Donnerstag, 9. Juni 2016

Tomsk



Ein Anruf aus dem „321. Sibirische Division“ – Produktionsbüro: Vielen Dank für die Übersetzung der Drehbuch-Szenen für die deutschen Schauspieler, ob ich nicht den Rest auch noch ins Deutsche übertragen könne? Und noch ein Anliegen: ob ich nicht bereit wäre, zu den Dreharbeiten zu kommen? Der Regisseur Solbon möchte, dass ich mitspiele, er sähe mich in der Rolle eines Wehrmachts-Sanitäters. Ich versprach, in meinen Kalender zu schauen und mich dann zurückzumelden. 

In Irkutsk bin ich zufällig in die Feier anlässlich des 355. Jahrestags der Stadtgründung geraten. In Russland ist es üblich, den Geburtstag der Stadt jedes Jahr zu feiern. Wenn das Datum dann auch noch ein einigermaßen rundes ist, kennt die Feierlust manchmal keine Grenzen. Party, als steht morgen der Weltuntergang bevor, grell, bunt und laut, ein kilometerlanger karnevalsartiger Umzug, in dem sich alle Gruppen und Vereine der Stadt präsentierten von der Feuerwehr bis zur Englischschule, groteske feuerspuckende Jongleure, halbnackte motorsägenschwingende Frauen, sich mit kreischender Stimme überschlagende Moderatoren, durch das ganze Zentrum röhrende Bässe aus gigantischen Lautsprechern, eine unglaubliche Show an allem, was Russland an Extrem und Wahnsinn zu bieten hat. Da die Stadtverwaltung für den Tag der Feier den Alkoholverkauf in allen Geschäften verbot, ging es tatsächlich auch friedlich zu. Auf einer Open-Air-Bühne unweit der schlanken katholischen Ziegelkirche, die die östlichste Orgel Russlands beherbergt, spielte Pianist Denis Matsujev zusammen mit dem Irkutsker Philharmonischen Orchester ein Tschaikowski-Klavierkonzert.  
Irkutsk ist die nächste Großstadt westlich von Ulan-Ude, etwa 500 Kilometer entfernt, deutlich großstädtischer als die burjatische Hauptstadt, mit vielen beeindruckenden Steinbauten der vorletzten Jahrhundertwende, als sie das „Paris Sibiriens“ genannt wurde. Die Stadt liegt an der Angara, der einzige aus dem Baikalsee herausfließende Fluss, und ist neben Wladiwostok wohl das touristischste Zentrum in Sibirien und Russisch-Fernost, wer den Baikal besucht, kommt normalerweise mit Transsib oder Flugzeug oder Transsib hier an. Mit meinem Fahrer von Tanchoi nach Irkutsk hatte sich ein interessantes Gespräch ergeben: Ende der 90er Jahre arbeitete er als Zugbegleiter. „Das waren noch ganz andere Zeiten, die Arbeit war viel menschlicher“, erfuhr ich, „wir haben mit Bier gehandelt, Leute ohne Fahrkarte zusteigen lassen und uns das Geld selbst in die Tasche gesteckt und gebrauchte Bettwäsche nochmal verkauft – damals war sie noch nicht in Folie eingeschweißt.“ Als die Kontrollen strenger wurden und die Arbeit für ihn damit uninteressant, habe er sich einen anderen Job gesucht.

Jetzt bin ich längst in Tomsk, eine Zeitzone und tausenddreihundert Kilometer weiter nordwestlich. Tomsk war eine der bedeutendsten sibirischen Städte, die älteste sibirische Uni ist hier, wenn Irkutsk Paris ist, dann Tomsk Athen, das „Athen Sibiriens“, womit auf die Rolle der Stadt für Bildung und Wissenschaft angespielt wird. Nur leider wurde vor etwas über 100 Jahren die transsibirische Eisenbahn knapp an Tomsk vorbei gebaut, 250 Kilometer weiter südlich – womit das dort am Fluss Ob gelegene Novosibirsk zur Millionenstadt aufstieg und das jetzt weniger als halb so große Tomsk schnell in den Schatten stellte.
Auf der Jubiläumsveranstaltung anlässlich des 20. Jahrestags der Zusammenarbeit meiner Organisation mit der Pädagogischen Universität hielt ich ein Seminar für Deutsch-Lehrkräfte verschiedener Schulen und erzählte etwas über Methodik im Fremdsprachenunterricht und Sprachwandel im Deutschen. „Ich fühle mich, als hätte ich eine lange Reise gemacht, so viele neue Eindrücke“, meinte eine Lehrerin hinterher zu mir. „Darf man wirklich sagen gegenüber dem Haus und wegen dem schlechten Wetter?“, fragte mich eine ältere Dame. „Ich bläue meinen Schülern immer ein: dem Haus gegenüber, mit nachgestellter Präposition, und wegen des schlechten Wetters, mit Genitiv. Und er melkte? Muss es nicht heißen er molk?“ Ja, das kommt davon, wenn man 40 Jahre alte Lehrwerke verwendet, ich wartete geradezu darauf, dass sie auch noch frug statt fragte vorschlug, wie es Thomas Mann in seinen Büchern verwendet. Zeit für ein Update, um es in unschönem Denglisch zu sagen, oder besser: es wird Zeit, dass der deutsche Sprachwandel auch in die etwas abgelegeneren Ecken Sibiriens dringt.

Martialisch: Sieges-Denkmal in Tomsk

Malerisch: Blick über das südliche Ende des Baikalsees