Der Sommer in Ulan-Ude: heiß, oft
schwül, gelegentlich weht warmer Wind. Es ist ruhig und leer geworden in den
Gängen meines Institutes. Die Prüfungszeit (séssia)
für die Studenten ist vorbei, Bachelor- und Masterarbeiten sind verteidigt (ein
Prozedere, das mir im Studium erspart blieb), und die zweieinhalbmonatige
Sommerpause hat begonnen. Die Sommerferien der Schüler dauert sogar drei
Monate. Erst am 1. September, dem „Tag des Wissens“, geht das Lernen an Schulen
und Universitäten weiter.
Vor einiger Zeit hatte ich zwei
bemerkenswerte Übernachtungsgäste, Sascha und Ljoscha, die, aus Richtung Altai
kommend, unterwegs in die Mongolei waren. Sie planten eine Durchquerung der
Wüste Gobi zu Fuß, sechshundert Kilometer, ein kleines Wägelchen mit bis zu 15
Litern Wasservorräten hinter sich herziehend. Sascha, ein paar Jahre jünger als
ich, mit strubbeligem Bart und Halbglatze, kennt sein Land in- und auswendig
und musste sich sehr anstrengen, mir die 5 der 86 Regionen Russlands
aufzuzählen, in denen er noch nicht
war. Er schreibt Bücher und Berichte: über das Reisen mit Minimalgepäck und mit
kleinen Kindern – Respekt. Manchmal denke ich, dass ich viel von Russland gesehen habe – aber das ist sehr relativ.
Bis vor Kurzem war ich der
Meinung, alle Deutschen zu kennen, die außer mir in Ulan-Ude dauerhaft leben,
nämlich genau drei: meine mit einem Russen verheiratete Amts-Vorgängerin, außerdem Deutschlehrerin
Sabine an Schule Nummer Eins und ihr Mann Christian, von Beruf
Förster, der mit seinem Jeep durch die burjatischen Wälder fährt, Vögel
bestimmt und Nationalpark-Ranger auch schon mal auf einer illegalen Jagd
begleitet. Nun habe ich tatsächlich noch jemanden aufgespürt: Missionarin Eva,
die seit fünf Jahren in der Stadt in einer evangelischen Kirchengemeinde tätig
ist und davor 16 Jahre lang in der Mongolei wohnte. Eine aufgeräumte,
sprachbegabte Dame, die mongolisch und russisch spricht und mich mit einem
großen Teller liebevoll angerichteter belegter Brote bewirtete – seit Langem
mal wieder ein typisch deutsches Abendbrot. Die Mongolen sind ein viel
offeneres Volk als die Burjaten und Russen, findet sie, und wir spekulierten
darüber, ob das mit den politischen Verfolgungen in der Sowjetunion
zusammenhängt und überhaupt, wie das Verhältnis zwischen Burjaten und Russen in
der Geschichte war: haben die russischen Kosaken im 17. Jahrhundert das Land am
Baikalsee blutig erobert? Oder war es eher ein friedlicher Anschluss?
Die Gelegenheit, im Gespräch mit
einer Missionarin zu sein, nutzte ich für eine Frage, die mich schon länger
bewegt: worin besteht der wesenhafte
Unterschied des Christentums zu anderen Religionen? Interreligiöser Dialog ist
heute in Deutschland modern, das Herausstellen von Gemeinsamkeiten, wir alle
streben nach dem guten Leben, glauben an einen Gott und so weiter. Aber abgesehen
von den vielen sich unterscheidenden Begriffen und Geschichten – was im Kern lehrt das Christentum, was
andere nicht haben? Nicht töten und dem Nächsten helfen wollen wohl fast alle,
aber gibt es christliche Werte, die
sich nicht aus anderen religiösen
Vorstellungen ableiten lassen? Eva antwortete etwa folgendermaßen: Der
christliche Gott ist in Gestalt von Jesus auf die Erde gekommen, und die
Menschen müssen ihn nur in ihr Herz aufnehmen, damit er wirken kann. In anderen
Religionen ist Gott – sofern es ihn überhaupt als persönlichen Gott gibt – weit
weg und man muss sich anstrengen, Regeln beachten und so fort, um zu ihm zu
gelangen. – Ganz befriedigt mich die Antwort nicht, aber ich werde darüber
nachdenken.
Das Studienjahr ist zu Ende, also
bleibt mehr Zeit für andere Dinge, zum Beispiel für einen Gang ins Büro der
„321. Sibirischen Division“, zu den Machern des Kriegsfilmes, dessen Drehbuch
ich nun endlich fertig vom Russischen ins Deutsche übersetzt habe: grausames
Schlachtgetümmel bei Stalingrad, irgendwo zwischendrin eine bescheidene
Handlung. Vier coole, junge Schauspieler, frisch eingeflogen aus Berlin und als
Wehrmachtsoffiziere vorgesehen, begrüßten mich per Handschlag. „Und, was für
eine Rolle spielst du?“ Erstmal keine, meinte ich, ich dolmetsche jetzt eine
Runde für euch… Es gab in der Tat einiges zu klären, wofür das rudimentäre
Englisch des Regisseurs nicht ganz ausreichte: die Gage war nicht abgesprochen,
die Dreharbeiten würden mit zwei Wochen Verspätung beginnen, in denen die
Schauspieler nun hier herumsitzen sollten, weshalb sie auf einer
Monatspauschale statt Bezahlung nach Drehtagen beharrten, und so weiter. „Seid
ihr zum ersten Mal in Russland?“ - Kopfnicken als Antwort. - „Na, dann macht
euch noch auf einiges gefasst! Die drei wichtigsten Dinge zum Wohlfühlen in
Russland: Geduld, Spontanität und Improvisationsvermögen!“
Zum ersten Mal in Russland sein
werden auch meine Mutter und Schwester, die mich in der nächsten Wochen
besuchen kommen. Vor einigen Jahren waren sie in Schweden und fanden es dort
ziemlich öde, alles aufgeräumt und höflich, aber irgendwie tot. Schwedische
Langeweile wird es hier nicht geben – Sibirien ist weder aufgeräumt noch
höflich, aber dafür hochlebendig, unberechenbar und warmherzig. Meine Schwester
fragte, ob die Steckdosen auch die gleiche Norm wie in Deutschland haben? Das
sind sie, die Sorgen der heutigen Jugend: Smartphone und Laptop aufladen
können, alles andere wird sich fügen…
Unterwegs zur Durchquerung der Wüste Gobi: Sascha und Ljoscha breiten ihre ausgedruckten Landkarten auf meinem Fußboden aus |