Ein schwüler, warmer Tag in
Tarbagatái, eine knappe Busstunde südlich von Ulan-Udé. In strahlendem Weiß
leuchtet die Dorfkirche mit dem typischen orthodoxen 8-endigen Kreuz auf dem
schwarzen Zwiebelturm. Dahinter großzügige Wohnhäuser aus Holz, aus dicken
Rundbalken erbaut und in leuchtenden, fast grellen Farben gestrichen. In
langem, schwarzem Gewand steht Vater Sergej vor einer Touristengruppe –
Ausländer und Russen – und erzählt über seine Religion. Er hat einen klugen,
scharfen Blick, lange, graue, im Nacken zusammengebundene Haare und einen
riesigen, wallenden, weißgrauen Bart. Sein Gesetz verbietet ihm das
Haareschneiden und Rasieren. Sergej ist ein Priester der Altgläubigen, eine
russische Glaubensgemeinschaft, die sich vor fast 350 Jahren einer Reform der
russisch-orthodoxen Kirche verweigert hat, deren Anhänger erst an die
westlichen und südlichen Grenzen des Zarenreiches geflohen sind und später von
Ekaterina II. nach Sibirien geschickt wurden, um die neu eroberten Gebiete zu
besiedeln und dort die russische Vorherrschaft zu festigen.
Vater Sergej erklärt gern und
routiniert, er ist an Touristengruppen gewöhnt. In der Kirche müssen die Frauen
ein Tuch als Rock umbinden und eine Kopfbedeckung aufsetzen. „Sehen Sie sich
bitte genau die Ikonen an“, sagt der Priester. „Nicht wie in der orthodoxen
Hauptkirche auf Papier gemalt und dann aufgeklebt, sondern nur direkt auf
Metall oder auf Holz. Keine Restaurierungen. Bei uns gibt es nur alte Originale
oder ganz neue.“ Er zeigt das Tüchlein, das die Gläubigen sich unter die Stirn
auf den Boden werfen, wenn sie sich tief verneigen und dabei mit dem Kopf den
Boden berühren. Wie viele Leute kommen denn so zum Gottesdienst, will jemand
wissen. „Nun, so fünfunddreißig. Nicht allzu viel bei 5000 Einwohnern hier im
Ort.“ Und wie alt ist die Kirche? „15 Jahre. Zu Sowjetzeiten gab es überhaupt
keine einzige.“ Sergej zeigt, wie man sich bekreuzigt, mit zwei ausgestreckten
Fingern, für die menschliche und göttliche Natur Christi. Daume, kleiner und
Ringfinger werden zusammengelegt: Vater, Sohn und Heiliger Geist. „Und Jesus wird
bei uns mit einem i geschrieben, nicht mit zweien, Isus statt Iisus, haben
Sie das bemerkt? Nur wir haben die Traditionen so bewahrt, wie sie seit 988
üblich waren, als die Kiewer Rus das Christentum angenommen hat.“
Gegenüber der Kirche ist ein
Museum, wo den Touristen allerlei Gegenstände aus Landwirtschaft und Haushalt
gezeigt werden, zum Beispiel klappbare Ikonenwände zum Beten für unterwegs. Die
Altgläubigen in Burjatien heißen Semejskije,
vom russischen Wort für Familie – semjá.
Als sie mit ihren großen Familien im Jahre 1765 hier eintrafen, lebten die
Burjaten noch nomadisch in Jurten. Die Semejskie galten als arbeitsam und
fleißig, ihre farbenfrohen, großen Häuser waren die ersten festen Bauten hier.
Mit den Burjaten verband sie eines: Alkohol war nicht üblich – im Unterschied
zu den trinkfreudigen Kosaken.
Nach dem Museum ist Essen und
Tanzvorführung angesagt, ein junger Mann und eine junge Frau aus der
Touristengruppe werden in traditionelle Gewänder gekleidet und als Braut und Bräutigam
kurzerhand getraut, für eine halbe Stunde zumindest. Frauen wurden im Alter von
15 verheiratet, das Brautpaar sah sich am Hochzeitstag zum ersten Mal, die
Betten waren recht schmal, damit es viele Kinder gab, 10 und mehr waren keine
Seltenheit. Oft mussten die Männer 25 Jahre lang in der zaristischen Armee
dienen und kamen nur für einen Monat im Jahr nach Hause. Ein Folklore-Ensemble
singt mit schrillen Stimmen kunstvoll-polyphone Lieder. Die Kultur und das
Brauchtum der Semeiskije sind von der UNESCO in die Reihe des Immateriellen
Kulturerbes der Menschheit aufgenommen worden.
Tarbagatai liegt in der Steppe,
das Auge blickt kilometerweit in die Ferne, die breiten Täler werden von
malerischen, teils felsigen, teils waldbedeckten Hügeln eingerahmt. Eine halbe
Austostunde weiter südlich liegt das nächste Ziel für Tagestouristen aus der
Hauptstadt: eine Felsformation namens Merkitskaja
krepost, zu Deutsch: Merkiten-Festung. Von einer Festung ist eigentlich
nichts zu sehen, dafür gibt es kleine Aprikosenbäume und zu jeder zweiten
Biegung des sich heraufwindenden Trampelpfades eine Geschichte, zum Beispiel
die, dass Dschingis Chan hier einst eine Befestigungsanlage schleifte und das
Volk der Merkiten besiegte, das seine Tochter entführt hatte.
Der Altgläubigen-Priester Vater Sergej vor seiner Kirche mit einem deutschen Besucher (oben), historische Trinkgefäße zeigend (unten) |
Prächtige Fassaden der Häuser mit kunstvollen Schnitzereien (oben), prächtige Kleider am Hochzeitstag (unten) |
Der Bräutigam sitzt unterwürfig da und zeigt so seine Gehorsamkeit den künftigen Schwiegereltern gegenüber (oben), bevor er mit der Braut tanzt (unten) |
Blick vom Merkitskaja krepost' in die Steppe |