, das Fernsehen.

Mit Niso, die aus dem Staunen nicht mehr herauskommt, spaziere ich um den Kreml. Vor dem Aleksandrowskij-Garten ist ein neues, gigantisches Denkmal aufgetaucht: der bronzene Fürst Wladimir mit einem riesigen Kreuz in der Hand erinnert an die Annahme des Christentums in der Kiewer Rus im Jahre 998. Wie üblich studiere ich fasziniert den neuen Metro-Plan. Eine neue (freilich oberirdische) Ringlinie ist fertiggestellt, weit außerhalb der bisherigen Ringlinie verlaufend. Die Stationen werden auch auf Englisch angesagt. Einige U-Bahn-Züge sind bunt beklebt mit Gesichtern von Leuten, die an der Aktion „Aktiver Bürger“ teilgenommen haben. Es gibt AIDS-Aufklärungsplakate, Lautsprecheransagen fordern dazu auf, Leuten zu helfen, denen „die Benutzung der Metro Schwierigkeiten bereitet“. Offiziell zugelassene Musiker in der Station Kurskaja, die auf einem roten Teppich spielen. Touristeninformationsstände. Kostenloses W-LAN in der U-Bahn. Der Aeroport Zhukovo, ein vierter Flughafen, wurde eröffnet. Das Modernisierungstempo ist atemberaubend, es ist ein anderes Moskau als das, das ich auf meiner ersten Russlandreise vor über 10 Jahren kennenlernte.

Schneematsch liegt auf den Straßen, die Temperaturen sind um die null Grad. Mutter und Schwester fragen sich, wozu sie ihre wärmste Kleidung mitgebracht haben, die einzupacken ich ihnen geraten hatte. Zu viert fahren wir zur Christus-Erlöser-Kirche, dem zentralen orthodoxen Sakralbau mit einer riesigen goldenen Kuppel, und laufen von dort zur Tretjakov-Galerie, wo wir fünf Stunden verbringen und doch nur weniger als die Hälfte aller Bilder besichtigen: Kramskojs Unbekannte und Christus in der Wüste, Shiskins fotografisch genaue Naturbilder (allen voran das mit den vier Bären), Lewitans lichtdurchflutete Flusslandschaften, Vereshagins Schlachtenbilder aus der orientalischen Wüste, Aiwasovskijs Meeresgemälde, Iwan der Schreckliche mit seinem von ihm erschlagenen Sohn von Repin, das weltberühmte Dostojewskij-Porträt von Perow.

Am nächsten Tag besteigen wir den Sapsan, der uns von Moskau nach Sankt Petersburg bringt. Der Sapsan, benannt nach der am schnellsten fliegenden Falkenart, ist der russische ICE: gebaut von Siemens, Höchstgeschwindigkeit 250 km/h. Im Unterschied zur Deutschen Bahn werden die auf den Namen ausgestellten Zugtickets und die Pässe vor dem Einsteigen kontrolliert, wie bei russischen Fernzügen immer üblich. Die Strecke zwischen den beiden größten russischen Städten kostet 2000 Rubel (30 Euro) und wird in 4 Stunden zurückgelegt, mit zwei Zwischenhalten von einer Minute Dauer, vor denen die Passagiere aufgefordert werden, nicht auszusteigen, wenn sie noch nicht am Ziel sind.