Ein Anruf aus dem „321.
Sibirische Division“ – Produktionsbüro: Vielen Dank für die Übersetzung der
Drehbuch-Szenen für die deutschen Schauspieler, ob ich nicht den Rest auch noch
ins Deutsche übertragen könne? Und noch ein Anliegen: ob ich nicht bereit wäre,
zu den Dreharbeiten zu kommen? Der Regisseur Solbon möchte, dass ich mitspiele,
er sähe mich in der Rolle eines Wehrmachts-Sanitäters. Ich versprach, in meinen
Kalender zu schauen und mich dann zurückzumelden.
In Irkutsk bin ich zufällig in
die Feier anlässlich des 355. Jahrestags der Stadtgründung geraten. In Russland
ist es üblich, den Geburtstag der Stadt jedes Jahr zu feiern. Wenn das Datum
dann auch noch ein einigermaßen rundes ist, kennt die Feierlust manchmal keine
Grenzen. Party, als steht morgen der Weltuntergang bevor, grell, bunt und laut,
ein kilometerlanger karnevalsartiger Umzug, in dem sich alle Gruppen und
Vereine der Stadt präsentierten von der Feuerwehr bis zur Englischschule, groteske
feuerspuckende Jongleure, halbnackte motorsägenschwingende Frauen, sich mit kreischender
Stimme überschlagende Moderatoren, durch das ganze Zentrum röhrende Bässe aus
gigantischen Lautsprechern, eine unglaubliche Show an allem, was Russland an
Extrem und Wahnsinn zu bieten hat. Da die Stadtverwaltung für den Tag der Feier
den Alkoholverkauf in allen Geschäften verbot, ging es tatsächlich auch
friedlich zu. Auf einer Open-Air-Bühne unweit der schlanken katholischen
Ziegelkirche, die die östlichste Orgel Russlands beherbergt, spielte Pianist
Denis Matsujev zusammen mit dem Irkutsker Philharmonischen Orchester ein
Tschaikowski-Klavierkonzert.
Irkutsk ist die nächste Großstadt
westlich von Ulan-Ude, etwa 500 Kilometer entfernt, deutlich
großstädtischer als die burjatische Hauptstadt, mit vielen beeindruckenden
Steinbauten der vorletzten Jahrhundertwende, als sie das „Paris Sibiriens“
genannt wurde. Die Stadt liegt an der Angara, der einzige aus dem Baikalsee
herausfließende Fluss, und ist neben Wladiwostok wohl das touristischste
Zentrum in Sibirien und Russisch-Fernost, wer den Baikal besucht, kommt
normalerweise mit Transsib oder Flugzeug oder Transsib hier an. Mit meinem
Fahrer von Tanchoi nach Irkutsk hatte sich ein interessantes Gespräch ergeben:
Ende der 90er Jahre arbeitete er als Zugbegleiter. „Das waren noch ganz andere
Zeiten, die Arbeit war viel menschlicher“, erfuhr ich, „wir haben mit Bier
gehandelt, Leute ohne Fahrkarte zusteigen lassen und uns das Geld selbst in die
Tasche gesteckt und gebrauchte Bettwäsche nochmal verkauft – damals war sie
noch nicht in Folie eingeschweißt.“ Als die Kontrollen strenger wurden und die
Arbeit für ihn damit uninteressant, habe er sich einen anderen Job gesucht.
Jetzt bin ich längst in Tomsk,
eine Zeitzone und tausenddreihundert Kilometer weiter nordwestlich. Tomsk war eine der
bedeutendsten sibirischen Städte, die älteste sibirische Uni ist hier, wenn
Irkutsk Paris ist, dann Tomsk Athen, das „Athen Sibiriens“, womit auf die Rolle
der Stadt für Bildung und Wissenschaft angespielt wird. Nur leider wurde vor
etwas über 100 Jahren die transsibirische Eisenbahn knapp an Tomsk vorbei
gebaut, 250 Kilometer weiter südlich – womit das dort am Fluss Ob gelegene
Novosibirsk zur Millionenstadt aufstieg und das jetzt weniger als halb so große
Tomsk schnell in den Schatten stellte.
Auf der Jubiläumsveranstaltung
anlässlich des 20. Jahrestags der Zusammenarbeit meiner Organisation mit der
Pädagogischen Universität hielt ich ein Seminar für Deutsch-Lehrkräfte
verschiedener Schulen und erzählte etwas über Methodik im
Fremdsprachenunterricht und Sprachwandel im Deutschen. „Ich fühle mich, als
hätte ich eine lange Reise gemacht, so viele neue Eindrücke“, meinte eine Lehrerin
hinterher zu mir. „Darf man wirklich sagen gegenüber
dem Haus und wegen dem schlechten Wetter?“, fragte mich eine
ältere Dame. „Ich bläue meinen Schülern immer ein: dem Haus gegenüber, mit nachgestellter Präposition, und wegen des schlechten Wetters, mit
Genitiv. Und er melkte? Muss es nicht
heißen er molk?“ Ja, das kommt davon,
wenn man 40 Jahre alte Lehrwerke verwendet, ich wartete geradezu darauf, dass
sie auch noch frug statt fragte vorschlug, wie es Thomas Mann in
seinen Büchern verwendet. Zeit für ein Update,
um es in unschönem Denglisch zu sagen, oder besser: es wird Zeit, dass der
deutsche Sprachwandel auch in die etwas abgelegeneren Ecken Sibiriens dringt.
Martialisch: Sieges-Denkmal in Tomsk |
Malerisch: Blick über das südliche Ende des Baikalsees |