Mittwoch, 15. Juni 2016

Auf Besuch bei den Altgläubigen



Ein schwüler, warmer Tag in Tarbagatái, eine knappe Busstunde südlich von Ulan-Udé. In strahlendem Weiß leuchtet die Dorfkirche mit dem typischen orthodoxen 8-endigen Kreuz auf dem schwarzen Zwiebelturm. Dahinter großzügige Wohnhäuser aus Holz, aus dicken Rundbalken erbaut und in leuchtenden, fast grellen Farben gestrichen. In langem, schwarzem Gewand steht Vater Sergej vor einer Touristengruppe – Ausländer und Russen – und erzählt über seine Religion. Er hat einen klugen, scharfen Blick, lange, graue, im Nacken zusammengebundene Haare und einen riesigen, wallenden, weißgrauen Bart. Sein Gesetz verbietet ihm das Haareschneiden und Rasieren. Sergej ist ein Priester der Altgläubigen, eine russische Glaubensgemeinschaft, die sich vor fast 350 Jahren einer Reform der russisch-orthodoxen Kirche verweigert hat, deren Anhänger erst an die westlichen und südlichen Grenzen des Zarenreiches geflohen sind und später von Ekaterina II. nach Sibirien geschickt wurden, um die neu eroberten Gebiete zu besiedeln und dort die russische Vorherrschaft zu festigen.
Vater Sergej erklärt gern und routiniert, er ist an Touristengruppen gewöhnt. In der Kirche müssen die Frauen ein Tuch als Rock umbinden und eine Kopfbedeckung aufsetzen. „Sehen Sie sich bitte genau die Ikonen an“, sagt der Priester. „Nicht wie in der orthodoxen Hauptkirche auf Papier gemalt und dann aufgeklebt, sondern nur direkt auf Metall oder auf Holz. Keine Restaurierungen. Bei uns gibt es nur alte Originale oder ganz neue.“ Er zeigt das Tüchlein, das die Gläubigen sich unter die Stirn auf den Boden werfen, wenn sie sich tief verneigen und dabei mit dem Kopf den Boden berühren. Wie viele Leute kommen denn so zum Gottesdienst, will jemand wissen. „Nun, so fünfunddreißig. Nicht allzu viel bei 5000 Einwohnern hier im Ort.“ Und wie alt ist die Kirche? „15 Jahre. Zu Sowjetzeiten gab es überhaupt keine einzige.“ Sergej zeigt, wie man sich bekreuzigt, mit zwei ausgestreckten Fingern, für die menschliche und göttliche Natur Christi. Daume, kleiner und Ringfinger werden zusammengelegt: Vater, Sohn und Heiliger Geist. „Und Jesus wird bei uns mit einem i geschrieben, nicht mit zweien, Isus statt Iisus, haben Sie das bemerkt? Nur wir haben die Traditionen so bewahrt, wie sie seit 988 üblich waren, als die Kiewer Rus das Christentum angenommen hat.“
Gegenüber der Kirche ist ein Museum, wo den Touristen allerlei Gegenstände aus Landwirtschaft und Haushalt gezeigt werden, zum Beispiel klappbare Ikonenwände zum Beten für unterwegs. Die Altgläubigen in Burjatien heißen Semejskije, vom russischen Wort für Familie – semjá. Als sie mit ihren großen Familien im Jahre 1765 hier eintrafen, lebten die Burjaten noch nomadisch in Jurten. Die Semejskie galten als arbeitsam und fleißig, ihre farbenfrohen, großen Häuser waren die ersten festen Bauten hier. Mit den Burjaten verband sie eines: Alkohol war nicht üblich – im Unterschied zu den trinkfreudigen Kosaken.
Nach dem Museum ist Essen und Tanzvorführung angesagt, ein junger Mann und eine junge Frau aus der Touristengruppe werden in traditionelle Gewänder gekleidet und als Braut und Bräutigam kurzerhand getraut, für eine halbe Stunde zumindest. Frauen wurden im Alter von 15 verheiratet, das Brautpaar sah sich am Hochzeitstag zum ersten Mal, die Betten waren recht schmal, damit es viele Kinder gab, 10 und mehr waren keine Seltenheit. Oft mussten die Männer 25 Jahre lang in der zaristischen Armee dienen und kamen nur für einen Monat im Jahr nach Hause. Ein Folklore-Ensemble singt mit schrillen Stimmen kunstvoll-polyphone Lieder. Die Kultur und das Brauchtum der Semeiskije sind von der UNESCO in die Reihe des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen worden.

Tarbagatai liegt in der Steppe, das Auge blickt kilometerweit in die Ferne, die breiten Täler werden von malerischen, teils felsigen, teils waldbedeckten Hügeln eingerahmt. Eine halbe Austostunde weiter südlich liegt das nächste Ziel für Tagestouristen aus der Hauptstadt: eine Felsformation namens Merkitskaja krepost, zu Deutsch: Merkiten-Festung. Von einer Festung ist eigentlich nichts zu sehen, dafür gibt es kleine Aprikosenbäume und zu jeder zweiten Biegung des sich heraufwindenden Trampelpfades eine Geschichte, zum Beispiel die, dass Dschingis Chan hier einst eine Befestigungsanlage schleifte und das Volk der Merkiten besiegte, das seine Tochter entführt hatte.

Der Altgläubigen-Priester Vater Sergej vor seiner Kirche mit einem deutschen Besucher (oben), historische Trinkgefäße zeigend (unten)
Prächtige Fassaden der Häuser mit kunstvollen Schnitzereien (oben), prächtige Kleider am Hochzeitstag (unten)
Der Bräutigam sitzt unterwürfig da und zeigt so seine Gehorsamkeit den künftigen Schwiegereltern gegenüber (oben), bevor er mit der Braut tanzt (unten)
Blick vom Merkitskaja krepost' in die Steppe