Montag, 30. Mai 2016

Eine Woche



Montag. Heute früh habe ich Beatrice und Daniel zum Bahnhof gebracht, wo sie sich in einen Zug gesetzt haben, der sie in etwa zwei Tagen nach Omsk bringen wird.
Nicht vielen meiner Bekannten gelingt es, mich in Sibirien zu besuchen. Als ich 2010/11 in Chabarowsk lebte, setzte sich Johannes in die Transsibirische Eisenbahn und kam nach fast sieben Tagen bei mir vorbei – besonders spannend ist so eine ewig lange Fahrt nicht, sagte er und nahm auf dem Rückweg das Flugzeug. Hier in Ulan-Ude hat sich noch keiner extra für mich auf den Weg gemacht, aber zweimal besuchten mich Deutsche, die ohnehin durch die Region reisten: die junge Landwirtin Naemi machte eine Abstecher von Irkutsk aus hierher. Und letzte Woche kamen Bea und Daniel aus der Mongolei.
Daniel, ein bärtiger Typ mit strubbeligem Haar, war fast 10 Jahre lang Bauer im Camphill-Dorf Svetlana (eine anthroposophische Sozialeinrichtung) in der Nähe von St. Petersburg, wo ich 2006 und 2007 dreimal als Volontär gearbeitet hatte. Er ist eine interessante Mischung aus Landwirt und Musiker (was man nicht so oft findet), hat eine Chorleiter-Ausbildung gemacht und singt Lieder des Tschechen Jaromir Nohavica zur Gitarre. Seine aus Thüringen stammende Frau Bea hat er in Svetlana kennengelernt. Jetzt reisen die beiden ein Jahr lang durch die Welt und arbeiten wochenweise auf verschiedenen Bauernhöfen – Indien, Japan und die Mongolei haben sie schon hinter sich, nach Russland ist Georgien an der Reihe.

Dienstag. Heute hatte ich meine letzte Unterrichtsstunde vor der Sommerpause. Meine Studentengruppen sind entweder im Praktikum oder schon in der Prüfungszeit (sessia). Offiziell geht der Unibetrieb bis Ende Juni, dann haben die Studenten zwei Monate frei. Für russische Schüler ist schon am 1.6. Schluss, dann starten die Mega-Sommerferien: ganze drei Monate.
Meine heutige Chorprobe fand nur „gerade so“ statt, und mangels guter Sänger klang es ziemlich schief: mit einer Verspätung von einer halben Stunde kamen acht Leute zusammen, wenn es weniger sind, hat es keinen Sinn, als Chor zu singen. Daniel war letzte Woche als Gast in der Probe dabei und hat mir nützliche Tipps gegeben: zum Beispiel wird beim Dirigieren im Vierertakt die „Zwei“ nach innen und nicht nach außen geschlagen. Und bei Wörtern wie „Tomatensalat“ sollte ich darauf achten, dass das –t am Ende alle gemeinsam aussprechen.

Mittwoch. Meine amerikanische Kollegin Carolyn und ich waren von unserer Institutsleiterin Polina zum Essen eingeladen. Die ältere Burjatin wohnt im 117. Mikrorajon (wie hier die Stadtviertel heißen) am Stadtrand, eine Einfamilienhaus-Siedlung umgeben von sandigen, kiefernbewachsenen Hügeln. Vor der Mahlzeit wurden wir gebeten, ihren buddhistischen Schrein zu besichtigen und ein paar Lebensmittel dort abzulegen, also dem Gott zum Opfer bringen. Damit das Opfer am besten wirkt, musste es von einem Mann dargebracht werden, also von mir.
Heute ist das heiße Wasser in meiner Wohnung wieder aufgetaucht, das es einige Tage lang nicht gab. Die Fernwärme-Heizsaison ist schon seit Anfang Mai zuende.

Donnerstag. Abends war ich im Russischen Dramatheater in einem bemerkenswerten Stück, das die politischen Repressionen zur Stalinzeit thematisierte, die GULAG-Lager, die Kolonnen an Strafgefangenen, die in Sibirien Eisenbahn und Industrie aufbauten. Es erinnerte mich an die „Staats-Sicherheiten“ im Potsdamer Hans-Otto-Theater: Schauspieler schlüpfen in die Rolle von Augenzeugen und berichten über ihre gruseligen Erfahrungen in einem totalitären Regime. Beeindruckend, und wieder einmal etwas, das ich in Russland, wo die Zeiten und Epochen scheinbar unverarbeitet nebeneinander her existieren, nicht unbedingt erwartet hätte.

Freitag: Ich weiß jetzt, was Granatwerfer, Mannschaftswagen und Abzug auf Russisch heißt: Nach vielen Stunden Arbeit habe ich heute endlich einen Teil eines Drehbuches vom Russischen ins Deutsche fertig übersetzt: jede Szenen des Films „321. Sibirische Division“, in denen deutsche Schauspieler spielen sollen. Der Film handelt von sibirischen Soldaten in der Schlacht um Stalingrad, soll nächstes Jahr in die Kinos kommen. Das Produktionsteam hat mich um sprachliche Unterstützung gebeten, ich bin sogar zu den Dreharbeiten eingeladen, irgendwo in der burjatischen Steppe, die angeblich an die Region Stalingrad erinnert.

Samstag: Wieder ein spannender Theaterbesuch: Abends war ich mit Niso (deren Namen sich mit scharfem ß spricht) in Prestuplenie i nakazanie, ein Stück nach dem berühmten Roman von Dostojevskij, der früher Schuld und Sühne hieß und jetzt mit Verbrechen und Strafe übersetzt wird. Eine ganz ungewöhnliche Inszenierung: die Zuschauer wurden in kleinen Gruppen durch die Kulissen des Theaters hinter der Bühne geführt und sahen an verschiedenen Orten jeweis 10 Minuten lang kurze Szenen, die Ausschnitte aus dem Roman darstellten. Raskolnikov begeht mit der Axt den Doppelmord an der Pfandleiherin und ihrer Schwester, Svidrigajlov erschießt sich, weil er seine Wunschfrau nicht bekommt, Marmeladov monologisiert besoffen in der Kneipe – als Publikum schauten wir entweder durch Schlitze von außen in den Raum des Geschehens hinein oder saßen im Falle der Kneipe mitten in der Handlung darin. Schauspiel vom Feinsten!

Sonntag: Heute Nachmittag spielte ich Cello, gemeinsam mit Nina Moltshanova am Klavier: in der edlen, großen Wohnung, in der Carolyn zur Untermiete wohnt, fand ein „Musikalischer Salon“ statt, zu dem wir eine Handvoll Bekannter eingeladen hatten. Die Hausherrin Tatjana Stepanovna, eine ältere, aristokratische feine Dame, ist Musikpädagogin, erinnerte das Publikum in einer kleinen Ansprache an die Petersburger Salon-Traditionen des 19. Jahrhunderts und gab zu meiner Überraschung nach jedem unserer Stücke – Schumann, Schubert, Gounod… – eine ausführliche Erläuterung ab. Nina und ich spielten vor allem schwelgende Romantik, am meisten ging mir das Herz bei Brahms Opus-38-Cellosonate auf. 

Daniel und Bea reisen als Landwirte um die Welt
Vor dem Essen mit unserer Institutsdirektorin (oben, rechts) muss am Buddha-Schrein etwas geopfert werden (unten)
Hausmusik in bester Tradition des alten St. Petersburg: Hausherrin Tatjana (links) hält erstmal eine kleine Ansprache