27. Dezember: Staatstrauer in
Russland, die Flaggen sind auf Halbmast gehängt. Über dem Schwarzen Meer ist
ein Flugzeug abgestürzt mit fast hundert Menschen an Bord, Mitglieder des
wichtigsten russischen Armee-Musikensembles. Meine Mutter und Schwester kommen
erst am Abend in Moskau an, mit einem Tag Verspätung. Die Annullierung des
Aeroflot-Fluges Dresden-Sheremetjevo am Vortag könnte mit der Katastrophe in
einem Zusammenhang stehen. Niso und ich treffen in Moskau Mascha, die den
Dirigenten des Ensembles kannte und bei ihm ein Probespiel hatte. Wir begleiten
sie zum Blumenablegen vor dem Probensaal. Ein Meer von roten Rosen und Nelken,
eine betroffene, schweigende Menschenmenge, das Fernsehen.
Mit Niso, die aus dem Staunen
nicht mehr herauskommt, spaziere ich um den Kreml. Vor dem
Aleksandrowskij-Garten ist ein neues, gigantisches Denkmal aufgetaucht: der
bronzene Fürst Wladimir mit einem riesigen Kreuz in der Hand erinnert an die
Annahme des Christentums in der Kiewer Rus im Jahre 998. Wie üblich studiere
ich fasziniert den neuen Metro-Plan. Eine neue (freilich oberirdische)
Ringlinie ist fertiggestellt, weit außerhalb der bisherigen Ringlinie
verlaufend. Die Stationen werden auch auf Englisch angesagt. Einige U-Bahn-Züge
sind bunt beklebt mit Gesichtern von Leuten, die an der Aktion „Aktiver Bürger“
teilgenommen haben. Es gibt AIDS-Aufklärungsplakate, Lautsprecheransagen
fordern dazu auf, Leuten zu helfen, denen „die Benutzung der Metro
Schwierigkeiten bereitet“. Offiziell zugelassene Musiker in der Station Kurskaja, die auf einem roten Teppich
spielen. Touristeninformationsstände. Kostenloses W-LAN in der U-Bahn. Der Aeroport Zhukovo, ein vierter Flughafen,
wurde eröffnet. Das Modernisierungstempo ist atemberaubend, es ist ein anderes
Moskau als das, das ich auf meiner ersten Russlandreise vor über 10 Jahren
kennenlernte.
Schneematsch liegt auf den
Straßen, die Temperaturen sind um die null Grad. Mutter und Schwester fragen
sich, wozu sie ihre wärmste Kleidung mitgebracht haben, die einzupacken ich
ihnen geraten hatte. Zu viert fahren wir zur Christus-Erlöser-Kirche, dem
zentralen orthodoxen Sakralbau mit einer riesigen goldenen Kuppel, und laufen
von dort zur Tretjakov-Galerie, wo wir fünf Stunden verbringen und doch nur
weniger als die Hälfte aller Bilder besichtigen: Kramskojs Unbekannte und Christus in
der Wüste, Shiskins fotografisch genaue Naturbilder (allen voran das mit
den vier Bären), Lewitans lichtdurchflutete Flusslandschaften, Vereshagins
Schlachtenbilder aus der orientalischen Wüste, Aiwasovskijs Meeresgemälde, Iwan
der Schreckliche mit seinem von ihm erschlagenen Sohn von Repin, das
weltberühmte Dostojewskij-Porträt von Perow.
Am nächsten Tag besteigen wir den
Sapsan, der uns von Moskau nach Sankt
Petersburg bringt. Der Sapsan, benannt nach der am schnellsten fliegenden
Falkenart, ist der russische ICE: gebaut von Siemens, Höchstgeschwindigkeit 250
km/h. Im Unterschied zur Deutschen Bahn werden die auf den Namen ausgestellten
Zugtickets und die Pässe vor dem Einsteigen kontrolliert, wie bei russischen
Fernzügen immer üblich. Die Strecke zwischen den beiden größten russischen
Städten kostet 2000 Rubel (30 Euro) und wird in 4 Stunden zurückgelegt, mit
zwei Zwischenhalten von einer Minute Dauer, vor denen die Passagiere
aufgefordert werden, nicht auszusteigen, wenn sie noch nicht am Ziel sind.