Sonntag, 26. Juni 2016

Ende des Studienjahres



Der Sommer in Ulan-Ude: heiß, oft schwül, gelegentlich weht warmer Wind. Es ist ruhig und leer geworden in den Gängen meines Institutes. Die Prüfungszeit (séssia) für die Studenten ist vorbei, Bachelor- und Masterarbeiten sind verteidigt (ein Prozedere, das mir im Studium erspart blieb), und die zweieinhalbmonatige Sommerpause hat begonnen. Die Sommerferien der Schüler dauert sogar drei Monate. Erst am 1. September, dem „Tag des Wissens“, geht das Lernen an Schulen und Universitäten weiter. 

Vor einiger Zeit hatte ich zwei bemerkenswerte Übernachtungsgäste, Sascha und Ljoscha, die, aus Richtung Altai kommend, unterwegs in die Mongolei waren. Sie planten eine Durchquerung der Wüste Gobi zu Fuß, sechshundert Kilometer, ein kleines Wägelchen mit bis zu 15 Litern Wasservorräten hinter sich herziehend. Sascha, ein paar Jahre jünger als ich, mit strubbeligem Bart und Halbglatze, kennt sein Land in- und auswendig und musste sich sehr anstrengen, mir die 5 der 86 Regionen Russlands aufzuzählen, in denen er noch nicht war. Er schreibt Bücher und Berichte: über das Reisen mit Minimalgepäck und mit kleinen Kindern – Respekt. Manchmal denke ich, dass ich viel von Russland gesehen habe – aber das ist sehr relativ.

Bis vor Kurzem war ich der Meinung, alle Deutschen zu kennen, die außer mir in Ulan-Ude dauerhaft leben, nämlich genau drei: meine mit einem Russen verheiratete Amts-Vorgängerin, außerdem Deutschlehrerin Sabine an Schule Nummer Eins und ihr Mann Christian, von Beruf Förster, der mit seinem Jeep durch die burjatischen Wälder fährt, Vögel bestimmt und Nationalpark-Ranger auch schon mal auf einer illegalen Jagd begleitet. Nun habe ich tatsächlich noch jemanden aufgespürt: Missionarin Eva, die seit fünf Jahren in der Stadt in einer evangelischen Kirchengemeinde tätig ist und davor 16 Jahre lang in der Mongolei wohnte. Eine aufgeräumte, sprachbegabte Dame, die mongolisch und russisch spricht und mich mit einem großen Teller liebevoll angerichteter belegter Brote bewirtete – seit Langem mal wieder ein typisch deutsches Abendbrot. Die Mongolen sind ein viel offeneres Volk als die Burjaten und Russen, findet sie, und wir spekulierten darüber, ob das mit den politischen Verfolgungen in der Sowjetunion zusammenhängt und überhaupt, wie das Verhältnis zwischen Burjaten und Russen in der Geschichte war: haben die russischen Kosaken im 17. Jahrhundert das Land am Baikalsee blutig erobert? Oder war es eher ein friedlicher Anschluss? 

Die Gelegenheit, im Gespräch mit einer Missionarin zu sein, nutzte ich für eine Frage, die mich schon länger bewegt: worin besteht der wesenhafte Unterschied des Christentums zu anderen Religionen? Interreligiöser Dialog ist heute in Deutschland modern, das Herausstellen von Gemeinsamkeiten, wir alle streben nach dem guten Leben, glauben an einen Gott und so weiter. Aber abgesehen von den vielen sich unterscheidenden Begriffen und Geschichten – was im Kern lehrt das Christentum, was andere nicht haben? Nicht töten und dem Nächsten helfen wollen wohl fast alle, aber gibt es christliche Werte, die sich nicht aus anderen religiösen Vorstellungen ableiten lassen? Eva antwortete etwa folgendermaßen: Der christliche Gott ist in Gestalt von Jesus auf die Erde gekommen, und die Menschen müssen ihn nur in ihr Herz aufnehmen, damit er wirken kann. In anderen Religionen ist Gott – sofern es ihn überhaupt als persönlichen Gott gibt – weit weg und man muss sich anstrengen, Regeln beachten und so fort, um zu ihm zu gelangen. – Ganz befriedigt mich die Antwort nicht, aber ich werde darüber nachdenken. 

Das Studienjahr ist zu Ende, also bleibt mehr Zeit für andere Dinge, zum Beispiel für einen Gang ins Büro der „321. Sibirischen Division“, zu den Machern des Kriegsfilmes, dessen Drehbuch ich nun endlich fertig vom Russischen ins Deutsche übersetzt habe: grausames Schlachtgetümmel bei Stalingrad, irgendwo zwischendrin eine bescheidene Handlung. Vier coole, junge Schauspieler, frisch eingeflogen aus Berlin und als Wehrmachtsoffiziere vorgesehen, begrüßten mich per Handschlag. „Und, was für eine Rolle spielst du?“ Erstmal keine, meinte ich, ich dolmetsche jetzt eine Runde für euch… Es gab in der Tat einiges zu klären, wofür das rudimentäre Englisch des Regisseurs nicht ganz ausreichte: die Gage war nicht abgesprochen, die Dreharbeiten würden mit zwei Wochen Verspätung beginnen, in denen die Schauspieler nun hier herumsitzen sollten, weshalb sie auf einer Monatspauschale statt Bezahlung nach Drehtagen beharrten, und so weiter. „Seid ihr zum ersten Mal in Russland?“ - Kopfnicken als Antwort. - „Na, dann macht euch noch auf einiges gefasst! Die drei wichtigsten Dinge zum Wohlfühlen in Russland: Geduld, Spontanität und Improvisationsvermögen!“

Zum ersten Mal in Russland sein werden auch meine Mutter und Schwester, die mich in der nächsten Wochen besuchen kommen. Vor einigen Jahren waren sie in Schweden und fanden es dort ziemlich öde, alles aufgeräumt und höflich, aber irgendwie tot. Schwedische Langeweile wird es hier nicht geben – Sibirien ist weder aufgeräumt noch höflich, aber dafür hochlebendig, unberechenbar und warmherzig. Meine Schwester fragte, ob die Steckdosen auch die gleiche Norm wie in Deutschland haben? Das sind sie, die Sorgen der heutigen Jugend: Smartphone und Laptop aufladen können, alles andere wird sich fügen…

Unterwegs zur Durchquerung der Wüste Gobi: Sascha und Ljoscha breiten ihre ausgedruckten Landkarten auf meinem Fußboden aus