Samstag, 4. Juni 2016

Tanchoi

Es gibt sicherlich viele Russen, die kenne Deutschland besser als ich. Ich erinnere mich an meinen Mitbewohner Jury, der stolz mit blauen Punkten auf einer großen Deutschland-Karte an der Wand vermerkt hatte, wo er überall schon war. Umgekehrt habe ich bereits mehr Städte in Russland bereist als die meisten Leute hier. In wenigen Tagen werde ich die Seite in meinem Kalender öffnen, wo alle russischen Städte vermerkt sind, in denen ich mit mindestens einer Übernachtung verweilt habe. Dann werde ich der Liste einen Eintrag hinzufügen:

33. Tomsk

Im Moment fühle ich mich sehr müde und abgespannt. Es ist, wie als habe ich in den letzten Monaten über meine Energiereserven hinaus gelebt und sich dadurch eine große, tief liegende Erschöpftheit angesammelt, die jetzt, am Ende des Lehrjahres, langsam an die Oberfläche kommt. Ein letzter kleiner Auftritt mit dem Chor im Foyer unseres Institutes liegt hinter mir, anlässlich dessen meine Kollegin Natalia auch die Studierendenzeitung präsentiert hat, die sie gemeinsam mit den Studenten erstellt hat und auf die sie zu recht stolz sein kann. Doch zum Ausruhen ist es für mich noch etwas zu früh. Eine weitere Dienstreise ruft mich, von mir werden Vorträge erwartet und ein Chor-Workshop mit deutschen Liedern. Ich nähere mich dem Ziel in mehreren Etappen: Da es keine Direktflüge von Ulan-Ude nach Tomsk gibt, fahre ich zunächst an der Küste des Baikal entlang nach Irkutsk. Nach vier Stunden Zugreise, scheinbar im Nirgendwo zwischen Wasser und Taiga, steige ich aus und lege einen Zwischenstopp ein, in der kleinen Siedlung Tanchói.

In Tanchoi, einem 1000-Seelen-Ort, erwartet mich frische, feuchte Luft, Nieselregen und viel sattes Grün – es ist eine der regenreichsten Gegenden am Baikalsee. Hinter den Reihen der schön angestrichenen, teilweise etwas verfallenen Holzhäuser erahne ich im Nebel die Bergen des Chamar-Daban-Gebirges. Am Strand sammle ich wunderschöne, farbige, rund geschliffene Steine, in der Taiga laufe ich einen nach europäischem Vorbild perfekt ausgebauten Öko-Trail entlang, vorbei an Sibirischen Zedern und Mooren. Ich bin Übernachtungsgast bei Aljona, einer jungen Biologin, die in der Schule des Ortes Ökologie unterrichtet und mit ihrer Schildkröte und zwei Katzen in einer gemütlichen 1-Zimmer-Wohnung neben der Schutzgebiets-Verwaltung wohnt. Die Schule wird von der russischen Eisenbahn betrieben und bereitet die Schüler mit einer technischen Spezialisierung auf eine berufliche Laufbahn bei der rossijskaya zheleznaya doroga vor. Die Geschichte Tanchois ist eng mit der Transsibirischen Eisenbahn verbunden, vor ihrem Bau Anfang des 20. Jahrhunderts gab es hier nichts außer vielleicht ein paar Bären.

Viel Zeit habe ich leider nicht – schon am nächsten Morgen stehe ich mit Rucksack und kleinem Reisekoffer an der Straße M-55, die von Ulan-Ude kommt und nach Irkutsk weiterführt. Gedanklich erwähle ich Tanchoi als den Ort aus, an dem ich meiner Mutter und Schwester das Baikal-Ufer zeigen möchte, wenn sie mich in einem Monat besuchen kommen. Etwa 20 Sekunden stehe ich an der Straße und halte die Hand heraus, dann hält ein Kleintransporter an und nimmt mich mit – manchmal kann es beim Trampen auch richtig schnell gehen.

"Es tönen die Lieder", "Signor abbate", "Heut kommt der Hans nach Haus": Letzter Auftritt meines Chores in diesem Studienjahr
Tanchoi: Ein rollstuhlgerecht ausgebauter Öko-Lehrpfad durch die sumpfige Taiga
Leckere Pinienkerne kann man von der Sibirischen Zeder ernten, die - im Unterschied zu anderen Kiefernarten - fünf Nadeln in einem Bündel zusammen hat, nicht zwei
Schöne Holzhäusschen in Tanchoi, im Nebel dahinter die Berge des Chamar-Daban-Gebirges
Das Baikalufer in Tanchoi, einer der regelreichsten Orte am See